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Archiv für die Kategorie ‘Medizin’

Die Metaphysik des Krebsrisikos

16. Juli 2023 4 Kommentare

Der Zuckerersatz Aspartam ist am 14. Juli 2023 von der IARC als „möglicherweise krebserregend“ eingestuft worden, Klasse IIb. Diese Nachricht findet reichlich Widerhall in den Medien. Wir nehmen als Beispiel den Bayrischen Rundfunk. Dort kann man einen Podcast von knapp acht Minuten Dauer hören:

Krebsrisiko durch Aspartam?
Magazin vom 14.07.2023

br.de/radio/bayern2/sendungen/iq-wissenschaft-und-forschung/magazin

Es gebe neue Belege: in Zellkulturen konnte man mit sehr hohen Dosen Mutationen häufiger machen, und in Tierversuchen erzeugten sie Krebsvorstufen. Der von der Reporterin befragte Experte selbst weist darauf hin, dass beides nicht dasselbe ist wie Krebs. Er erläutert weiter, dass es eine Menge Grundnahrungsmittel gibt, die in der gleichen Kategorie sind, oder eher noch, ähm, gefährlicher, Klasse IIa. Zucker selber sei gesundheitsschädlicher, „am besten Wasser und vergleichbare Getränke“ trinken, meint er. (– Aber was ist denn vergleichbar mit Wasser?)

„IIb“ heißt: möglich, aber nicht wahrscheinlich, dass es krebserregend ist, sagt der Experte.

Daraus ergibt sich: es muss prinzipiell von allen nicht hinreichend untersuchten Substanzen angenommen werden, dass sie „möglicherweise krebserregend“ sind, und was könnte man je hinreichend untersucht haben. Metaphysisch gesehen handelt es sich bei der Feststellung „nicht krebserregend“ schließlich um eine negative Existenzaussage, d. h. sie ist so gut wie nie zu belegen, und für jegliche praktische Belange muss man immer eine Sicherheitsgrenze annehmen, die man al gusto setzen oder verschieben kann. Hier handelt es sich nicht um einen naturwissenschaftlichen Fakt, sondern um eine Konvention: wieviel Risiko ist die Gesellschaft bereit zu tragen? Diese Sicherheitsgrenze ist regelhaft noch einmal ein bis zwei Größenordnungen geringer als die Konzentration des untersuchten Stoffs, bei der man erste (Surrogat-)Effekte sehen konnte.

Die IARC fasst diese Überlegungen selbst in einer übersichtlichen Grafik zusammen:

IARC Monographs Hazard Level Identification

Je unschädlicher, um so unsicherer die Aussage. Eine Kategorie „ungefährlich und adäquate Evidenz dafür“ ist nicht vorgesehen und kann es bei dieser Denkweise nicht geben.

Genügt das? Der IARC vielleicht, nicht aber der Menschheit. Zu einer wirklichen Risikoeinschätzung sieht die Agentur für Krebsforschung sich nicht verpflichtet. Unter der Grafik heißt es ausdrücklich:
Der Gipfel der Brauchbarkeit wäre erreicht, wenn quantitative Angaben zum Risiko verfügbar wären. Eine Steigerung der Inzidenz einer bestimmten Krebsart von 4 auf 4,5 pro 100.000 (d. i. eine Steigerung um 12,5%) könnte auch signifikant sein. Und selbst das wäre noch nicht die ganze Wahrheit, denn zu beachten sind auch die Risiken der Nicht-Exposition. Die völlige Vermeidung des gesichert krebserregenden Sonnenlichts (höchste Gefahrenklasse III) führt zu brüchigen Knochen wegen Vitamin-D-Mangels. Wer kein Fleisch isst, hat es schwerer, seinen Bedarf an B-Vitaminen zu decken – nicht gut für die Blutbildung.

