Im Board „Unzufrieden mit einem Psiram-Artikel?“ war eine Beschwerde eingegangen. Ein User namens „thymosand“ zeigte sich unerfreut ob unseres Wiki-Artikels zu … wer hätte es ahnen können? … „Thymosand”. Nachdem wir die Paralyse ob der narzisstischen Kränkung, bei einem inhaltlichen Fehler erwischt worden zu sein, mehr schlecht als recht überwunden hatten, begann die Diskussion. Sollten wir den Fehler korrigieren? Einen Ruf haben wir dahingehend ja nicht zu verlieren, und wenn das einreißt? Wenn da jetzt alle kommen? Nach langen, ermüdenden Grabenkämpfen trug die Fraktion derjenigen, die vor ihrem Taxischein mal eine Einführungsveranstaltung zum Thema „Wissenschaftliches Arbeiten“ abgesessen hatten, einen Sieg davon. Fehler haben korrigiert zu werden. Jetzt ging es also darum, heraus zu finden, worin der Fehler genau gelegen haben soll. Wofür sich ein paar unerschrockene Recken wieder in den Thread begaben und thymosand um Erleuchtung baten.
Ist Thymosand ein Arzneimittel?
Thymosand ist ein Arzneimittel, auf so viel konnten wir uns einigen. Es wird aus der Thymus-Drüse von Kälbern gewonnen, so viel ist unbestritten. Es soll „die Immunabwehr stärken“, so viel behauptet der Hersteller, die Sanorell Pharma GmbH & Co. KG aus Bühl in Baden. Es sticht unter den dutzenden von Produkten mit diffusen Wirkmechanismen und unbelegten Wirksamkeitsversprechen im Wiki nicht nennenswert heraus, über so viel waren wir uns einig. Alles andere scheint aber Diskussionsstoff zu bieten. Ist Thymosand ein Frischzellenpräparat? Ist Thymosand ein zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel? Sind Ärzte „Verbraucher“ im Sinne des Arzneimittelgesetzes? Ist es falsch, wenn wir im Wiki-Artikel sagen, dass Thymosand nicht zugelassen ist? Und vor allem: Ist Thymosand wirklich verkehrsfähig?
Um diese Frage zu beantworten, lassen Sie mich Ihnen in aller Kürze die Entwicklungsgeschichte meiner chinesischen Heimat seit dem Jahre 2000 vor Christi Geburt … ‚tschulligung, Tucholsky-Gedenkminute, soll hier das etwas dröge Thema auflockern. Denn ganz so weit müssen wir nicht in die Geschichte gehen. Ein bisschen aber schon, nämlich exakt 40 Jahre.
Als der deutsche Gesetzgeber sich 1976 – nur 15 Jahre nach Contergan, immerhin – endlich bequemte, das damals geltende erste Arzneimittelgesetz zu reformieren, machte er sich eine Menge Sorgen. Er machte sich Sorgen, dass eine strenge Zulassung der Industrie des damaligen Weltmarktführers schaden könnte. Er machte sich Sorgen, dass die Deutschen sich nicht in ausreichendem Ausmaß an kontrollierten klinischen Studien beteiligen würden. Er machte sich Sorgen, dass die Arzneimittel der „besonderen Therapierichtungen“ keine Chance hätten, wenn sie den gleichen Anforderungen gerecht werden müssten wie richtige Medikamente.
Zwischen dem ersten Entwurf des zweiten deutschen Arzneimittelgesetzes in 1974 und seinem Inkrafttreten im Jahr 1978 lagen fast vier Jahre, in denen an dem ursprünglich vorgesehenen Wirksamkeitsnachweis herumgewerkelt wurde, bis er nicht mehr zu erkennen war. So mussten Hersteller zwar die Wirksamkeit ihrer Produkte nachweisen, diese Hürde wurde aber bewusst so niedrig ausgestaltet, dass sie einer auf dem Boden liegenden Limbo-Stange glich: Unten drunter kommt man nicht mehr durch, aber man muss das Bein nicht nennenswert anheben, um drüber zu steigen. Statt den zu diesem Zeitpunkt schon ausufernden Bestand von Alt-Arzneimitteln bei der Gelegenheit wenigstens ebenfalls auf Wirksamkeit zu prüfen, galten diese als „fiktiv zugelassen“ und konnten bis zu einer scharfen Rüge der EU im Jahr 2005 gehandelt werden. Yepp, Sie haben richtig gelesen: Arzneimittel, die schon vor 1978 gehandelt wurden, konnten bis 2005 vertrieben werden, ohne dass jemals eine einzige klinische Studie zu ihrer Sicherheit und Wirksamkeit durchgeführt wurde.
Das schafft Vertrauen in das Bemühen des Staates um unser gesundheitliches Wohlergehen, wa?
