Anhang: What it is like to be a bat to read the Treatise

Anhang unserer Serie zur Philosophie Bunges

Magisches Theater
Eintritt nicht für jedermann
[…]
Nur – – für – – Ver – – rückte!

Hermann Hesse, Der Steppenwolf

Das Hauptwerk Bunges ist der Treatise on Basic Philosophy (1974 – 1989) in acht Bänden; es ist nicht ins Deutsche übersetzt. Vorab ein Tipp zur Lektüre für diejenigen, die sich partout nicht abschrecken lassen wollen: Man kann es natürlich auf die harte Tour versuchen und mit Band 1 und 2, der Semantik, beginnen. Sanfter wäre der Einstieg aber mit Band 5 und 6, der  Erkenntnistheorie, gefolgt von Band 3 und 4, der Ontologie. Band 7 (in 2 Halbbänden) beschäftigt sich mit der Philosophie der Einzelwissenschaften, Band 8 mit Ethik.

Kommen wir zur Sache. Wir fangen mit Band 1 an (wählen also die harte Tour). Nach einer kurzen Vorrede geht es so los:

DEFINITION 1.1 A septuple ℒK =⟨Σ, □, ◦, Φ, τ, Ω, Δ⟩, where K, Σ and Ω are sets, □ is a distinguished element of Σ, ◦ is an operation on Σ, Φ and τ are families of mappings, and Δ is a function, is called a (finitary) symbolic language for communicating systems of kind K iff […] [61]

Kryptisch. Und dann folgen sechs Bedingungen, die dem Einsteiger das Leben aber nicht leichter machen. Bunge erklärt nicht, wo er seine Zeichensprache her hat (dunkel ahnt man, dass sie was mit Mengenlehre zu tun hat). Die Inspiration dazu hat er von seinem philosophischen Lehrer Kanenas T. Pota [62] – ein Anagramm für „Niemand“. Doch auch wenn die nötige Aktivierungsenergie beträchtlich ist: Man muss den Mut nicht sinken lassen. „Mathematik versteht man nicht. Man gewöhnt sich einfach an sie“ (John von Neumann). Sicher hat der Mathematiker oder Logiker hier einen Startvorteil. Der Rest der interessierten Sterblichen braucht halt etwas länger. Aber es lohnt sich. Beispielsweise hatte ich das Kapitel 14 aus Matter and Mind (Was sind Objekte) zunächst wegen Unverständnis beiseitegelegt – inzwischen, nachdem ich mich mit dem Treatise auseinandergesetzt habe, finde ich es genial.

Zurück zum Treatise, der sich ganz der Exaktifizierung der Philosophie verschrieben hat. Ich will das Vorgehen Bunges, so wie ich es verstehe, an einem Beispiel deutlich machen.

Oben (d. h. in Teil 1) hatten wir kurz die Fakten berührt. Was sagt Wittgenstein? „1.1. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“; desgleichen in Englisch: „The world is the totality of facts, not of things“; d.h. Fakten = Tatsachen. Von der Frage geplagt, was nun ein Fakt ist, erklärt Wittgenstein in 2.01, dass der „Sachverhalt […] eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen)“ sei, und in 2.011, dass es „dem Ding wesentlich [ist], der Bestandteil eines Sachverhaltes sein zu können“ [63]. – Nanu, ein aus Dingen bestehendes Ding ist kein Ding mehr? Was unterscheidet denn nun Dinge von Sachverhalten? (Im englischen Text ist das noch rätselhafter: da spricht Wittgenstein vom „atomic fact“, der „a combination of objects (entities, things)“ sei) [64]. Hier die Antwort Bunges. (Es geht mir aber hier mehr um die Struktur des Arguments, weniger um seinen Inhalt):

DEFINITION 4.3 Let X be a thing. Then f is a fact involving X iff either

(i) f is a state of X, i.e. there is a state space S𝕃(X) for X such that f = sS𝕃(X), or
(ii) f is a change of state of (or event in) X, i.e. there is an S𝕃(X) such that f = e = 〈s, s‘〉∈S𝕃(X) × S𝕃(X).
[65]

Äh … alles klar? Versuchen wir, das aufzudröseln. In natürliche Sprache übersetzt klingt das so: Ein Fakt ist ein Zustand eines Dings oder die Änderung des Zustands eines Dings – m. a. W. er ist nicht das Ding selbst. Aber was bedeutet das? Zerlegen wir die Formel.

