Fazıl Say vor Gericht

Der türkischstämmige Starpianist Fazıl Say musste sich heute in Istanbul vor Gericht verantworten. Ihm wurde das Verbreiten von Meldungen wie dieser: „Ich weiß nicht, ob ihr es gemerkt habt? Überall, wo es Schwätzer, Gemeine, Sensationsgierige, Diebe, Scharlatane gibt, sie alle sind übertrieben gläubig. Ist das ein Paradoxon?“ per Twitter zur Last gelegt.

Der Prozess wurde nach einer Stunde bis zum 18. Februar 2013 vertagt. Warum die Äußerung den Islam beleidigt, in dem es doch keine Schwätzer, Gemeine, Sensationsgierige, Diebe und Scharlatane gibt, wurde nicht geklärt.

Der Atheist Say hat in der Türkei schon mehrfach für Aufruhr gesorgt und man wird den Prozess wohl mit Spannung verfolgen müssen. Bei Verurteilung drohen dem Mann 18 Monate Haft für einen Satz, den unsereiner nicht einmal tragisch findet. Bevor man allerdings mit dem Finger auf die Türkei zeigt, sollte man sich die entsprechenden Gesetze in unserem Raum vielleicht einmal ansehen:

Deutschland:

§ 166 Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen
Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Österreich:

Strafbare Handlungen gegen den religiösen Frieden und die Ruhe der Toten
Herabwürdigung religiöser Lehren
§ 188. Wer öffentlich eine Person oder eine Sache, die den Gegenstand der Verehrung einer im Inland bestehenden Kirche oder Religionsgesellschaft bildet, oder eine Glaubenslehre, einen gesetzlich zulässigen Brauch oder eine gesetzlich zulässige Einrichtung einer solchen Kirche oder Religionsgesellschaft unter Umständen herabwürdigt oder verspottet, unter denen sein Verhalten geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.

Schweiz:

Art. 261 Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit
Wer öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet oder Gegenstände religiöser Verehrung verunehrt, wer eine verfassungsmässig gewährleistete Kultushandlung böswillig verhindert, stört oder öffentlich verspottet, wer einen Ort oder einen Gegenstand, die für einen verfassungsmässig gewährleisteten Kultus oder für eine solche Kultushandlung bestimmt sind, böswillig verunehrt, wird mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft.

Es gibt allerdings einen großen Unterschied: Obwohl es die Gesetze bei uns auch gibt, setzt sie keiner mehr um. Ob diese Gesetze überhaupt notwendig sind, sei dahingestellt; dass sie zur Verfolgung politisch Unliebsamer (siehe auch Pussy Riot), wie in diesem Fall Fazıl Say, verwendet werden können, wird nicht zum ersten Mal bewiesen.

Wir haben auch vor einigen Monaten über Hamza Kashgari berichtet, dem wegen 3 harmloser Tweets die Steinigung droht. Auch Kashgari hatte den Arabischen Frühling unterstützt und war politisch aktiv. Er sitzt noch immer im Gefängnis und die Todesstrafe droht weiterhin.

In der Wikipedia findet man darüber hinaus unter Blasphemie etliche Beispiele von Menschen, die deswegen vor Gericht gestellt wurden. In Pakistan wurden von 1986 bis 2010 1.274 Menschen wegen Blasphemie angeklagt sowie einige umgebracht. Die englische Seite Viewpoint listet 34 Frauen, die wegen Blasphemie ermordet wurden.

Man könnte noch mehr Beispiele anführen, die regelmäßig in den Medien auftauchen: das 14-jährige Mädchen in Pakistan, die neun- und ein zehnjährigen Jungen in Ägypten und viele mehr.

Die Türkei steht seit langem am Scheideweg, in welche Richtung soll sie sich wenden? Zur Meinungsfreiheit oder zurück ins Mittelalter?

16 Gedanken zu „Fazıl Say vor Gericht“

  1. Ich habe in der Türkei einige Kemalisten und Kommunisten alter Tage kennengelernt, die sich in vielen Sachen uneins waren, nur eins verband die Genossen: Der Hass auf die Protagonisten der Re-Islamisierung der Türkei – allen voran die AKP.

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  2. Auch wenn diese Gesetze bei uns kaum mehr angewendet werden, ist doch die Frage, ob es sich nur um totes Recht handelt.
    Ich würde mir analoge Bestimmungen zum Schutz der Wissenschaften wünschen. Das wär ein Fest!