Ist ja alles nicht so wild, denn ist ja nicht so, als würden hier Menschen sterben, nicht wahr? Wenn da gefährliche Sachen dabei sind, dann wird das den Horden von „Erfahrungsmedizinern“, die auf diese Produkte schwören, schon auffallen, meinen Sie?
Auch auf die Gefahr hin, dass wir, statt uns weiter mit einem eleganten Köpper in unseren Geldspeicher zu stürzen, bald ins öffentliche Schwimmbad müssen, weil „big pharma“ die Finanzierung einstellt: Doch. Es sind Menschen gestorben. Das handwerklich schludrige zweite Arzneimittelgesetz hat bis zu seiner Anpassung an europäische Standards Leben gekostet und tut es vielleicht noch heute. Diese Therapien töten vielleicht nicht immer direkt, weil sie unsicher sind, aber sie töten indirekt, weil sie besseren Alternativen mit belegter Wirksamkeit unterlegen sind.
Glauben Sie nicht? Hier zwei Beispiele, auch wenn die geeignet sind, das Vertrauen in den Staat als Wächter über die Arzneimittelsicherheit schwer zu erschüttern.
Arzneimittelsicherheit fällt nicht vom Himmel.
2005 nahm die Staatsanwaltschaft Gießen Ermittlungen gegen Joachim Boldt auf. Boldt, damals Chefarzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Ludwigshafen und apl. Professor an der Uni Gießen, hat sich Zeit seines Berufslebens – ganz uneigennützig, versteht sich – für den Einsatz von Hydroxyethylstärke (HES), ein Blutplasmaersatzstoff, der in der Notfallmedizin eingesetzt wird, stark gemacht. Boldt, der heute im Ausland praktiziert, hat u.a. mit Datenmanipulationen maßgeblich dazu beigetragen, dass HES lange Zeit zur Grundausstattung in RTW gehörte – obwohl die Wirksamkeit nie verlässlich belegt und durch eine Zulassungsbehörde überprüft wurde, ganz zu schweigen von der Überlegenheit gegenüber Alternativen. HES war bereits vor 1978 verfügbar, als klinische Studien noch unüblich waren. Es hat zwar die Zulassung durchlaufen, aber die letztliche Entscheidung beruhte allein auf „anderweitigem Erkenntnismaterial“, d.h. auf den von uns bei Psiram so heiß und innig geliebten Monographien: Sammelsurien von Beobachtungen und Fallbeschreibungen, aufgelockert durch Ergebnisse aus Tier- und in-vitro-Versuchen. Keine klinischen Studien. Erst 2013, lange nach den klinischen Studien, Meta-Analyse, die die Unterlegenheit von HES belegten und auf eine erhöhte Mortalität im Zusammenhang mit dem Produkt hinwiesen, empfahl die EMA die Marktrücknahme des Produkts.
Zwischen 2007 und 2011 betrieb ein niederländischer Unternehmer, Cornelis Kleinbloesem, in Düsseldorf die xCell-Klinik, die mit autologer Stammzellentherapie in verzweifelten Fällen gute Geschäfte machte. Den Standort in Düsseldorf wählte er nicht zufällig und sicher nicht wegen des guten Klimas im Rheinland. „Stammzellentherapie“ klingt erstmal toll: Das ist neu, das ist innovativ, da werden neue Wege beschritten, da werden die ganz großen Brummer in Angriff genommen. Die xCell-Klinik warb mit Erfolgen bei Parkinson, Alzheimer, MS, ALS, AIDS und Krebs. Je verzweifelter der Patient und seine Familie, desto besser. Für Herrn Kleinbloesem. Tatsächlich ist die autologe Stammzellentherapie aber so neu und innovativ, dass sie noch weit von der regelmäßigen therapeutischen Nutzung entfernt ist. Es gibt für ihre Wirksamkeit nur in wenigen Indikationen Belege und Leitlinien. In den Niederlanden, dem Herkunftsland von Herrn Kleinbloesem, wäre das nicht möglich gewesen, weswegen er die liberalere deutsche Gesetzgebung bevorzugte. Denn Gewebe, das dem Patienten entnommen wird, um ihm nach einer Aufbereitung wieder zugeführt zu werden, fiel hier als „Eigenherstellung“ unter die ärztliche Therapiefreiheit, nicht unter das Arzneimittelgesetz. Es mussten erst zwei Menschen sterben, bis die zuständige Landesbehörde ausreichend Handhabe sah, um die Klinik zu schließen. Machen Sie sich keine Sorgen, dass Herr Kleinbloesem dadurch in eine unschöne finanzielle Zwangslage geraten sein könnte. Er eröffnete einfach stante pede eine neue Klinik und macht weiter wie gehabt. Jetzt im Libanon.
