Teil 4 unserer Serie zur Philosophie Bunges
Intuitiv ist Wahrheit die Übereinstimmung mit der Realität, aber natürlich wird diese schlichte, „naive“, Korrespondenz verdächtig, wenn die Realität als solche zweifelhaft oder zumindest der mangelhaften Erkennbarkeit verdächtig wird. Verbunden, aber nicht identisch mit der Frage, was die Wahrheit ist, ist die Frage, woran man sie erkennt – ihr Kriterium.
Für den Mönch Vinzenz von Lerins (um 450) war die Wahrheit das, was immer und überall und von allen geglaubt wird, womit sie mit der katholischen Wahrheit zusammenfiel. Descartes hielt dafür, dass wahr ist, was klar und deutlich ist – aber der Skeptiker Bayle fragt, wie es denn um diese Klarheit bestellt ist, wenn Christen ihre Konfession wechseln. Gottscheds empörte Widerlegung besteht darin zu behaupten, dass diejenigen, die sich unsicher seien, nur nicht richtig durchblicken würden, und:
Allein, es ist ein altes Sprüchwort, daß die Menge der Irrenden dem Irrthume keinen Vorschub thun könne: Multitudo errantium, non parit errori patrocinium [Wenn noch so viel irren, so wird keine Wahrheit daraus, eigentlich ein Rechtsgrundsatz]. Die Sonne bleibt doch wohl ein Licht, wenn sie gleich von einem Blinden nicht gesehen, und von Nachteulen geschmähet wird [24].
Aber damit führt er ein Argument gegen den Intersubjektivitätsbegriff der Wahrheit gegen die Kritik am kartesischen Evidenzbegriff (Wahrheit ist, was am Tag liegt) ein.
Soweit war man in der Frühen Neuzeit. Der Begriff der Wahrheit war endgültig den Philosophen in die Hände gefallen. Inzwischen gibt es so viele Wahrheitsbegriffe wie Konfessionen: Skirbekk [25] teilt sie grob ein in Korrespondenztheorie, Kohärenztheorie (wahr ist, was logisch konsistent ist), pragmatische Theorie (wahr ist, was sich als brauchbar erweist), analytische und phänomenologische Denkweisen. Jeder hat seins. „‚Was ist Wahrheit?‘ fragte Pilatus spöttisch und wollte nicht bleiben, um die Antwort zu hören. Pilatus war seiner Zeit voraus. Denn ‚Wahrheit‘ ist selbst ein abstraktes Substantiv, also ein Kamel von einer logischen Konstruktion, das nicht einmal durch das Öhr eines Grammatikers hindurchgehen kann“ [26], meint Austin und verliert sich in den Tiefen ebenjener Grammatik, worauf Strawson Nägel mit Köpfen fordert: „Die Korrespondenztheorie muss nicht gereinigt, sondern aufgegeben werden.“ [27] Heidegger ist das nicht ontisch genug. „Das Wesen der Unverborgenheit ist die Entbergsamkeit“ [28], womit er wohl den gefährlichen Weg aus der Platonschen Höhle (wohin? ins „Licht“) meint, den er mit allerlei Metaphern und Neologismen pflastert (aber ganz sicher bin ich nicht). Feyerabend verkündet: Alles Käse. „Die Wahrheit, was immer sie sein mag [whatever it is], sei verdammt. Was wir brauchen ist Gelächter.“ [29]. Ein Wissenschaftsclown plaudert aus seinem Nähkästchen. Und so wiederum ist sie in derjenigen Gestalt, in welcher sie politisch am brauchbarsten ist: „Die Wahrheit ist relativ“ [30] und liege im Auge des Betrachters, sagt Rudy Giuliani, der Rechtsanwalt eines soziopathischen, pseudologischen Phantasten. Sie stört beim Überleben.