  • Was heißt „iff“? „wenn und nur wenn“
  • Was ist ein Ding? Ein konkretes Objekt, ein substanzielles Individuum mit seinen Eigenschaften
  • Was ist substanziell? Das angenommene, qualitativ unbestimmte, bloße Individuum (ähnlich der Primärsubstanz des Aristoteles) [66], in Unterscheidung vom Konstrukt
  • Was ist ein Zustand [state space S𝕃(X), Zustandsraum]? Die in einem theoretischen Modell erfassten (gesetzlich) möglichen Zustände s [states] eines realen Objekts
  • Und was ist ein Objekt? Das ist grundlegend und nicht weiter definierbar [67]

Alle diese Definitionen werden zuvor entwickelt und begründet, kein Begriff hängt in der Luft. Das Schema, das er hier anwendet, ist in etwa

  1. Intuitive Idee, in natürlicher Sprache formuliert, ggf. mit einer skizzenartigen Kritik widersprechender Auffassungen (das ist das, womit die Philosophie im Regelfall bereits aufhört)
  2. Eine exakte Definition, gewöhnlich in einer Formelsprache
  3. Wahlweise Beispiele, Korollarien (durchnummerierte Ableitungen), Theoreme, Überleitungen, Kritik anderer Auffassungen

Was die kritische Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen angeht: Diese kann ausführlich sein; häufiger aber ist sie knapp. Beispiel. Er zeigt, dass Freges [68] mehrdeutige Verwendung von „Denotation“ (Bezeichnung) in eine Absurdität führt und schließt lakonisch:

Moral: halte Referenz und Wahrheitswert auseinander. (Eine andere: Ehre die Treffer eines großen Mannes und nicht seine Fehlschüsse.) [69]

Allmählich zeigt sich: Bunge bemüht eine faszinierende Systematik, ein Fortschreiten von den Grundannahmen zu den Verästelungen und (zumindest mitunter) vom Einfachen zum Komplizierten. Der Nachteil ist: So etwas versteht man nicht, ohne über den Formeln zu brüten und die Sätze mehrfach zu lesen. Der große, nahezu unschätzbare Vorteil seiner Methode ist: Sie ist nachvollziehbar und transparent, das heißt kritisierbar. Nirgends wird verschleiert, wenn er eine Annahme macht, die sich nicht aus dem bisher Gesagten ableiten lässt. Was der Mediävist Kurt Flasch – auf die historisch-kritische Forschung bezogen – sagt, trifft hier zu: Es sind „Ergebnisse, die nur zusammen mit dem Beweisweg vorgetragen werden, der zu ihnen geführt hat, so dass sie widerlegbar sind. Weil sie prinzipiell widerlegbar sind, sind sie überwiegend sicher.“ [70]

Diese Systematik Bunges geht manchmal bis ins Verspielte. So hat sein Buch „Chasing Reality“ zehn Kapitel mit je zehn Abschnitten, und in „Mind-Body-Problem“ unterteilt er den psychophysischen Monismus wie den Dualismus in je 5 Unterarten (die von Graham Hoyle daraus extrahierte Aussage ist: „he says, in effect, ‚clear off the pitch you guys, this is not your game.‘ “ [71]). Die formallogische Beschreibung von konzeptueller versus realer Existenz (zur zentralen Bedeutung dieser Unterscheidung s. der Abschnitt Ontologie) exerziert er am Beispiel von Sirenen und Zentauren („Man nehme die Aussage ‚Manche Sirenen sind schön‘, die als ‚(∃x)(Sx & Bx)‘ symbolisiert werden kann. So weit so gut. Die Schwierigkeit beginnt, wenn man die Formel als „Es gibt schöne Sirenen‘ liest […]“ [72]).

Wir bleiben noch einen Moment bei der Semantik, dem härtesten Brocken der Bunge-Philosophie. Verspielt kann man auch manche anderen Beispiele nennen. Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen der Extension [73] (ℰ) und der Referenzklasse (d. h. dem Bezug) (ℛ) eines Prädikats [74] illustriert er so:

ℛ(Fliegen auf einem Besenstiel) = Hexen,
ℰ(Fliegen auf einem Besenstiel) = ∅.

Ein ehrwürdigeres Beispiel ist:

ℛ(Rational) = Menschheit, ℰ(Rational) ⊂ Menschheit. [75]

Um schließlich auch die Kritisierbarkeit zu beleuchten, noch ein anderes Gimmick. Im Kapitel „Mind“ [76] geht er von Definitionen aus, die außerordentlich umfassend sind, und die – intendiert – auch Tiere einschließen. Wem fällt da nicht Terry Pratchett ein, Maurice der Kater. Es folgt beispielsweise (Sec. 5.2):

Anmerkung 7: Da Verhalten und psychische Hirnaktivität [mentation] von Tieren, die mit einem plastischen ZNS ausgestattet sind, zum Teil von ihrer Umwelt abhängig sind, muss ein und dasselbe Tier in verschiedenen Umgebungen differente Persönlichkeiten zeigen – z. B. Tyrann zu Haus und Untertan auf der Arbeit.