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  3. Würde Fotzenkrawall jetzt nicht gerade als Aushängeschild für ‚arme Verfolgte‘ hernehmen.
    Wer mal ein bisschen nachrecherchiert hat (Stichwort Voina), dem stößt die propagierte Farce hoffentlich gründlich auf.
    Das sind keine unschuldigen, weiblichen, verträumten Einhörner und mit deren Vorstrafenregister wären sie auch bei uns eingefahren.
    Dass der Medienrummel inkl. petitierenden millionenschweren amerikanischen Popstars die russische Justiz zu einem ‚überkorrekten‘ Urteil verleitet hat, ist halt zusätzlich Pech.

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  4. Dass §166 StGB nicht mehr umgesetzt wird, ist so nicht ganz richtig. Siehe folgende Strafverfolgungsstatistik: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/035/1603579.pdf
    Interessant wäre es hier erfahren zu können, was genau die Vergehen waren und wie die Urteilsbegründungen lauteten. Es bleibt aber, dass die Zahlen sich hierzulande immens von anderen Ländern unterscheiden. Und nie vergessen: Trotz Friedensnobelpreis ist die Europäische Weste auch nicht strahlend weiß. 😉

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  5. @Stoeber
    He, kleiner Dreck- nee besser Ruehreisack! Ist die kreative Wortschoepfung „Fotzenkrawall“ das Resultat des Erleidens (Tritt in die Eierchen) des Selbigen? Oder was bringt Dich so zum quieken?

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  6. Ohja, süße Knuddelkätzchen!
    @S.K.P: Tut mir ja Leid, dass dir die Lehrerin in der Volkshochschule nur die eine Übersetzung für Pussy geliefert hat. Wollte sicher deine Gefühle in Schutz nehmen. 😉

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  7. @Stöber:
    Die Übersetzung ist falsch. Das F-Wort ist im Englischen das ebenso unfeine „cunt“. Du kannst ja mal die Bedeutungsimplikationen eruieren, die mitschwingen, je nachdem ob du als „pussy“ oder als „cunt“ angesprochen wirst.

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  8. Falsch ist die Übersetzung nicht, Katzenversteher, imho nur schlecht, da ‚pussy‘ selbst im Falle vulg. recht harmlos, geradezu kuschelig und nicht sonderlich agressiv, doch dafür deutlich mehrdeutiger als sein F-Wort ist ist – doch das kann Stöber ja zB mit denen ausdiskutieren.

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  9. @Stöber
    Das Thema ist aber gerade nicht Pussy Riot, sondern Fazil Say. Bezeichnend, daß einem in dem Kontext die Angst des Spießbürgers vor feministischer Kritik wichtiger zu sein scheint, als die Solidarisierung mit einem bekennenden Atheisten in der Türkei.

    Dein erster Kommentar dazu vom 19.10 spricht Bände, woher dieser Themenumschwung kommt: Aus allen Sätzen spricht die Panik, die Gesellschaft habe sich mit Leuten solidarisiert, die mehr wollen als man selbst sich in seinen verkrüppelten Träumen vorstellen kann. Den vortheoretische und aktionistische Begriff „Engagierter/Politischer Kunst“, den Voina vor sich herträgt, scheint mir nämlich gerade nicht der Grund zu sein, warum du hier Krawall machst.
    By the way: In diesem Artikel kommt alles zusammen, woraus sich auch deine Kritik an Pussy Riot zu entzünden scheint: Duckmäuserisches Verständnis religiöser Empfindungen, die Beteuerung Kritik sei gut, aber bitte mit Maß und nicht Staat und Kirche schlechthin angreifen, hämische Freude darüber, daß die autoritäre Mehrheit in Russland eine härtere Bestrafung der Frauen willkommen heißt und die Lust an der Beschwörung der eigenen Ohnmacht, die sich in der besserwisserischen Meinung ausdrückt, die Aktionen von Pussy Riot würden ja eh nichts bringen, weil die Elite sich nicht dafür interessiert.
    Der ganze Artikel ist ein Paradestück autoritären Denkens und scheint mit deinen Gedanken dazu verschwistert zu sein: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pussy-riot-lady-suppenhuhn-11867761.html

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  10. @Abe

    Tja, die Armenier haben da als Hassobjekte wohl ausgedient seit sie damals unter massgeblicher Initiative der „Kemalisten“ etwas rauh, um nicht zu sagen: genozidal, angefasst worden sind.

    Btw: Was geht uns eigentlich das in der Türkei überhaupt an? Aber klar, man kann nie genug die Zustände bezüglich Demokrötie, MenschInnenrechten etc. in islamischen Ländern geißeln während man Moslems im eigenen Land gefälligst als multibunte Bereicherung zu begreifen hat. Neulich jemand mitten auf dem Alexanderplatz von einem Türkenmob totgetreten? -genauso egal wie das man mittlerweile als Chefarzt der Berliner Charite nicht mehr vor „Prügelattacken“ (BILD) sicher ist.

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