Nun der Spin, den Bunge dieser Angelegenheit verleiht. Ausgehend von seiner eigenen Ontologie mit der scharfen Trennung zwischen materiellem Objekt (Gegenstand der Realwissenschaften) und Konstrukt (Gegenstand der Formalwissenschaften, das sind im Wesentlichen die Logik und die Mathematik) behauptet er:
Die erste Wahrheit über die Wahrheit ist, dass es viele gibt. Tatsächlich gibt es logische, mathematische, faktische, moralische und künstlerische Wahrheiten. ‚Wir sind hier‘ ist eine logische Wahrheit, weil ,hier‘ definitionsgemäß ist, wo immer wir sind. Eine Multiplikationstafel ist eine Ansammlung mathematischer Wahrheiten ohne Logik, wenn auch konsistent mit ihr. ‚Vertreter des Freihandels praktizieren Protektionismus‘ ist eine faktische Wahrheit heutzutage. ‚Es ist falsch, die Schwachen auszunutzen‘ ist eine moralische Wahrheit. Und ‚Don Quijote ist großzügig‘ ist eine künstlerische Wahrheit. [31]
Kurz: Eine einheitliche Wahrheitstheorie, die sowohl die konkreten Sachverhalte als auch die Konstrukte betrifft, ist nicht möglich. Leibniz unterscheidet die vérité de raison von der vérité de fait. In der Mathematik geht es um formale Wahrheit. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit betrifft die reale Welt, und die Kohärenztheorie passt für die Wahrheit in den Formalwissenschaften – die semantisch neutral sind, d. h. keine Aussage über die Welt machen (dazu müssen sie erst interpretiert, das heißt angewendet, ihre Formelzeichen mit einer konkreten Bedeutung ausgestattet werden):
Der logische Wahrheitsbegriff hat rein gar nichts mit dem der faktischen Wahrheit zu tun. So kann ein logisch gültiger Schluß aus lauter faktisch falschen Prämissen und einer falschen Konklusion bestehen: ‚Alle Giraffen haben 15 Halswirbel; Darwin ist eine Giraffe. Ergo hat Darwin 15 Halswirbel‘. [32]
Auch der pragmatische Wahrheitsbegriff findet bei Bunge seinen Platz:
Die Praxis, die nicht der Beweis der Wahrheit [test of truth] ist, ist der ultimative Beweis der Effizienz. Deshalb muss Effizienz unabhängig vom Wahrheitsgehalt überprüft werden. Das ist natürlich nicht die Ansicht des Pragmatismus und des dialektischen Materialismus, für die allein die Praxis zählt. Aber diese Ansicht ist falsch, wie durch zahllose Theorien in den Grundlagenwissenschaften gezeigt wird, die nicht praktisch nutzbar und deshalb weder effizient noch ineffizient sind, sowie durch zahllosen Mythen, die sehr erfolgreich sind – z. B. bei der Rekrutierung von Gläubigen und Aktivisten – ohne wahr zu sein. [33]
Die Nützlichkeit [usefulness] ist ein Wert, der die Technologie betrifft, nicht die Wissenschaft.
Genetisch, scheint mir, war es eher umgekehrt: Nicht die Ontologie führte Bunge in diesen Wahrheitsbegriff, sondern die Leibnizsche Unterscheidung zwischen faktischer und Vernunftswahrheit war der Ausgangspunkt für seine Ontologie.
(Partielle oder vollständige) Wahrheit ist eine Eigenschaft von Aussagen [propositions], die einer gewissen Überprüfung standgehalten haben [that have passed certain tests]. [34]
Daraus folgt: Behauptungen, die noch nicht geprüft sind, haben keinen Wahrheitswert (sie sind weder wahr noch falsch). Sie sind nicht a priori Träger von Wahrheit, und sie existieren nicht (z. B. als platonische Idee), bevor sie jemand gedacht hat. Die Kritik Bunges an dem großen Alfred Tarski bezieht sich genau darauf. Tarski habe nicht zwischen der faktischen und der konzeptuellen Wahrheit unterschieden, seine Theorie betreffe also allein die formale Wahrheit [35]. Folgerichtig wird Bunge dafür platonistisch beschimpft: „crude misunderstandings“ und „This is all absurd“. [36]
Wie steht es um das Wahrheitskriterium? Es gibt kein Kriterium der Wahrheit, sagt der kritische Rationalismus. Gut, sagt Bunge, es gibt nicht das Kriterium der Wahrheit, aber es gibt einen Haufen von Symptomen oder Indikatoren: empirische (z. B. Testerfolg) und begriffliche (z. B. interne und externe Konsistenz) [37], die von Fall zu Fall eine höchst unterschiedliche Wertigkeit haben können. In Treatise [38] ist er dazu nicht nur ausführlich, sondern zusätzlich geradezu unterhaltsam.
