Frisch von der Alm: Gerald Hüthers neurobiologische Visionen

Die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung – die Laus im akademischen Pelz der Exzellenz-Universität Göttingen

Gerald Hüther ist spätestens seit seiner spektakulären Medieninszenierung “Alm statt Ritalin” in aller Munde.
Das Projekt war zwar ein totaler Flop, und der entsprechende STERN-Artikel wurde nicht zuletzt in einer Stellungnahme des Zentralen ADHS-Netzes als irreführend, falsch informierend und unseriös und von mehreren Betroffenen-Verbänden differenziert kritisiert.
Den abseits jeder Ethik-Kommission “beforschten” und zur Schau gestellten Jugendlichen wird wohl zeitlebens das Stigma des nicht beschulbaren und sozial gestörten Geißen-Peter anhaften, aber als PR-Gag für “Deutschlands meist zitierten Hirnforscher” erwies sich diese Aktion als außerordentlich erfolgreich.

Seitdem kommt man an ihm einfach nicht mehr vorbei, dem Ehemals- Neurobiologen ohne jede ärztliche oder psychotherapeutische Qualifikation!

Ob es sich nun um Singende Krankenhäuser, Feldenkrais, Erlebnispädagogik, Zaubertricks, Systemische oder Trauma-Therapie, einen Kongress der Sportwissenschaftler, Neurodidaktik, Neue Schulen, Schulleiterkongresse unter bundespräsidialer Schirmherrschaft, den Hauptstadtkongress der Gesundheitswirtschaft, ein Editorial des Deutschen Ärzteblatts, wissenschaftliche Beratertätigkeit für ein der Energy Medicine verpflichtetes Institut gar eine Podiumsdiskussion mit dem Dalai Lama handelt:

Gerald Hüther verleiht so gut wie allen Themen die neurobiologisch-schöngeistige Aura, die der esoterikfreundliche, nach allen Seiten offene neue deutsche Bildungsbürger so liebt. Wo so viel “Hirnforschung” drin ist, das muss doch Hand und Fuß und vor allem tiefen Sinn haben!
Was macht es bei so viel tiefschürfender Reflektion schon aus, wenn auch ab und zu mal was richtig daneben geht:
wenn unser eloquenter Hirnforscher etwa das motorische Broca-Areal mit dem sinn- und bedeutungsstiftenden Wernicke-Zentrum verwechselt und damit eine 11-seitige Abhandlung über Geist, Gesinnung und Haltung , die u.a. in der Materialsammlung des Deutschlehrerzentrums der Universität Göttingen zu finden ist, schon in der Einleitung neuroanatomisch-topographisch in den Sand setzt?

Sogar einen Online-Computertest zum Erfassen von “wissensunabhängigen Metakompetenzen”, welche im präfrontalen Kortex fest “verankert” sind, hat der kreative Professor gemeinsam mit seinem nicht minder gewandten Geschäftspartner Klaus-Dieter Dohne entwickelt. Der WUK -Test eignet sich angeblich für Schüler, aber auch als hochwertiges und vor allem Zeit sparendes Personalentwicklungs-Tool.
Jeder einfältige Wirtschaftspsychologe muss ob solchen Einfallsreichtums erblassen!

Gerald Hüther ist nach wie vor wissenschaftlicher Mitarbeiter der Psychiatrischen Klinik der UMG – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die experimentelle Grundlagenforschung wird in dieser Abteilung seit mehreren Jahren von anderen geleistet.
Eine nennenswerte aktuelle universitäre Forschungstätigkeit von Prof. Hüther ist nirgendwo ersichtlich. Seine Publikationsliste reicht über das Jahr 2008 nicht hinaus und beinhaltet auch dort eher fachfremde und populärwissenschaftliche Themen.

Nach und nach spricht es sich – allen Medienoffensiven und seinem Webmaster Peter Schipek zum Trotz – tatsächlich herum, dass Gerald Hüther seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr aktiv in der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung der Universität Göttingen tätig ist.
Sogar er selbst gibt mittlerweile zu, dass er stattdessen “von einer Meta-Ebene aus auf seine vorhandenen Erkenntnisse rekurriert“ und bezeichnet dieses Rekurrieren als “Applied Neurosciences“.