Zurück zum Aspartam. Der Experte weist darauf hin, dass der Grenzwert bei Aspartam bei 40 mg/kg*d liegt, und dass der 70 kg schwere Erwachsene täglich 21 Liter [1] aspartamgesüßte Cola trinken müsste, um ihn zu erreichen. Daran schließt sich der folgende Wortwechsel an:

[Frage]: Wobei, wenn ich einem Grundschulkind 2 Flaschen solcherart gesüßte Getränke hinstelle, dann könnte das vielleicht schon an die Grenze kommen, bezogen auf das Körpergewicht, oder?
[Antwort]: Genau. Also das mit dem 40 mg/kg Körpergewicht muss man eben ausrechnen. […]

(Meine Hervorhebung.) Na, dann rechnen wir das doch aus, das kann doch nicht so schwierig sein: Ein Kind von 7 kg Körpergewicht muss mehr als 2 Liter Cola zero am Tag (und man weiß nicht, über wieviele Jahre) trinken, um in diesen Bereich zu kommen.

Ein Kind mit 7 kg Körpergewicht ist 5 Monate alt (50er Perzentile). Und einen Erstklässler von 6 Jahren (20 kg) müsste man schon mit 6 Litern täglich abfüllen, Prosit. Wenn ein Kind so viel trinken kann, dann hat es aller Wahrscheinlichkeit nach einen juvenilen Diabetes mellitus, was eine ganz andere Bedrohung als die Krebserregung ist. Jeder Gesunde wäre in der Gefahr, bei solchen Trinkmengen eine lebensgefährliche Wasservergiftung zu erleiden – und das ganz ohne Aspartam. Aber sich das klar zu machen, hätte wahrscheinlich zu wenig Panik ergeben – eine Entwarnung kann einfach nicht gegeben werden. Aus metaphysischen Gründen.

(c) Martin Perscheid hat das noch eindrucksvoller als die IARC visualisiert:

Auf Twitter


  1. 21 Liter: Wenn man nach quantitativen Angaben sucht, stürzt man übrigens in ein dunkles Loch. Der IARC-Bericht sagt, „200-300 mg“ pro can, aber was eine can ist, weiß man nicht. Coca Cola Schweiz sagt, 130 mg/l seien (in der Schweiz) als Maximalgehalt vorgeschrieben. Aus diesem Wert errechnet sich die Angabe „21 l/d“. Coca Cola Deutschland ist stumm wie ein Fisch. Sicher handelt es sich hier um Geschäftsgeheimnisse, und die Firmen werden nichts zu den Inhaltsstoffen sagen als das, wozu gezwungen werden können.

„Fehlalarm“ – oder Falsches Zeugnis? Reiss/Bhakdi und die Wissenschaft

2. Oktober 2020 102 Kommentare

Die Biochemikerin Prof. Karina Reiss und ihr Gatte, der Mikrobiologe im Ruhestand Prof. Sucharit Bhakdi, machen mit ihrem Buch „Corona Fehlalarm“ Furore. Alles halb so wild, die Krankheit ist gar keine richtige Krankheit, der Lockdown ist völlig überzogen, und man weiß nicht, wer von ihm profitiert, sagen sie. In einer Forumsdiskussion bei uns kommt die folgende Passage vor:

Bhakdi und Reiss haben eine Grundthese. Sie folgen nicht der Evidenz, sondern sie arrangieren die Evidenz so, dass diese These gestützt wird. Die Grundthese ist, dass alles nur ein böser Traum ist, erfunden von [ __ ] (man setze ein, wen man will). Diese These ist absurd, genauso absurd wie die Simile-Regel der Homöopathen.

Darauf antwortet ein erleuchteter Durchblicker:

Wie erklärt sich das? Zwei zuvor angesehene und hoch dekorierte Professoren bekommen plötzlich „Hirnerweichung“? Das ergibt keinen Sinn usw. usf.

