Die Wahrheit in der Wissenschaft – oder die Wahrheit in Bild der Wissenschaft?

Die Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“, die im Untertitel den stolzen Anspruch erhebt, „Deutschlands erstes Wissenschaftsmagazin“ zu sein, hat einen Sonderband 2018 herausgegeben. Darin werden in kurzen und allgemeinverständlichen Beiträgen „50 Sternstunden der Wissenschaft“ vorgestellt.
Der Leser wird gewiss nicht überfordert, sondern dort abgeholt, wo ihn die Redaktion vermutet. Wie stets bei solchen Anthologien mag man die eine Sternstunde vermissen oder die andere für weniger stellar halten; damit wollen wir uns jetzt aber nicht weiter aufhalten. Ein kurzer Abschnitt aus der Einleitung ist es, der unsere Aufmerksamkeit fesselte:

Doch wie definiert man Wahrheit?
Wahr bedeutet, dass sich eine wissenschaftliche Erkenntnis auf eine logisch einwandfreie Aussage beziehen muss. Dazu ist eine Basis für die Erkenntnis von Wahrheit erforderlich.

Doch wie kann man die finden? Auch hier gibt uns die Wissenschaft eine klare Antwort: Die Basis für die Erkenntnis von Wahrheit im Sinne von Wissen kann nur im Konsens gewonnen werden. Denn eine Realität – und damit Wahrheit – im absoluten Sinne gibt es nicht. Deshalb ist eine Trennung von Wissen und Meinung auch in der Wissenschaft letztlich unmöglich.

Erst der kommunikative Austausch unter Forschern ermöglicht die Bildung von Wissenschaft im Prozess des Erkennens, Prüfens, Modifizierens oder Verwerfens von Erkenntnissen. Am Schluss bleibt der ernüchternde und gleichzeitig tröstliche Satz: Wahr ist, was die Scientific Community kommuniziert – und als wahr annimmt.

Brauchen wir Trost, und finden wir das „tröstlich“? Versuchen wir, uns klarer zu machen, was uns da eben mitgeteilt worden ist.

Wenn es keine „Realität im absoluten Sinne“ gibt, soll das etwa bedeuten, dass überhaupt keine Realität existiert? Dies behauptete einst Bischof Berkeley. Bild der Wissenschaft scheint nicht ganz so weit in den Solipsismus („nur das eigene Ich existiert“) abgleiten zu wollen. Ihr zufolge gibt es eine Realität, doch wenn diese nicht absolut ist, dann muss sie relativ sein, das heißt abhängig; gewissermaßen eine Realität in Gänsefüßchen. Abhängig wovon? Die Frage drängt sich geradezu auf, konnte in dem zur Verfügung stehenden Platz aber offensichtlich nicht auch noch beantwortet werden. Eine naheliegende Vermutung lautet: Die Realität ist abhängig von ihrer Wahrnehmung durch Menschen, und zwar durch uns alle – nicht nur Wissenschaftler nehmen Realität wahr (nun gut, vielleicht doch nicht wir alle, und auch nicht zu allen Zeiten …).

Um diese „Erkenntnis“ bereichert, bleiben lediglich noch ein paar unbedeutende Restfragen offen. Als es noch keine Menschen und somit auch keine Wahrnehmung gab, existierte damals schon eine Realität? Wenn ja, muss diese nicht zunächst „absolut“ gewesen und später erst „relativ“ geworden sein? Wenn nicht, ist sie dann etwa zeitgleich mit dem Menschen, quasi als Teil eines Schöpfungsakts, entstanden?

Die „Basis für Erkenntnis“ könne „nur im Konsens“ gewonnen werden – was man sich darunter vorzustellen hat, hätte man schon gerne etwas genauer gewusst. Als es nämlich noch keine „Scientific Communities“ im heutigen Sinne gab, gab es da auch keine Erkenntnisse? Viele bahnbrechende Entdeckungen waren nur möglich, in dem der vorherige Konsens der Fachwelt in Frage gestellt wurde. War es Semmelweis – oder überhaupt jedem Forscher, der den vorherrschenden Auffassungen der Wissensgemeinde widerspricht – deshalb etwa grundsätzlich unmöglich, Wahrheiten zu erkennen? Wenn Wissenschaftler über längere Zeit gegensätzliche Meinungen vertreten und man sich schließlich einig wird: Ist eine Auffassung erst falsch und wird dann wahr, sobald sie anerkannt ist, obwohl sich kein Jota an ihr geändert hat? Und wenn Wissenschaftlichkeit per Mehrheitsbeschluss festgestellt wird: Gibt es eigentlich eine Sperrminorität?

