„MECFS“ – sind die Symptome spezifisch?

Nachdem wir uns in Teil 1 mit der Nomenklatur der Erkrankung und in Teil 2 mit der Frage nach einer möglichen Psychogenese beschäftigt haben, wenden wir uns nun dem klinischen Erscheinungsbild zu.

PEM

Im leitlinienähnlichen [1] D-A-CH-Konsensus steht der Satz, durch Fettdruck hervorgehoben: „In der Abgrenzung von anderen Erkrankungen kommt dem Leitsymptom von ME/CFS, der postexertionellen Malaise (PEM), eine entscheidende Bedeutung zu. Sie ist für die Diagnosestellung zwingend erforderlich“. Es handele sich um eine „belastungsinduzierte, unverhältnismäßige Zustandsverschlechterung“, und jeder „‚Crash'“ berge „das potenzielle Risiko einer permanenten Verschlechterung des Gesamtzustandes.“

Auffällig ist die Wahllosigkeit dieser „postexertionellen Malaise“ (exemplarisch: Stussman et al 2020, hier). Es gibt buchstäblich nichts, was nicht dazu gehören kann; maßgeblich für die Diagnose ist allein die Auffassung des Patienten. PEM ist unvorhersehbar, es kann ausgelöst werden durch jeglichen banalen Reiz, die Latenz kann ganz unterschiedlich sein, und es ist auch in der Dauer unvorhersehbar (bis zu Monaten). Wenn ein Patient also sagt, es geht ihm schlecht, weil er vor ein paar Tagen bis Wochen einmal schlecht geschlafen hat (einer der Trigger: „decreased sleep quantity/quality“), dann ist der Beweis eines „PEM“ erbracht. Aber für ein solches Symptom ist keine organische Basis mehr vorstellbar. Von einer Patientin hieß es kürzlich in der Presse, dass „bereits die reine Anwesenheit einer anderen Person ihren Zustand verschlechtert“. Wie soll man sich das erklären, Mitochondrien hin oder her? (vgl. #364). Tiefes Misstrauen muss auch die Fluktuation, die Volatilität der Symptomatik erwecken. Die Grundvoraussetzung dafür, ein Phänomen wissenschaftlich zu untersuchen, ist seine Reproduzierbarkeit und seine Abgrenzbarkeit (was gehört nicht mehr dazu). Die „MECFS“-Literatur lässt diesbezüglich wenig Anstrengung erkennen. Ihr Ziel scheint die Hypergeneralisierung zu sein.

Es ist keine good clinical practice, alle Klagen eines Patienten ohne jedes Bemühen um Präzisierung hinzunehmen. Wenn jemand das Sprechzimmer mit den Worten betritt, „ich kann nicht laufen!“, kann man das wörtlich nehmen?

In der klinischen Forschung beschränkt man sich (notwendigerweise) auf einige wenige Kreislaufparameter, biochemische Indikatoren oder Muskelkraftmessungen, um den Nachweis der zunehmenden Erschöpfung beim „MECFS“ zu führen, welche vom Trainingseffekt beim Nichterkrankten zu unterscheiden sei. Doch es ist schon von vornherein zweifelhaft, ob die so gefundenen Ergebnisse für die ganze Bandbreite des PEM repräsentativ sein können. Die Maximalvariante der Zustandsverschlechterung durch ein emotionales Ereignis ist der Voodoo-Tod; er würde damit sicherlich nicht abgebildet. Und selbst mit diesen engen Randbedingungen (Auslösung durch wiederholte, standardisierte körperliche Anstrengung) lässt sich weder die behauptete Spezifität des Kriteriums sichern (IQWiG-Bericht 2023, hier, zit. in #17) noch überhaupt seine Konsistenz (vgl. nature communications 2025, hier). Die „kanadischen Konsenskriterien“ (Charité, hier) beruhen auf einer Selbstauskunft mittels eines Fragebogens, den jeder vorab herunterladen kann. Beim ersten Anblick fragt man sich, wie die Items ein „MECFS“ von einer mittelschweren bis schweren Depression trennen könnten, und der Frage, ob sie nach testtheoretischen Kriterien validiert sind, sind wir nicht nachgegangen. Auf einer Fachtagung äußerte kürzlich eine Expertin für Autismus ihr Bedauern, dass ein Fragebogen, auf den man für die Autismus-Diagnostik große Hoffnungen gesetzt hatte, dadurch wertlos geworden ist, dass er inzwischen überall verfügbar ist.