Noch abgesehen davon, dass solche Entwicklungen weder plötzlich noch gänzlich ungewöhnlich sind (s. Nobel-Krankheit), hat unser Bhakdi-Anhänger den Punkt verfehlt. Was ist der Punkt? Der Punkt ist natürlich: Reiss/Bhakdi lassen sich nicht von der Evidenz führen, sondern sie „führen“ die Evidenz. Was damit gemeint ist, wollen wir an einem Beispiel aus der jüngeren Medizingeschichte erläutern.
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COVID-19: die Hobby-Epidemiologen geben Entwarnung

26. März 2020 18 Kommentare

Große Einschränkungen im sozialen Leben sind spürbar, und die Wirtschaft schlingert. Das muss doch auch anders gehen, sagt sich der Laie, und viele, die schon immer über alles Bescheid wussten, sind auch nun wieder um Lösungen nicht verlegen. Nehmen wir zum Beispiel diese Leuchte der Wissenschaft, den Herrn Professor Walach. Seine Erkenntnisse zur Corona-Pandemie teilt er der Welt unter dem Motto „keine Panik“ mit. Er erläutert zunächst einige Szenarien und schlussfolgert richtig: „Diese [d. h. die soziale Isolation] hilft nur, um den Ansturm auf die Intensivstationen zu bremsen, sonst nicht.“ Was das zu bedeuten hat, wollen wir uns im Folgenden etwas genauer anschauen.

Walachs Seelenruhe beruht auf einem Vergleich mit der Grippe:

Gemessen daran ist die Mortalitätsrate, die wir derzeit aus den weltweiten Zahlen der Corona-Virus-Infektion schätzen können mit 4% nicht höher, sondern eher niedriger.

Doch der Vergleich der Letalität (nicht: „Mortalität“, wie dieser frischgebackene Hobby-Epidemiologe sagt) zwischen Grippe und COVID-19 ist absurd. Gegen Grippe wird geimpft. Wenn ein Vergleich erlaubt ist, dann allenfalls mit der Spanischen Grippe im 1. Weltkrieg.

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Homöopathie. BEI SEPSIS???

9. November 2019 13 Kommentare

Die stetig wachsende deutsche Skeptiker-Gemeinde, auch bekannt als „Skeptiker-Lobby“ oder „Skeptiker-Sekte“, guckt in diesen Tagen nach Bayern und reibt sich verblüfft die Augen. Auf Initiative der CSU und der Freien Wähler, mit Unterstützung der Grünen, wurde vorgestern im dortigen Landtag der Beschluss gefasst, eine wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben.

Zur Homöopathie. Als Mittel zur Reduktion der Antibiotika-Abgabe. Weil die Politik der Wissenschaft gefolgt ist und sich die Gefahr der Antibiotikaresistenz als politisch relevantes Thema zu eigen gemacht hat. Und jetzt wissen möchte, was man dagegen tun kann. Mit Alternativmedizin. Und speziell mit Homöopathie.

So als hätte es die Diskussion der letzten Jahre, die die nachgewiesene und immanente Wirkungslosigkeit der Homöopathie ins öffentliche Bewusstsein gebracht hat, nicht gegeben.

Das Ergebnis ist eine ungläubige und fassungslose Schockstarre unter den Skeptikern, die sich in den letzten Jahren am Diskurs beteiligt haben, freiwillig und unentgeltlich. Gerade weil wir immer wieder betonen, dass Big Pharma und Big Woo sich im Hinblick auf die Geschäftspraktiken nichts schenken und dass die Förderung der Gesundheitskompetenz der Patienten beide Probleme gleichermaßen angeht: Verringerung des Schadens durch nachgewiesen unwirksame Therapien, wie z.B. Homöopathie, und Sensibilisierung für die ebenfalls schädliche Überversorgung mit Antibiotika. Antibiotikaresistenz als Folge von unverantwortlichem Verordnungsverhalten, welches durch die Marketingstrategien der pharmazeutischen Hersteller befeuert wird, ist unbestritten ein Problem. Bereits seit Jahren warnen Wissenschaftler davor, dass wir etablierte Behandlungsoptionen wie Penicillin und Amoxicillin, die in der Vergangenheit Menschenleben gerettet haben und immer noch retten, mittelfristig verlieren könnten.