Seitdem Hüther vor einigen Jahren – unautorisiert von seiner Arbeitsgruppe – seine abwegigen Hypothesen auf einer schummrigen Internet-Plattform in Umlauf brachte, und seitdem er die DFG, mit deren Heisenberg-Stipendium er sich noch immer gerne ziert, öffentlich der Komplizenschaft mit der Pharmaindustrie bezichtigt, ist er akademisch in Ungnade gefallen. Man ignoriert ihn einfach.
Das stellt sich nun als schwerer taktischer Fehler heraus, denn Hüther ist es gelungen, die pseudowissenschaftliche Diskussion stattdessen in die Medien zu verlagern. Dort ist er längst Everybody`s Darling, und deshalb glaubt man ihm, statt seine schöngeistig-vagen Ergüsse einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Genau betrachtet gibt es nämlich nichts, was der innovative Psychotherapieforscher Klaus Grawe in seinem epochalen Werk Neuropsychotherapie nicht längst vor Hüther wesentlich fundierter und präziser formuliert und u.a. mittels akribischer Literaturrecherche untermauert hätte.
Im übrigen widerlegt Grawe in seiner kritischen Würdigung des Stress-Modells von Hüther diesen gerade in Bezug auf die Auswirkungen von chronischem Stress/chronischer Inkongruenz.
Aber leider ist Grawe seit 2005 tot und kann sich nicht wehren, und Hüther konfabuliert seine “Thesen” außerhalb jedes Ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskurses; daher kann man ihn vermutlich nicht mal des wissentlichen Grawe-Plagiats bezichtigen.

Hüthers weithin unbemerkter Rückzug aus der Grundlagenforschung ist katastrophal für alle, die sich ausgerechnet auf die vermeintliche Expertise des großen Hirnforschers gestützt haben, um ihre eigene Unwissenschaftlichkeit mit dem akademischen Talar solider evidenzbasierter Forschungstätigkeit zu bemänteln.
Dazu gehören u.a. manche Psychoanalytiker, Psychologische Psychotherapeuten von der ADHS-Leugner-Fraktion, der eine oder andere Systemische Familientherapeut, einige Dozenten an pädagogischen und heilpädagogisch-anthroposophischen Einrichtungen, alternativmedizinisch tätige Heiler und Coaches jeder esoterischen Couleur und nicht zuletzt Scientologen.
Um diesem Mangel Abhilfe zu schaffen, wurde dem – in Folge einer Umstrukturierung der Psychiatrischen Klinik der UMG seines Wirkungsfeldes verlustig gegangenen – Hirnforscher Hüther von einer höheren Macht ein neuer verantwortungsvoller und zukunftsweisender Forschungsschwerpunkt zuge(dichtet)schrieben:

Die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung !

Jahrelang vor den argwöhnisch forschenden Blicken der Esowatch-Eule verborgen
– gleichsam ein Phantom – hat sie sich nun doch seit etwa Juni 2011 auf wundersame Weise auf Hüthers Uni-Homepage materialisiert und ist somit hoffentlich endlich selbst einer empirisch-wissenschaftlichen Evaluation zugänglich!
Damit nicht genug:
Ebenfalls an der Universität Göttingen angesiedelt, ist das
Interdisziplinäres Zentrum für Nachhaltige Entwicklung, IZNE. Hüther sitzt dort im Vorstand, und es ist zu befürchten, dass große finanzielle Ressourcen, die über seine Sinn-Stiftung und ähnlich gelagerte Aktivitäten akquiriert werden, in dieses Institut fließen, um Hüther stabil im universitären Umfeld zu platzieren. Damit entstünde eine Situation, wie sie der Biologe Martin Mahner kürzlich in einem dradio-wissen-Interview beschrieb:

….Aber wie kommen solche Einrichtungen überhaupt in die Hochschulen hinein? Mit ausreichendem Budget keine Kunst, erklärt Mahner:
Wenn Sie ganz viel Geld haben, können Sie an Universitäten herantreten – die ja heute chronisch unterfinanziert sind – und sagen: “Ich gebe euch ein paar Millionen Euro und spendier’ euch einen Professor.” Gefährlich. Weil durch den universitären Rahmen in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, Homöopathie und Ähnliches (im Fall Hüther: Neuro-Mythologie) seien anerkannte Verfahren (Sind sie nicht. Zur Erinnerung: hier). Viele Wissenschaftler sehen tatenlos zu – über ihre Gründe lässt sich nur spekulieren.

Mahners Vorwurf richtet sich denn auch nicht allein an die Universitätsverwaltungen:

Wir würden uns selbstverständlich auch viel mehr Widerstand von wissenschaftlicher Seite gegen solche Praktiken wünschen. Mit ihrem Schweigen schießen sich die Wissenschaftler-Kollegen nur selbst ins Knie, ist der promovierte Biologe Mahner überzeugt: Durch dubiose Institut gehe das Vertrauen in die richtigen Instutitionen verloren: Beschädigt wird letztlich die Wissenschaft selber.

Es bleibt abzuwarten, ob und wie lange sich die Universität Göttingen von ihrem renommierten und meist zitierten Mitarbeiter öffentlich an der Nase herum führen lässt!