Ein Problem, das Bunge immer wieder beschäftigt hat, ist das der näherungsweisen Wahrheit („Alle Wissenschaften und Technologien benutzen ein intuitives Konzept der ungefähren Wahrheit [approximate truth] – zum Ärger der Logiker“ [39]): Fehlerrechnungen, Standard-Abweichungen usw. zeugen davon. Er versuchte eine Theorie zu entwickeln, welche die intuitive Halbwahrheit (bei logischer Falschheit) eines Satzes wie „Archimedes war ein spartanischer Philosoph“ mit dem Wahrheitswert ½ darstellen kann. Mit den Ergebnissen ist er jedoch unzufrieden geblieben.
Die Wahrheit ist konkret – aber eben nicht nur. Kommen wir zu den Glaubenswahrheiten.
Es folgt Teil 5 unserer Serie zur Philosophie Bunges
- ↑: Herrn Peter Baylens, weyland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch: nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottscheden, Professorn der Philosophie zu Leipzig […] Zweyter Theil, 1742, S. 792f (Art. Herakleotes, Anm. C.)
- ↑: Skirbekk, G (ed.): Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992
- ↑: Austin, JL: Wahrheit. In: Skirbekk: Wahrheitstheorien, S. 226-245
- ↑: Strawson, PF: Wahrheit. In: Skirbekk: Wahrheitstheorien, S. 246-275
- ↑: Heidegger, M: Vom Wesen der Wahrheit. Gesamtausgabe Bd. 34, Frankfurt/M. 1988, S. 75
- ↑: Motterlini M (ed.): For and Against Method. Including Lakatos’s Lectures on Scientific Method and the Lakatos-Feyerabend Correspondence. Chicago 1999, S. 249
- ↑: https://thehill.com/homenews/administration/389052-giuliani-reverses-trump-should-interview-with-mueller
- ↑: Bunge M: Emergence and Convergence. Qualitative Novelty and the Unity of Knowledge, Toronto 2003, Kap. 15
- ↑: Mahner M, M. Bunge: Philosophische Grundlagen der Biologie, Berlin u. a. 2000, S. 127
- ↑: Treatise Vol. 6, Ch. 12, Sec. 2.1.
- ↑: Treatise Vol. 6, Ch. 12, Sec. 1.1.1.
- ↑: Treatise Vol. 2, Ch. 8, Sec. 2.1.
- ↑: McFetridge I: Review [zu Treatise Vol. 1 und Vol. 2]. Mind, New Series, Vol. 87, No. 345 (Jan., 1978), pp. 144-146
- ↑: Philosophische Grundlagen der Biologie, Kap. 3.8.2.
- ↑: Treatise Vol. 6, Ch. 12.
- ↑: Between Two Worlds, Kap. 9
[editiert am 15.03.2019 (statt „ontologisch neutral“ korrekt: „semantisch neutral“)]
Bunges Ausführungen zum Wahrheitsbegriff in Bd. 6 des Treatise sind m.E. inkonsistent. Man kann nicht einerseits zu dem Schluss kommen: „Behauptungen, die noch nicht geprüft sind, haben keinen Wahrheitswert (sie sind weder wahr noch falsch). Sie sind nicht a priori Träger von Wahrheit…‟, wenn man andererseits „Wahrheit‟ im Sinne einer Korrespondenz von Aussage und äußerem Faktum definiert hat. Vor allem nicht, wenn man Aussagen dann noch als Äquivalenzklassen von Gehirnprozessen, die mit dem Denken der Aussage identisch sind, betrachtet. Demnach ist Wahrheit zunächst die Übereinstimmung zwischen dem Gehirnfaktum und dem externen Faktum. Diese Korrespondenz (oder Nichtkorrespondenz) ist sofort gegeben, sobald jemand eine Behauptung denkt (und auch wenn er sie zum ersten Mal denkt). Jedenfalls müsste das in Bunges realistischer Philosophie eigentlich so sein.