Was kann jetzt noch getan werden, wie sollten Skeptiker mit der Situation umgehen? Sollten sie auf die Ergebnisse der Studie warten, um dann im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses methodische Kritik zu üben? Hier ein Wort der Warnung: Auftragsforschung wird in der Regel nur als so genannte „graue Literatur“ veröffentlicht. Das heißt, der Auftraggeber erhält einen Bericht, den er dann z.B. ins Internet stellen kann. Vielleicht gibt es eine offizielle Ergebnispräsentation, z.B. im Gesundheitsausschuss des Landtages. Was es aber sicher nicht geben wird, ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Vorgehen, denn wenn die Studienautoren keine wissenschaftliche Veröffentlichung anstreben, wird es auch kein peer review geben, genauso wenig wie eine Ergebnispräsentation im Rahmen einer wissenschaftlichen Konferenz, bei der methodisch versierte Kollegen den notwendigen Input zu den Limitationen geben können.

Sollten skeptische Wissenschafler (mit anderen Worten: Wissenschaftler) die Studie deshalb boykottieren?

Ganz im Gegenteil!
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WHO: TCM ins ICD – Traditionelle Chinesische Heilkunde, die lichte Zukunft der Medizin?

27. Juni 2018 12 Kommentare

Die Weltgesundheitsorganisation hat einen neuen Entwurf der elften Version ihres Klassifikationssystems für medizinische Diagnosen (ICD) vorgestellt, die im nächsten Jahr verabschiedet werden soll. Vorgesehen ist eine neue Abteilung für „traditionelle medizinische Störungen“ (damit ist chinesische, japanische und koreanische „Naturheilkunde“ gemeint). Systematische Bestrebungen, Quacksalberei auf diese Weise hoffähig zu machen, gibt es schon seit längerem. Wir hatten die Geschichte dieser Bemühungen bereits angerissen und mit wenig Erfolg versucht, den Begriffswirrwar zu durchdringen (hier), dessen Zweck darin besteht, grundsätzliche Unterschiede zwischen „traditioneller“ und „westlicher“ Medizin zu verschleiern.

Die „Integration“ der Glaubensmedizin in die wissenschaftlich begründete Medizin erfordert eine gewisse gedankliche Flexibilität, ein Denken, das eingetretene Pfade verlässt. Ben Kavoussi von Science Based Medicine hatte das schon vor einiger Zeit mittels eines Foucault entlehnten Borges-Zitats illustriert [1]:

Dieser Text zitiert „eine gewisse chinesische Enzyklopädie“, in der es heißt, daß „die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 1) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen“.

Was bringt die WHO dazu, einen derartigen Bruch mit der Wissenschaft zu vollziehen? Die Generaldirektorin der WHO, Frau Dr. Margaret Chan, äußerte sich zu diesem Thema in einer Grundsatzrede anlässlich der „International Conference on the Modernization of Traditional Chinese Medicine“ am 23. Oktober 2016.

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Cannabis und Straßenverkehr

12. Januar 2018 21 Kommentare

In diesem Beitrag soll auf ein recht spezielles Thema aufmerksam gemacht werden, und zwar auf die Auswirkungen, die die Verordnung von Cannabis zu medizinischen Zwecken mit sich bringen kann.

Beim legalen Genussmittel Alkohol gibt es mittlerweile rechtlich klare Regeln zum Schutz des Straßenverkehrs. So gibt es Promilleregelungen, die eine relative und eine absolute Fahruntüchtigkeit definieren, und es gibt auch anerkannte Erkenntnisse, die sich mit dem Abbau von Alkohol im Körper und der Dauer dieses Abbaues befassen.

Die Faustregel besagt, dass ein durchschnittlicher Mensch rund 0,1 Promille Alkohol im Blut pro Stunde abbauen kann, also bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,0 Promille nach zehn Stunden wieder nüchtern ist. Das erklärt, warum man den Restalkohol am Morgen nach einem größeren Alkoholgenuss als gefährlich ansehen muss. Zur Kontrolle gibt es für die Polizei mehrere Möglichkeiten, man kann die Atemalkoholkonzentration messen, und zwar bereits bei der Kontrolle auf der Straße, mit einem tragbaren Gerät, oder mit einem auf bestimmten Polizeidienstellen vorhandenen stationären Gerät, welches nach geltendem Recht bereits beweissicher messen kann. Dann kann die Blutalkoholkonzentration gemessen werden mit der klassisch durch einen Arzt durchgeführten Blutentnahme. Mehr…