Dr. Jekyll/Mr. Hide. Aber das widerspricht geradezu dem klinischen Sinn des Persönlichkeitsbegriffs, der sich darum bemüht, eine Synthese der umstandsabhängigen Verhaltensweisen, eben den Kern der Persönlichkeit, zu erfassen und die Widersprüche zu interpretieren. Auch die folgende These ist konsequent – aber schräg:

Anmerkung 8: Es gibt eine personelle Identität oder überdauernde Persönlichkeit nur in dem Sinn, in dem es eine digestive oder kardiovaskuläre Persönlichkeit gibt; Verhalten und psychische Hirnaktivität von höheren Vertebraten ist wandelbarer und störbarer als jede andere Körperfunktion.

Es hat schlicht keinen Sinn, so deviant zu definieren. Danach (Sec. 5.5.) überinterpretiert er empirische Befunde zur Sprachfähigkeit von Tieren, über welche die Zeit hinweggeschritten ist. Jahre später ist er vorsichtiger („Now, the empirical evidence for ‚ape language‘ is weak“) [77], wenn er auch den Argumenten der Kritiker noch nicht so recht beizupflichten gewillt ist. Ich spekuliere zur Genese: Bunge hatte fruchtbaren Austausch mit Grundlagenforschern wie Robert Merton, Donald Hebb oder Dalbir Bindra (alles Größen ihres Fachs), aber nicht mit Praktikern. Um sich über die mit Geist und Gehirn zusammenhängenden Themen näher zu informieren, halte ich andere seiner Bücher für geeigneter (gelungen finde ich z. B. Matter and Mind in dieser Hinsicht).

Aber das ist einer der ganz wenigen Punkte seiner im Treatise ausgearbeiteten Philosophie, gegen die ich grundsätzliche Einwände habe.

Abschließend seien noch einmal die Bände des Treatise on Basic Philosophy aufgezählt:

  1. Semantics I: Sense and Reference (1974)
  2. Semantics II: Interpretation and Truth (1974)
  3. Ontology I: The Furniture of the World (1977)
  4. Ontology II: A World of Systems (1979)
  5. Epistemology & Methodology I: Exploring the World (1983)
  6. Epistemology & Methodology II: Understanding the World (1983)
  7. Epistemology & Methodology III: Philosophy of Science and Technology
    • Part I: Formal and Physical Sciences (1985)
    • Part II: Life Science, Social Science and Technology (1985)
  8. Ethics: The Good and The Right (1989)

  1. : Treatise Vol. 1, Ch. 1, Sec. 1.1.1.
  2. : Treatise Vol. 1, General Introduction to the Treatise
  3. : Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus
  4. : Aufgespießt von … Bunge (Chasing Reality, Kap. 1.3.)
  5. : Treatise Vol. 3, Ch. 4, Sec. 2.1.
  6. : „Auf Kürze und Verständlichkeit getrimmt: Die Substanz ist das bloße, nackte Etwas, das die Eigenschaften ‚trägt'“ (Natur der Dinge, Kap. 2.1.2)
  7. : „We shall take this general notion of an object as primitive or undefined, for it is far too basic and important to be definable.“ Treatise Vol. 1. Ch. 1. Sec. 3.1.
  8. : Gottlob Frege (1848-1925), einer der Begründer der modernen Logik.
  9. : Treatise Vol. 1, Ch. 2, Sec. 2.7.
  10. : Flasch K: Warum ich kein Christ bin. München 2013, S. 50
  11. : Hoyle G: Book Review. Journal of Neurobiology, Vol. 14, No. 4, p. 337-338 (1983)
  12. : Treatise Vol. 3, Ch. 3, Sec. 4.3.
  13. : „Jedes Prädikat bestimmt eine Klasse, die als die Extension des Prädikates bezeichnet wird. Diese Klasse ist die Menge aller Individuen (Paare, Tripel, etc.), die die von dem Prädikat repräsentierte Eigenschaft besitzen: ℰ(S) = {x∈D|Sx}“ (Philosophie der Biologie, S. 51)
  14. : „Die begriffliche Repräsentation einer realen [oder nicht realen – Verf.] Eigenschaft wird Prädikat genannt.“ Natur der Dinge, Kap. 2.2.2
  15. : Treatise Vol. 1, Ch. 4, Sec. 1.2.
  16. : Treatise Vol. 4, Ch. 4.
  17. : Treatise Vol. 5, Ch. 3, Sec. 3.1.

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