Eine absolute Wahrheit gibt es nicht, meint Bild der Wissenschaft. Da haben wir gleich noch ein Problem. Nehmen wir mal den Satz „der Umfang eines Kreises ist gleich 2πr“. Dieser ist dringend verdächtig, eine „logisch einwandfreie Aussage“, mithin eine Wahrheit, zu sein. Unter welchen Umständen ist er falsch? Wenn es solche Umstände nicht gibt, handelt es sich dann nicht doch um eine absolute Wahrheit? Tatsächlich scheint der Wahrheitsgehalt dieses Satzes in keiner Weise davon tangiert zu werden, ob es eine absolute oder bloß eine „relative“ Realität gibt.

Selbstverständlich ist der „kommunikative Austausch“ unter Forschern für den Fortschritt der Wissenschaft unverzichtbar – das ist aber bei weitem nicht hinreichend. Darüber hinaus ist es notwendig, dass die „Scientific Community“ etwas hat, worüber sie sich sinnvoll austauschen kann: Die Erforschung der Realität mittels systematischer, theoriegeleiteter Beobachtung und mittels Experimenten. Und was die „Unmöglichkeit einer Trennung zwischen Wissen und Meinung“ angeht: Ja, es gibt ihn durchaus, den Unterschied zwischen Fakten und Bewertungen (vgl. z. B. hier).

Unser Fazit lautet: Die Auffassungen von Bild der Wissenschaft über die Realität, die Wahrheit und wie man sie herausfindet, können nicht wahr sein – nicht einmal nach dem von dieser Zeitschrift selbst reanimierten und ursprünglich religiösen Konsens-Kriterium. Denn der Realitätsbegriff von Bild der Wissenschaft repräsentiert keineswegs den Konsens der Scientific Community, sondern allenfalls denjenigen gewisser philosophischer Strömungen, die mit Wissenschaft i. e. S. kaum etwas zu tun haben.

Wer sich mehr Licht in diesem Dschungel wünscht, sei zu unserer Lesereise 4: Wahrheit (Semantik, Erkenntnistheorie) eingeladen.

12 Gedanken zu „Die Wahrheit in der Wissenschaft – oder die Wahrheit in <i>Bild</i> der Wissenschaft?“

  1. „der Umfang eines Kreises ist gleich 2πr … Unter welchen Umständen ist er falsch?“

    Eine gute Frage, die zeigt, wie unüberlegt die Aussagen des BdW-Artikels sind. Auch wenn das Beispiel zugleich zeigt, dass die „Erforschung der Realität mittels systematischer, theoriegeleiteter Beobachtung und mittels Experimenten“ nur ein Weg zur Erforschung der Realität ist, denn die Wahrheit der Formel des Kreisumfangs ist nicht durch Beobachtung und Experimente festzustellen. 😉

    Besonders desaströs ist dieser Satz des BdW-Beitrags: „Denn eine Realität – und damit Wahrheit – im absoluten Sinne gibt es nicht. Deshalb ist eine Trennung von Wissen und Meinung auch in der Wissenschaft letztlich unmöglich.“

    Erstens sollte man Existenzfragen (gibt es eine Realität) nicht mit Erkenntnisfragen (wie ist die Realität beschaffen) verwechseln. Zweitens ist das ganze Geschäft der Wissenschaft auf die bestmögliche Trennung von Wissen und Meinung angelegt. Drittens macht die Aussage, man könne Wissen und Meinung nicht trennen, gar keinen Sinn, wenn es keine Realität und keine Wahrheit gibt, denn worauf sollte sich dann der Wissensbegriff beziehen? Und das „letztlich unmöglich“ ist nur eine dumme Paraphrase der trivialen Tatsache, dass Irren menschlich ist.

    Wer den Begriff der Wahrheit aufgibt, hat außerdem auch nichts mehr, was er den alternativen Fakten Kellyanne Conways entgegenhalten kann.

  2. Joseph Kuhn :

    die Wahrheit der Formel des Kreisumfangs ist nicht durch Beobachtung und Experimente festzustellen.

    Das war natürlich ein Trick 😗. Der Wahrheitswert mathematischer Sätze misst sich nicht an der Korrespondenz zu Fakten, sondern an der Kohärenz zu formalen Theorien (mehr dazu in unserer Lesereise 4). Es gibt auch viele faktische Wahrheiten, die absolut sind. Um genauer zu werden, muss man zunächst zwischen „absolut“ (unabhängig von einem Bezugsrahmen) und „absolut genau“ (völlig mit der Realität übereinstimmend) unterscheiden. „Erde und Mond sind zwei verschiedene Himmelskörper“ ist absolut korrekt, aber „Erde und Mond sind 384.400 km voneinander entfernt“ stimmt nur ungefähr, denn die Entfernung ist nicht konstant.

    Im Übrigen hast Du absolut Recht! 😆.

  3. gedankenknick : Einspruch.

