SPIEGEL, ALS und Ayurveda

SPIEGEL ONLINE berichtet am 27.06.14 von einem Eishockey-Profi, der seit zwei Jahren an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet. Dank Ayurveda geht es ihm besser:

… plötzlich hat er Energie. Die Muskelzuckungen sind weniger geworden. Das Ungleichgewicht ist weg, das Gefühl, dass es kein nach Vorne sondern nur ein zu Ende gibt. Neun Kilo hat er mittlerweile abgenommen. Sein altes Spielergewicht, sagt L[…] fröhlich.

Die bittere Wahrheit ist, dass bei dieser Erkrankung die Kräfte stetig nachlassen und es keine Therapie gibt, die den Verfall aufhalten kann. Der Median der Überlebenszeit (d. h. zu diesem Zeitpunkt ist die Hälfte der Erkrankten verstorben) liegt bei ca. anderthalb Jahren nach Diagnosestellung. Gewichtsverlust im Krankheitsverlauf ist gewöhnlich [1]. Glücklicherweise ist die ALS selten.

Es ist unausweichlich, dass sich die Betroffenen bei diesem schicksalhaften Verlauf mit der düsteren Prognose nicht anfreunden können – das hieße Übermenschliches zu erwarten. Die verklausulierte oder offene Mitteilung der Lebenserwartung löst regelhaft die Suche nach erfolgversprechenden Behandlungsmethoden aus.

In dieses zutiefst menschliche Bedürfnis springt die Paramedizin ein mit ihren sorgsam abgestimmten „ganzheitlichen“ Angeboten, mit ihren Ritualverschreibungen, die geeignet sind, eine scheinbar gerichtete Aktivität zu erzeugen und die Illusion einer Kontrolle zu wecken. Sicher, rational sagt sich der Betroffene, vielleicht nützt es nichts, aber vielleicht, ein kleines bisschen Hoffnung …

Offenbar hat die „Ayurveda-Medizin“ bei Herrn L. zu einer zeitweiligen psychischen Stabilisierung beigetragen:

Das Insichkehren während der Meditation und die Gespräche mit den Therapeuten haben ihm geholfen, sein Schicksal zu akzeptieren, nicht ständig nach dem „Warum“ zu fragen. Im Moment zu leben.

Das sollte man nicht kleinreden. Aber es ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls zynisch, dieses bestmögliche Ergebnis einer Behandlung als „Heilversuch“ zu deklarieren, wie es SpON zu suggerieren sucht. Es wird nur wenige Betroffene geben, die sehenden Auges 5000 EUR für vierzehn Tage Behandlung ausgeben, um allein diese Erfahrung zu machen – wenn ihnen vorher gesagt wird, dass der Verlauf der Erkrankung, die Prognose, davon natürlich nicht beeinflusst werden wird. Die Menschen wollen überleben, gesund werden, nicht nur sich zeitweise besser fühlen. Kein „Ayurveda-Experte“, kein Verticker Anbieter „alternativer Heilmethoden“ wird widersprechen, wenn beim potentiellen Kunden der Eindruck entstanden ist oder erzeugt wird, dass die Therapie zur Heilung führen könnte, dass die Therapie dem scheinbar unausweichlichen Ende doch noch etwas entgegenzusetzen hat. Und es muss nicht bei 5000 EUR bleiben. Erfahrungsgemäß sind solche Behandlungen erst zu Ende, wenn das Geld der Familie zu Ende ist.

SPIEGEL ONLINE trägt kräftig dazu bei, diesen Eindruck der heilenden Potenz von Ayurveda hervorzurufen, auf den allein es ankommt. SpON muss sich vorwerfen lassen, mit solch einem schwärmerischen Bericht zum Zutreiber für Abzocker geworden zu sein. Mag sein, dass das nicht justiziabel ist, aber es ist ein moralisches Versagen.

10 Gedanken zu „SPIEGEL, ALS und Ayurveda“

  1. Pingback: SkepKon-Rückblick: Ayurveda mit Blei ist nicht gesund @ gwup | die skeptiker
  2. Kommentare kann man auch zu dem Artikel abgeben – nur eben leider nicht öffentlich. Ich fände es aber dennoch gut, wenn viele diese Möglichkeit nutzen würden.

    Antworten
  3. SpON macht heute gleich ein Doublefeature in Sachen Werbung für „Alternativmedizin“:

    http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/palliativmedizin-bessere-lebensqualitaet-durch-alternativmedizin-a-973067.html

    Autor Christian Heinrich (mit Medizinstudium) fragt gleich im ersten Satz:

    Was können Misteln schon gegen Lungenkrebs ausrichten?

    Könnte man relativ schnell beantworten, wenn man auch nur bisschen recherchieren würde: Misteln (Mistelextrakt) können das Tumorwachstum ev. noch schön stimulieren.

    https://www.psiram.com/de/index.php/Misteltherapie#Krebs_stimulierende_Wirkung.

    Aber gut, schneller sterben kann man auch als Alternative bezeichnen.

    Antworten
  4. Ich bin mal so frei und kopiere einen Kommentar aus dem GWUP Blog hier rein, weil so passend. Nicht meine Worte sondern die des „Beobachter“ der IMMER gute Kommentar abliefert.