Bunge vermengt hier „wahr sein‟ und „wissen, dass etwas wahr ist‟. Natürlich hat Bunge recht damit, dass es uns nichts nützt, wenn wir nicht wissen, ob eine neue Hypothese wahr ist oder nicht. Und solange wir das nicht wissen, kann sie auch nicht als wahr akzeptiert werden. Gewiss geht es in der Wissenschaft darum, den Wahrheitswert von Aussagen durch empirische Tests herauszufinden. Wahrheit als Korrespondenz muss für Realisten aber schon gegeben sein oder nicht, auch wenn wir nichts darüber wissen.
Dank meines beständigen Nörgelns in der Sache hat Bunge das in Kap. 15 von „Emergence & Convergence‟ auch revidiert, wiewohl meinem Eindruck nach eher etwas halbherzig…
Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass es hie und da Probleme gibt. Andere benennen Sie ja in Abschnitt 6. Ändert aber nichts daran, dass sein philosophische System als Ganzes genial ist.
Ich benutze Ihre Anmerkung einfach mal, um freidrehend weiterzudenken. Ich bestehe nicht darauf, dass alles ausgereift ist. Es ist mehr so ein tastender Vorstoß ins Ungewisse (zumindest ins für mich Ungewisse).
Diese Behauptung fand ich intuitiv überzeugend. Sie hat mich als Erkenntnis überfallen, weil meine Assoziation dazu eine Analogie war. Wenn Sie ein Programm schreiben, dann tun Sie gut daran, sorgfältig zwischen „Null“ (Zahlenwert) und „empty“ (Variable noch nicht initialisiert, d. h. kein Wert zugewiesen) zu unterscheiden. Vielleicht wäre tatsächlich eine Formulierung treffender, die in etwa besagen will „Der Wahrheitswert einer ungeprüften Behauptung ist noch unbekannt“ – die Variable ist schon initialisiert, aber noch nicht abgerufen. Aber das klingt schon wieder zu eingängig, um noch als neu durchzugehen ;-).
Für mich liegt der Schritt vom Konkreten zum Abstrakten, vom Faktum zum Konstrukt in der Äquivalenzklasse. Gedanken und Gehirnprozesse können nicht in dem Sinn identisch sein, als dass gleiche Gedanken in verschiedenen Menschen gleiche Hirnprozesse bedeuten. Beispiel 1. Gedanken haben immer auch eine emotionale Qualität. Der gleiche Gedanke, „meine Mutter kommt gleich“, mag bei dem einen Freude, bei dem anderen Entsetzen, beim dritten Gähnen hervorrufen – die Aktivierungsmuster im Gehirn werden jeweils ganz verschieden sein. Aber sie gehören in eine Äquivalenzklasse. Das fMRI kann das Rauschen der Synapsen visualisieren, aber nicht die Bedeutung, die Semantik, so wie man aus dem Klappern der Schreibmaschinentasten nicht den Text rekonstruieren kann. Um das Aufleuchten der Hirnrindenareale zu deuten, wird immer der Kontext nötig sein, der sich nicht aus den Hirnscans ableiten lässt. IMHO. Beispiel 2. Soweit mein Eindruck reicht, sind die Aktivierungsmuster der Gehirne, auch wenn es sich um Standardaufgaben handelt, interindividuell sehr verschieden. Die charakteristischen Bilder, die dazu publiziert werden, sind statistische Mittelwerte.