Das Elend der Selbsthilfeorganisationen – ein Fallbeispiel

2. Januar 2018 7 Kommentare

Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfevereine genießen weitverbreitet ein hohes gesellschaftliches Ansehen; auch wenn hier und da gelegentlich unangenehme Fragen auftauchen und die Effektivität der gewährten Hilfe durchaus in Frage stehen kann. Dass die Bedenken zuweilen nicht ganz unbegründet sind, liegt zu einem guten Teil an der Kritiklosigkeit, mit der solche Organisationen ihre Hilfsangebote zusammenklauben. Hier und da wäre ein fundierter fachlicher Rat besser als der schiere gute Wille. Kehrt sich dieses Verhältnis um, rollen die redlichen Ansätze geradewegs den roten Teppich aus für die Verbreitung pseudomedizinischer Heilsversprechen, über deren Validität sich erkennbar niemand dort ein fundiertes Urteil geschaffen hat. Ein Beispiel? Bitte sehr:

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Das Wahrheitsministerium hat gesprochen

16. Dezember 2017 59 Kommentare

Die Trump-Administration verbietet der obersten Gesundheitsbehörde der USA (Center for Disease Control and Prevention, CDC) die Verwendung einer Liste von sieben Begriffen.

The forbidden words are “vulnerable,” “entitlement,” “diversity,” “transgender,” “fetus,” “evidence-based” and “science-based.”
Washington Post vom 15. Dezember 2017

Anstelle von „wissenschaftsbasiert“ oder „evidenzbasiert“ soll die Phrase „Das CDC gründet seine Empfehlungen auf die Wissenschaft unter Beachtung allgemeiner Erwartungen und Wünsche“ (in consideration with community standards and wishes) verwendet werden, in anderen Fällen werden keine Ersatzformeln empfohlen.

Weder die Finanzaufsicht (Office of Management and Budget, OMB) noch das CDC selbst waren zu einer Stellungnahme bereit.

Orwell? Ja. Und Shakespeare:

And art made tongue-tied by authority,
And folly (doctor-like) controlling skill

Verzweifelt gesucht: Argumente pro Heilpraktiker

4. September 2017 93 Kommentare

Ende August veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern, Medizinern und Journalisten das „Münsteraner Memorandum Heilpraktiker“ mit dem Ziel, die Politik zum Umdenken bei der Heilpraktiker-Zulassung zu bewegen (wir berichteten). Seitdem wird darüber viel diskutiert, gestritten, polemisiert, nicht selten mit heftigen persönlichen Angriffen.

Was ist da passiert? Ein kurzer Rückblick:

Zunächst wird im Memorandum der Status Quo des Heilpraktikergesetzes von 1939 erläutert:

Durch die staatliche Anerkennung von Heilpraktikern als „Heilkunde” Ausübende und durch die gesetzlich fixierte Berufsbezeichnung „Heilpraktiker” (vgl. Heilpraktikergesetz §1) wird Patienten suggeriert, es handle sich um staatlich geprüfte Heiler, die im Grunde äquivalent zu Ärzten ausgebildet seien und deren Kenntnisse sich zudem – anders als die vieler Ärzte – nicht auf ein oder zwei Fachgebiete beschränkten. Dies wäre jedoch ein klarer Fehlschluss: Medizinstudenten durchlaufen ein der Wissenschaftlichkeit verpflichtetes Studium, an dessen Ende eine staatliche Prüfung steht. Heilpraktiker haben demgegenüber nur eine einzige Prüfung zu bestehen, in der sie nachweisen müssen, dass sie sich bestimmter Grenzen ihres Kompetenzbereichs bewusst sind, etwa bei der Behandlung von Infektionskrankheiten. Darüber hinaus gibt es keine staatlich regulierte Ausbildung.

Weiterhin enthält das Memorandum eine kurze Beschreibung der Arzt-Ausbildung und stellt dieser die Voraussetzungen für den Erwerb der Heilpraktiker-Zulassung gegenüber.