10 Gedanken zu „Frisch von der Alm: Gerald Hüthers neurobiologische Visionen“

  1. Ich habs geahnt: Engel spielen nicht nur Harfe.. ;-

    Der Link zu Grawe und „Neuropsychotherapie“ ist versehentlich doppelt geraten.
    Hab mich mal auf die Suche gemacht und zu Grawe contra Hüther Folgendes gefunden:

    http://books.google.de/books?id=khBxVHZf6HIC&pg=PA225&dq=Grawe+neuropsychotherapy+Huethers+argument&hl=de&ei=VUC6TrjgJ4XPhAff34TBBw&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CC0Q6AEwAA#v=onepage&q&f=false

    Sollte das Martin-Mahner-Zitat am Ende nicht der Ordnung halber als solches gekennzeichnet werden?
    Der hat jedenfalls Hüther und „Neuromythologie“ im Original nicht erwähnt.

    Ansonsten: Jede Gesellschaft hält sich offenbar ihre eigene Sorte Hofnarr…

  2. Jetz is scho wieder was passiert:

    der Link zum IZNE geht nicht mehr.
    Bei mir kommt nur:

    „Server not available“

    Habt ihr mehr Glück?

  3. Pingback: “Nimm Abschied, mein Hirn”: Wieder Eso an der Uni at gwup | die skeptiker
  4. Ist wieder online, das IZNE…

    Falls dieses phänomenale Portal aus Gründen schlechter Vibrationen wieder mal nicht erreichbar sein sollte, erlaube ich mir , den Inhalt des Link zu zitieren:

    >>Dialog und gesellschaftliche Transformation

    Eine nachhaltigkeitsorientierte demokratische Transformation, also Veränderung der Gesellschaft ist wegen aktuell bedrohlicher Entwicklungen (z.B. wachsende soziale Ungleichheit, Klimawandel, Artenschwund und Verknappung endlicher Rohstoffe) zu einer der Funktionsvoraussetzungen menschlichen Lebens und menschlichen Glücks geworden. Dazu nötig ist eine Neu-Erfindung der Lebenskulturen und gesellschaftlichen Strukturen z. B. bezüglich des Industriesystems, der Ernährung, der Konsum-, Mobilitäts-, Wohn- und Arbeitsgewohnheiten, Landwirtschaft, Energieversorgung, des Bildungswesens usw. Ankerpunkte sind dabei die Qualitäten der Beziehungen der Menschen zueinander und zu ihrer Mitwelt, den Tieren, Pflanzen und Naturräumen.

    Diese gigantischen Transformationsaufgaben erfordern eine breite Aktivierung vieler schöpferischer Individuen und Kollektive. In allen gesellschaftlichen Feldern sollte dazu ein “Großer Ratschlag” organisiert werden. Die Basis eines eines solchen Problembearbeitungsprozesses ist ein nachhaltigkeitsorientierter Dialog.

    “Dialog” wird hier verstanden als Aufklärung, Sinnreflexion, präzise Argumente, empirisches Wissen und das Umgehen mit Nichtwissen. Es geht substanziell um den “Dia-Log”: um erweiterte Horizonte des Bewusstseins, um das durch die Probleme und Themen “Durchscheinende” vor dem Hintergrund der Annahme ganzheitlicher Allverbundenheit aller Phänomene

    Unter Einbeziehung aller Sinne geht es um das Sich-Hineinversetzen in die Dinge und das empathische Einfühlen der Dialogteilnehmer untereinander in Verbindung mit kritischer Rationalität und analytischer Kompetenz. Man kann das zusammenfassen als “empathische Reflexion” und “ganzheitliche diskursive Kommunikation”. Der Dialog ist dabei eine bestimmte Form gemeinschaftlichen In-Beziehung-Seins. Mit ihm ist das Sich-Zuhören, Aufeinander-Achten und eine emotional-intuitive Verbundenheit der Beteiligten gemeint.

    In diesem Dialog können sich Beziehungsqualitäten entfalten, die zugleich Grundqualitäten nachhaltiger Lebenskulturen sind. Ihre Kerne sind Einsicht, Mitgefühl, Liebe, Vernunft und reflexives kritisches Fragen. Im Rahmen dieses Arbeitsfeldes des IZNE sollen Theorie und Praxis vorhandener gesellschaftlicher Dialoge wissenschaftlich untersucht und eigene neue Konzepte initiiert und erprobt werden. Dabei geht es u.a. um die Fragen, ob und inwieweit Dialogmodelle als Elemente organisierter Planungsprozesse sowie in “spontanen” Situationen die erwarteten Effekte haben: motivierende Inspiration, kreative Ideenfindung, besseres Umgehenkönnen mit Komplexität, Unsicherheit und Paradoxien.

    Besonders wichtig ist das praktische und Forschungsinteresse in diaphanen Planungsprozessen daran, ob es gelingt, fachliche Spezialfragen immer wieder auf eine übergreifende Metaebene und weitere Wahrnehmungshorizonte zu beziehen (Förderung der “Sinnsibilität”).

    In diesem Zusammenhang geht es auch um die Frage der Angemessenheit der “Dialogmethodik” (soziale Arrangements, Rollengestaltungen, Kommunikationsregeln, Planungsmoderation). >>

    Ahja…

  5. Pingback: Psiram » Das Goldene Brett 2012

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