„Wahrheit“ scheint mir eher eine semantische Kategorie zu sein, kein objektiver Wert „an sich“. Ich glaube mit Bunge, dass sie prinzipiell relativ ist und auch veralten kann, jedenfalls soweit sie mit der Korrespondenztheorie zu greifen ist. Ist die Erde rund? Ja, schon – in gewisser Weise. Für Archimedes hatte diese Proposition einen Wahrheitswert von 1, aber für uns stimmt das nur noch ganz ungefähr. Auch retrospektiv kann nicht festgelegt werden, was der Wahrheitswert a priori gewesen ist, jedenfalls nicht absolut. Die Zuweisung eines „expliziten Wahrheitswerts“, was immer man jetzt damit meint, ist eine epistemologische Operation. Und auch für die Kohärenztheorie (für Abstracta) würde ich „Prüfung“ als definiens hinnehmen, nur dass diese Prüfung dann für Trivialitäten halt schnell erledigt ist.
Vielleicht hatte Bunge mit dieser Überlegung auch im Sinn, die Identitäts- oder Redundanztheorie der Wahrheit (z. B. Ramsey) loszuwerden. Vgl Chasing Reality, S. 260; da nimmt er auch als Beispiel die Gestalt der Erde.
Wie gesagt, das ist alles für mich unaufgeklärtes Gelände, und vielleicht gibt es Widersprüche, die ich bisher nicht gesehen habe.
Es gibt durchaus Leute, die das so sehen. Das nennt man semantischen Antirealismus. Man kann das schon machen, nur eben nicht in einer konsequent realistischen Philosophie, wie sie Bunge vertritt.
Letztlich kann er halt nicht einmal definieren: (faktische) Wahrheit = Korrespondenz (ob total oder in Bezug auf bestimmte Aspekte, also partiell, spielt keine Rolle). Und ein andermal unterstellen:
(faktische) Wahrheit = erkannte Korrespondenz.
Für die Redundanztheorie hat das keine Konsequenzen, denn die ist unabhängig davon unhaltbar: Wenn ich p äußere, kann ich ja nicht voraussetzen, dass p wahr ist. Das muss natürlich überprüft werden. Der Test macht p aber nicht wahr, sondern weist seine Wahrheit (oder Falschheit) nach. Analogie: Eine Person x, die eine andere Person y umgebracht hat, ist realiter ein Mörder, auch wenn ein Gericht ihr das nicht nachweisen kann.
Konsequenterweise müsste man einen solchen semantisch antirealistischen Ansatz auch zu einem ontologisch antirealistischen ausbauen: Ein Objekt existiert überhaupt nur dann, wenn wir wissen, dass es existiert. Baktieren gibt es demnach erst seit dem 19. Jahrhundert. Man sieht hier schnell, wohin das führt…
Während Bunge noch in Dictionary of Philosophy bei der faktischen Wahrheit zwischen der semantischen und der ontologischen unterscheidet (die semantische hatte offenbar etwas Suggestives für ihn), formuliert er in Emergence and Convergence in der Tat:
Die Wahrheit mag damit konsequent realistisch aufgefasst sein, aber sie bleibt folgenlos. Für Gottsched war die Autorität, die über das Licht entschied, die Kirche (selbstverständlich: seine eigene).
Vielleicht ist er aber auch „nur“ ein Totschläger, oder es hat sich um eine fahrlässige Tötung gehandelt. Wir wissen es nicht. Die Kriterien dafür, wie auch die Nachweismethoden, haben sich im Laufe der Jahrtausende sehr gewandelt. Die dichotomen Beispiele haben natürlich etwas Verführerisches, aber sie können nicht die ganze Breite der Wirklichkeit illustrieren. Kehren wir noch einmal zurück zur Form der Erde. Selbst die „flache Erde“ ist eine Abstraktion, eine gedankliche Leistung mit einem gewissen Wahrheitsgehalt, denn auf den ersten Blick gibt es auch Berge und Täler.
Es scheint also kein Widerspruch darin zu liegen, dass die Wahrheit einerseits objektiv ist, andererseits aber nur in einem Bezugsrahmen gültig (zumindest nicht für alle Wahrheiten).
Mit dieser Anekdote hat sich Bruno Latour unsterblich gemacht. Aber vor dem 19. Jahrhundert gab es überhaupt keine Wahrheit über Bakterien, weil bis dahin der Gedanke an sie nicht gedacht worden war. Wenn Behauptungen die Träger von Wahrheit sind.