Im weiteren Verlauf werden Bedenken geäußert, welche die Wahrnehmung und Stellung des Heilpraktikerwesens im Gesundheitssystem betreffen:

Gerade wegen der in Deutschland in nahezu allen Bereichen üblichen und erwartbar hohen Qualitätsstandards gehen Menschen hierzulande davon aus, dass solche Standards alle wichtigen Lebensbereiche regulieren – also auch die Gesundheitsversorgung durch Heilpraktiker. Umso größer ist die Gefährdung durch das unkontrollierte Feld des Heilpraktikerwesens.

Als Fazit werden zwei Lösungsvorschläge angeboten, um eine möglichst sichere Versorgung mit gesundheitsbezogenen Dienstleistungen zu erreichen: Einerseits die Streichung des Heilpraktiker-Berufes, alternativ eine Regulierung der Ausbildung und der Tätigkeitsbereiche, die den strengen Anforderungen in anderen Gesundheitsberufen entspricht.

Dass dieses Memorandum von vielen Heilpraktikern als persönlicher Angriff gewertet wird, ist nachvollziehbar, geht es doch in vielen Fällen um die Existenz, um den Verlust der Früchte jahrelanger harter Arbeit und nicht zuletzt um die Reputation als „so etwas ähnliches wie Arzt“. Mehr…

Der Münsteraner Kreis – Münsteraner Memorandum Heilpraktiker

21. August 2017 92 Kommentare
Wir möchten an dieser Stelle auf eine sehr interessante und notwendige Aktion hinweisen, die Unterstützung verdient!

Münsteraner Memorandum Heilpraktiker

Im deutschen Gesundheitswesen existieren zwei Parallelwelten: die Welt der akademischen Medizin, und die Welt der Heilpraktiker. Während die akademische Medizin nach Evidenzbasierung und begründetem Fortschritt strebt, sind Heilpraktiker in der überwiegend unwissenschaftlichen Gedankenwelt der Komplementären und Alternativen Medizin (KAM) verankert. Auch der Ausbildungsgang ist völlig verschieden: Während Mediziner ein langes Studium absolvieren, ist die Ausbildung zum Heilpraktiker kurz und weitgehend unreguliert. Da Heilpraktiker dennoch das Etikett „staatlich anerkannt“ bekommen, können Patienten leicht den falschen Eindruck gewinnen, es handle sich bei Medizinern und Heilpraktikern um gleichwertige Alternativen.

Seit vielen Jahren gibt es immer wieder teilweise intensiv geführte Diskussionen um das Thema Komplementäre und Alternative Medizin. Zu den hunderten von Verfahren wurden zahlreiche klinische Studien durchgeführt, deren Qualität allerdings häufig sehr gering ist. Überzeugende Belege für eine Wirksamkeit fehlen meist. Zudem widersprechen die tradierten Krankheitskonzepte und Interventionen oft fundamentalen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.

Der Münsteraner Kreis hat nun das Münsteraner Memorandum Heilpraktiker verabschiedet, über das am 21.8.2017 im Deutschen Ärzteblatt berichtet wurde. Es ist im Wortlaut auf aerzteblatt.de abrufbar. Darin werden zwei Lösungsvorschläge skizziert: 1. Der Heilpraktikerberuf wird abgeschafft (Abschaffungslösung). 2. Der Heilpraktikerberuf wird abgelöst durch die Einführung spezialisierter „Fach-Heilpraktiker“ als Zusatzqualifikation für bestehende Gesundheitsfachberufe (Kompetenzlösung).

Die Autoren sind überzeugt, dass ihre Lösungsvorschläge das Vertrauen in das deutsche Gesundheitswesen stärken und die Versorgung verbessern würden. Das Label „staatlich anerkannt“ wäre dann wieder ein echtes Qualitätsmerkmal, an dem sich Patienten orientieren könnten.

Der Münsteraner Kreis ruft Institutionen und Einzelpersonen auf, sich dem Memorandum als Unterstützer anzuschließen. Dadurch sollen Politiker motiviert werden, das Heilpraktikerwesen nicht nur kosmetisch, sondern grundlegend zu reformieren.

Den kompletten Text, die Möglichkeit, Unterstützer zu werden und weitere Infos finden Sie hier:
Münsteraner Memorandum Heilpraktiker
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