Der pharmazeutische Limbo
Was hat das jetzt alles mit Thymosand und der Sanorell Pharma GmbH & Co. KG zu tun? Erinnern Sie sich noch an die auf dem Boden liegende Limbo-Stange? Stellen Sie sich einen Besenstiel vor, über den Sie drübersteigen sollen. Unüberwindliches Hindernis? Eher nicht. Außer man heißt Sanorell Pharma und möchte den Menschen irgendwas aus den Thymus-Drüsen von Kälbern andrehen, weil denen das irgendwie die Immunabwehr stärken soll. Was sagt das über ein Unternehmen aus, wenn es auch im löcherigsten Gesetz EVER! noch nach einer passenden Lücke suchen muss? Mit viel Kreativität und Gehirnschmalz, wohlgemerkt.
Bereits seit 1987 ist die Injektion von tierischen Frischzellen, u.a. wegen der Gefahr von Abstoßungsreaktionen und Zoonosen (Ja. Zoonosen. Krankheiten, die Tiere bekommen.), verboten. In den 1980er Jahren war diese Therapieform der Schwurbel des Jahres, also in etwa das, was heute Detox ist. Armin Klümper, unrühmlicher Sportmediziner und Dealer der Stars im Leistungssport, schwört drauf. Erst nach dem Tod der Sportlerin Birgit Dressel setzte ein Umdenken ein. Was Sanorell Pharma nicht anficht – bieten sie heute doch nur gefriergetrocknete Extrakte (Trockensubstanzen) an, die erst durch Auflösen in einem Lösemittel injizierbar werden. Clever, nicht?
Aber damit reißen die Herausforderungen, vor denen unser kleines, tapferes Unternehmen steht, nicht ab. Die Probleme von Sanorell Pharma begannen 2005, als die EU Deutschland dann doch mal wegen der verschleppten Nachzulassung für fiktiv zugelassene Arzneimittel auf die Füße trat. 2013 ging die Klinik im Schwarzwald, in der Thymosand eingesetzt wurde, in die Insolvenz, womit der wichtigste, wenn nicht gar der einzige Vertriebskanal wegfiel. Statt Thymosand einfach klinisch zu prüfen, um dann mit den Ergebnissen die reguläre Zulassung zu beantragen, ließ sich der Hersteller zu ungeahnten kreativen Höhenflügen hinreißen. Thymosand als fertiges Produkt hat keine Chance auf eine Zulassung nach heutigen Standards. Sanorell Pharma hat ein Labor, eine Betriebserlaubnis als pharmazeutisches Unternehmen nach AMG, aber kein zugelassenes Produkt. Die Eigenherstellung durch Ärzte fällt unter die Therapiefreiheit. Die Lösung liegt so nahe. Na, kommen Sie drauf? Kurzes Pow-Wow mit dem Head of Marketing und schon hat Sanorell Pharma eine neue Geschäftsstrategie, die sicherstellt, dass die Versorgung mit medizinisch unabdingbaren Thymuspräparaten zu keinem Zeitpunkt ins Stocken gerät. Denn statt des fertigen Produkts bietet Sanorell jetzt die Bausteine an. Und ein Labor in Bühl/Baden. Für eigenherstellende Ärzte. Zur Anwendung an deren Patienten. Das Prinzip kennt man aus Autowerkstätten, wo man am gemieteten Stellplatz am eigenen Wagen herumschrauben kann. Nur ist dort die fachliche Aufsicht durch einen Kfz-Meister vorgeschrieben, immerhin geht es um Leben und Tod.
Das alles könnte legal sein. Wir wollten es auch nicht glauben, aber das galt nicht weniger für die Geschäftspraktiken von Boldt und Kleinbloesem, weswegen wir die Möglichkeit, dass die Justiziare von Sanorell Pharma durch eifriges und beharrliches Knibbeln am Gesetzestext ihre eigene kleine Gesetzeslücke geschaffen haben, zumindest in Erwägung ziehen. Aber wir sind ja serviceorientiert. So kennt man uns, so liebt man uns. Der offizielle oder inoffizielle Firmenvertreter von Sanorell Pharma, der da im Forum aufgeschlagen war, schien sich sehr sicher zu sein, dass die Bemühungen des Unternehmens, die Zulassung zu umgehen, rechtssicher sind. Wir haben ihm angeboten, mal bei BfArM, PEI und den zuständigen Landesbehörden nachzufragen.
Gern geschehen.
Super Artikel, da trau ich mich kaum auf einen ganz Winzigkleinen Fehler hinzuweisen. Zoonosen sind Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können.
Ist ja an sich nicht falsch, man könnte es auch ergänzen (Zoonose sind Krankheiten, die zwischen Tier und Mensch übertragen werden können, nicht nur in eine Richtung). Da aber ein Link auf den sehr ausführlichen WP-Artikel vorhanden ist, geht das so i.O.