    „Beobachter
    28. Juni 2014 um 07:14
    Was ist los mit dem “Qualitätsjournalismus” in unseren etablierten liberalen Blättern bzgl. Esoterik und “Alternativmedizin”?
    Die beiden SPIEGEL-Artikel (oben von Hans-Werner Bertelsen angegeben) beschäftigen sich mehr als unkritisch mit “Alternativmedizin” an Beispielen wie Ayurveda bei ALS und Haifischknorpel bei Krebs:
    http://www.spiegel.de/panorama/als-wie-ein-patient-mit-ayurveda-amyotrophe-lateralsklerose-bekaempft-a-970867.html
    http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/palliativmedizin-bessere-lebensqualitaet-durch-alternativmedizin-a-973067.html
    Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hat vor ein paar Tagen einem ominösen E-Smog-”Strahlenfahnder” eine kostenlose Werbemöglichkeit geboten – unter der Rubrik “Wissen” !
    Mittlerweile wurde der Artikel aufgrund der Proteste bzw. kritischen Kommentare/Stimmen in`s “Panorama” verschoben – also sozusagen in`s Kuriositäten-Kabinett:
    http://www.sueddeutsche.de/panorama/elektrosmog-der-strahlenfahnder-1.2005301
    Interessant ist, wie der Artikel in der Mobilfunkgegner-/Alternativ-”Medizin”-/Esoterik-Szene aufgenommen wurde:
    – von sehr kritisch bis himmelhoch jauchzend:
    http://www.izgmf.de/
    http://www.izgmf.de/scripts/forum/index.php?id=57540
    (“Lackschaden” der SZ)
    http://www.elektrosensibel-muenchen.de/aktuelles-leser/items/elektrosmog-der-strahlenfahnder-wissen-sueddeutschede.html
    http://www.symptome.ch/vbboard/elektrosmog/119043-mobilfunkkritik-sueddeutschen-zeitung.html
    (“Eine Sensation”)
    Wobei sich zeigt, dass man auch untereinander zerstritten ist und prozessiert; selbst Kritiker in den eigenen Reihen sollen mundtot gemacht werden:
    http://www.kompetenzinitiative.net/themen/recht/stellungnahmen/izgmf-verliert-gerichtliche-auseinandersetzung.html
    http://www.csn-deutschland.de/blog/2009/03/01/strafanzeige-gegen-umweltkranke-erfolglos/
    Wenn man sich ansieht, wer die Autoren der drei Artikel sind – :
    SZ.de:
    “Thorsten Schmitz, Jahrgang 1966, hat Politologie und Soziologie studiert in Frankfurt am Main (wo er auch geboren wurde) und die Deutsche Journalistenschule in München besucht. …”
    SPIEGEL.de (ALS, Ayurveda):
    “Gesa Mayr
    Jahrgang 1986, aufgewachsen in Bonn und Berlin. Studierte “European Studies” und “Media Culture” an der Universität Maastricht und der Universität Bologna. Volontariat beim “Kölner Stadt-Anzeiger” mit Außenstationen bei der dpa in Washington und SPIEGEL ONLINE. Seit April 2013 Redakteurin bei SPIEGEL ONLINE im Ressort Panorama.”
    SPIEGEL.de (Palliativmedizin, Haifischknorpel):
    “Christian Heinrich ging nach seinem Medizinstudium auf die Deutsche Journalistenschule. Seit 2010 arbeitet er als freier Journalist in Hamburg. Neben Gesundheits- und Wissenschaftsthemen schreibt er auch über Wirtschaft und Gesellschaft, Reise und Bildung.”
    … – muss man sich doch sehr wundern.
    Aufgrund ihrer Ausbildung müssten doch diese Journalisten zumindest dazu in der Lage sein, ein Thema von verschiedenen Seiten zu beleuchten und dann auch fundiert/gut recherchiert darüber zu berichten.
    Sieht SO (wie in den o. g. Artikeln) unser “Wissenschaftsjournalismus” aus ?!“

    Kontraste: “Ätzende Alternativmedizin: Das Geschäft mit dem ‘Wundermittel’ MMS geht weiter” | Ratgeber-News-Blog
    Pingback am 26. Juni 2014 um 22:44

    Antworten
  5. Die Kommentarfunktion fehlt bei einigen Spiegel-Artikeln. Meistens bei Themen, wo voraussichtlich nur Hassparolen provoziert weren würden, oft genug aber auch bei schwurbeligen „Wissenschafts“-Artikeln.
    Vor ein paar Tagen gab es da einen Text zu einer „Studie“ die „ermittelt“ hat, dass alle Säugetiere etwa gleichlang pinkeln.
    Im Abstract dieser Studie stand dann, dass der Mittelwert von 21 Sekunden eine Streuung von +/- 13 Sekunden hat.
    Im eigentlichen Text wurde dann auf die Ermittlung der Messergebnisse anhand von Youtube-Videos eingegangen. 😀
    Und keine Kommentarfunktion um den Journalisten darauf hinzuweisen, dass der Artikel weniger sensationell war als ein Youtube-Video einer Urin-tröpfelnden Maus. 😀

    Antworten
  6. Es wäre schön, wenn zu jeder dieser Wunderheilungsstories eine Fortsetzung kommen würde, die zeigt was ein bis zwei Jahre später aus den Leuten geworden ist. Aber dies wären dann ja „old news“, und zu lesen, dass das Wundermittel dann doch nicht geholfen hat, wäre ja auch langweilig.

    Antworten
  7. bei ariplex gibt es Beschreibungen von Menschen, die Hamer auf den Leim gingen. (Im wiki hier auch), und diese Storys wären in Printmedien (Spiegel usw.) gut aufgehoben, möglicherweise ohne Fotos, allein die Beschreibungen der grauenhaften Leidensgeschichten könnten bei einigen Lesern zum Umdenken führen. Die Hardcoreesos erreicht man nicht, aber diejenigen, die auf dem Weg in den Irrsinn sind.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

css.php