    Das bringt uns auf die interessante Frage, ob die Mathematik entdeckt oder erfunden ist. Ausführlich hat sich Mario Bunge in seinem Treatise (Vol. 7, Pt 1 Ch. 1) mit dieser und anderen Frage(n) in dem Zusammenhang beschäftigt. Aber ich bin nicht Mathematiker genug, mir zuzutrauen, seine Ausführungen dazu unfallfrei zusammenzufassen. Deshalb zitiere ich nur einen Satz aus dem Abschnitt 1.2:

    The philosophy of mathematics is mostly a collection of interesting open problems and of ill-grounded opinions.

  4. @ gedankenknick:

    Ich fürchte, die experimentelle Annäherung an Pi und der Beweis der Formel für den Kreisumfang sind zwei paar Stiefel. Ein einfacheres Beispiel: Wenn ich zwei Paar Stiefel habe, kann ich dann nicht experimentell beweisen, dass 2 + 2 = 4? Klappt jedesmal sogar ganz genau. Klingt auch logisch. Und geht doch nicht. Man würde damit nur Poppers Induktionsproblem übersehen, weil man dann 2 + 2 = 4 als empirisches Gesetz ansehen würde und an allen möglichen (also unendlich vielen) Fällen von zwei und zwei Dingen überprüfen müsste.

    Die Kurve zur konstruktiven Mathematik zu kriegen, überlasse ich lieber Leuten, die mehr von so was verstehen als ich, bevor ich zu viele ill-grounded opinions produziere. 😉

  5. Ich habe schon meine Probleme mit dem ersten Satz:

    Wahr bedeutet, dass sich eine wissenschaftliche Erkenntnis auf eine logisch einwandfreie Aussage beziehen muss.

    Mir ist nicht klar, was das bedeuten soll.
    Können nur wissenschaftlich Erkenntnisse wahr sein? Was ist zum Beispiel damit, dass ich heute morgen Brot gegessen habe. Das ist keine wissenschaftliche Erkenntnis. Wobei, ich könnte ja mal versuchen einen wissenschaftlichen Artikel darüber zu veröffentlichen.
    Was ist eigentlich „logisch einwandfrei“? Sind damit Tautologien gemeint? Welchen Bezug soll die wissenschaftliche Erkenntnis eigentlich zu diesen „logisch einwandfreien Aussagen“ haben? Vielleicht logische Äquivalenz, aber dann wären nur logische Tautologien wissenschaftliche Erkenntnisse.
    Eigentlich kann man gegenüber empirischen wissenschaftlichen Erkenntnissen immer Einwände erheben. Zumindest behauptet Popper das in „Logik der Forschung“. Nach Popper folgt also logisch, dass es Einwände gegen empirische wissenschaftliche Erkenntisse gibt. Alles ziemlich undurchschaubar.
    Der weitere Text könnte nahelegen, dass die Aussage über die Erfordernis des Konsens die „logisch einwandfreie Aussage“ ist. Es gebe damit keinen logischen Einwand gegen diese Erfordernis. Ein Rationalismus, dessen Fundament darin besteht, dass Konsens Zugang zu Wahrheit ist Wahrheit definiert. Der Bezug, wäre dann das eine wissenschaftliche Erkenntnis ein Fall ist indem diese Anforderun erfüllt ist. Inhaltlich wird das durch diese Interpratation nicht wirklich besser.

  6. libertador :

    Ich habe schon meine Probleme mit dem ersten Satz:

    Wahr bedeutet, dass sich eine wissenschaftliche Erkenntnis auf eine logisch einwandfreie Aussage beziehen muss.

    Nicht nur Du, selbst wenn wir „einwandfrei“ mal großzügig mit „schlüssig“ oder „korrekt“ übersetzen wollten. Schön auf den Punkt gebracht hier:

    „Der logische Wahrheitsbegriff hat rein gar nichts mit dem der faktischen Wahrheit zu tun. So kann ein logisch gültiger Schluß aus lauter faktisch falschen Prämissen und einer falschen Konklusion bestehen: ‚Alle Giraffen haben 15 Halswirbel; Darwin ist eine Giraffe. Ergo hat Darwin 15 Halswirbel‘.“ [32]

    Bunge/Mahner, zit. hier.

  7. In der amerikanischen Justiz findet gerade Wahrheitsfindung nach dem Prinzip des Konsenses von Laien statt: „In einem wichtigen US-Großprozess stufte die Jury Monsantos Unkrautvernichter „Roundup“ als krebserregend ein.“ http://tinyurl.com/y4ak5mtn

  8. Ich fürchte, die experimentelle Annäherung an Pi und der Beweis der Formel für den Kreisumfang sind zwei paar Stiefel.

    Ich hab ja auch nicht von einem Beweis gesprochen, ich habe geschrieben, dass sich Pi experiementell annähernd ermitteln läßt. Weiterhin habe ich darauf hingewiesen, dass diese Überlegung (und auch Durchführung) keine neue Erkenntnis ist, sondern vielmehr schon sehr lange durch die Welt geistert. Vermutlich war die Herleitung dieses Experiments sogar genau anders herum – erst war die Berechnungsgrundlage für Pi bekannt, dann hat sich jemand – der viel schlauer im Bereich Mathematik war als ich es bin – sich dieses Experiment überlegt (im Zuge der Lösung einer Wahrscheinlichkeitsberechnung für Wetten über Münzwurfergebnissen auf gekachelte Flächen).

    „Die Wahrheit“ läßt sich selten experimentell ermitteln, man kann experimentell die „betrachtete Wahrheit“ nur bestätigen oder widerlegen. Das obige Nadelproblem ist also eher kein Beweis für die Berechnungsgrundlage von Pi, vielmehr ist die Berechnungsgrundlage von Pi der Beweis, dass die Überlegung zum Nadelproblem richtig zu sein scheint.

    Oder man kann natürlich aus den experimentell ermittelten Erkenntnissen auf eine formale Wahrheit schließen – zumindest bis diese durch andere Experimente widerlegt ist. So etwas führt dann oft genug zu hinreichend genauen Ergebnissen, bis man den Bezugsrahmen verläßt und völlig anders geartete Experimente durchführt. (So werden die Formeln zur Newtonschen Mechanik ja nicht durch die Relativitätstheorien und quantenmechanische Überlegungen ausgehebelt sondern erweitert.)

    Ein einfacheres Beispiel: Wenn ich zwei Paar Stiefel habe, kann ich dann nicht experimentell beweisen, dass 2 + 2 = 4? Klappt jedesmal sogar ganz genau. Klingt auch logisch.

    Ich habe meinem Kindeklein neulich erst erklärt, dass 2+2=5 ist, wenn man nur sehr große Werte für 2 annimmt. (Diesem Mathematiker-Witz kann man mit einem Rundungsfehler herleiten, denn 2,4+2,3=4,7 ergibt gerundet 2+2=5, wobei jede Rundung für sich dabei formal korrekt ist.) Ich vermute, dass ich demnächst Ärger mit dem Mathe-Lehrer meines Kindes bekommen werde.

    Und geht doch nicht. Man würde damit nur Poppers Induktionsproblem übersehen, weil man dann 2 + 2 = 4 als empirisches Gesetz ansehen würde und an allen möglichen (also unendlich vielen) Fällen von zwei und zwei Dingen überprüfen müsste.

    In diesem Fall eher nicht, weil erkenntnistheoretisch 2+2=4 in der Mathematik mit ganzen Zahlen definiert ist. Ansonsten müßte ich analog für Pi alle planen Kreise überprüfen. Das ist natürlich – im gegebenen Bezugsrahmen – als eher nicht sinnvoll notwendig anzusehen.

    Das Induktions-Problem beruht ja – soweit ich es verstanden habe – unter anderem darauf, dass ich über den bisher untersuchten Bereich hinaus extrapoliere. In meinem Studium habe ich aber gelernt, bei Extrapolation über die bisher experiementell ermittelten Extremwerte hinaus sehr vorsichtig zu sein, da sich die Eigenschaften von Systemen ab einem bestimmten (vielleicht bisher unbekannten) Grenzwert unvorhergesehen verändern könnten. Beispiel: Wenn ich bei einem Gas isotherm den Druck erhöhe, wird es irgendwann flüssig und bei weiterer Änderung fest. Es gibt aber Gase, die werden ohne flüssigen Aggregatzustand fest, andere Gase nehmen unter bestimmten Umständen einen völlig anderen („überkritischen“) Zustand ein.

    Wenn also 2Schuhe + 2Schuhe = 4Schuhe ergeben, kann ich das sicher auch auf andere unbelebte feste Materie (im selben Bezugsrahmen) extrapolieren. 2Steine + 2Steine = 4Steine usw. Extrapoliere ich diese Erkenntniss aber auf z.b. Kaninchen oder Meerschweinchen, könnte ich (etwas Beobachtungszeit vorausgesetzt) zu ganz anderen Erkenntnissen gelangen. Auch können 2Protonen + 2Protonen unter passenden Umständen -> 2Deuterium + 2Positronen + 2Neutrinos ergeben (Das Gleichheitszeichen passt hier natürlich nicht, da die Reaktion nicht ohne weiteres umzukehren ist.)

    Zum Definitionsproblem allerdings: Es gibt genau 10 Arten von Menschen. Die, die binäre Zahlen lesen können, und halt die anderen. 😉 Bezugsrahmen eben.

    Nichts für ungut. Eigentlich wollte ich ursprünglich nur ein wenig zur Erheiterung hier beitragen. 🙂

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