Es gibt weitere Unklarheiten grundsätzlicher Natur. Wenn ein Untrainierter einen 10000-m-Lauf macht, dann ist er hinterher deutlich länger erschöpft als jemand, der das geübt hat. Bei jeder sonstigen Art von Krankheit – und Gesundheit – ist ein angepasstes Training sinnvoll, andernfalls müsste man Physiotherapie abschaffen. Es gibt eine Menge Untersuchungen (oder zumindest plausible physiologische Vorstellungen dazu), warum das so ist. Das gilt für das neuromuskuläre System (Rekrutierung) genauso wie für das zentralnervöse (Plastizität), sofern man nur gewisse Grenzen einhält. Bestenfalls ist das Training nutzlos, wenn nicht mehr genügend Potential für eine Verbesserung zur Verfügung steht, oder es gibt keinen ausreichenden Transfer von der Übungssituation in die Aktivitäten des täglichen Lebens (wenn ich jeden Tag lange Kreuzworträtsel löse, kann ich hinterher besser Kreuzworträtsel lösen).

Hingegen kann schon Zähneputzen bei „MECFS“ zu wochenlanger Bettruhe und der Notwendigkeit parenteraler Ernährung führen (mecsf.de, hier). Aber die Logik zwingt dazu anzunehmen, dass das nicht fakultativ ist, sondern obligatorisch, denn es handelt sich bei der „Verschlechterung schon durch leichte Anstrengung“ um einen Circulus vitiosus, der unausweichlich zu Siechtum und Tod führt, und jeder Betroffene muss im Krankheitsverlauf an diesem Punkt vorbei kommen (sofern er nicht durch die Gnade der Volatilität gerettet wird).

Irgendetwas kann da nicht stimmen.

Todesfälle

Im D-A-CH-Konsensus [1] lautet er erste Satz: „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere, chronische Multisystemerkrankung, die … in sehr schweren Fällen sogar zum Tod führen kann [1–3].“ Doch wenn man sich überlegt, dass die Diagnose nur dann die führende sein kann, wenn keine andere schwerwiegende gestellt wird, wenn die Organsysteme also per definitionem gesund sind, dann kann die Letalität hier nur verblüffen. Man wüsste gerne Näheres, doch hier lässt der Konsensus im Stich. Die Quellen „[1-3]“ sind nicht der Verweis auf Studien, sondern auf weitere Konsenspapiere und Reviews. Es gilt also, sich durch überlagernde Textschichten zu quälen, wie bei der Suche nach dem Urtext der Bibel. Doch die dort angeführten Studien geben dazu nichts Verlässliches her außer einer erhöhten Suizidalität. Es gibt ihn nicht, den Urtext der Bibel.

Doch tatsächlich kommen katastrophale Verläufe vor. In den Kasuistiken oder kleinen Fallserien in der Fachliteratur spielt ein „PEM“ häufig nur eine ganz untergeordnete Rolle und lässt sich allenfalls indirekt aus dem Umstand erschließen, dass es den Patienten über die Zeit immer schlechter ging. Im Februar 2025 ging der tragische Fall von Maeve durch die britische Presse, die mit 27 Jahren unter Umständen gestorben ist, die man kaum anders denn als passiven Suizid deuten kann (z. B. #115). Aus ihrem Tagebuch wird zitiert: „Mama hat gesagt, ich soll den ganzen Tag im Bett bleiben und ausruhen“ (hier). Wir wissen nicht, wie ihr Leben weiter gegangen wäre, wenn die Mutter gesagt hätte „das geht vorbei, bestimmt kannst du gleich wieder aufstehen, versuchs mal!“ Ähnliche Schilderungen in der Laienpresse (z. B. Suzy Weiss, „Hurts So Good“ hier) können tiefgründiger sein und lassen mehr von der Psychodynamik erahnen. Auch bei z. B. dissoziierten Bewegungsstörungen/Gangstörungen gibt es üble, invalidisierende Verläufe, aber niemand stellt die Psychogenese infrage (bei ihnen ist, nebenbei, ebenso die Inkonstanz über die Zeit, die Volatilität, ein wesentliches Charakteristikum [2]). Die Gratifikation lässt mit der Zeit nach, und sie können die Tendenz haben sich auszuweiten. Wir bezweifeln, dass ein bloßes „MECFS“ eine allein hinreichende Ursache für eine parenterale Ernährung sein kann. Gelegentlich sieht man Über- und Fehlbehandlungen, die ihrerseits den Verlauf langfristig verschlimmern, auch bei ursprünglich funktionellen Störungen. Sie schaffen sozusagen ihr Substrat, wie z. B. die wiederholten Zahnoperationen beim idiopathischen Gesichtsschmerz. Der Klassiker ist der intubierte und beatmete Intensivpatient, dessen „Status“ funktioneller Anfälle durchbrochen werden musste. Solche Kasuistiken überschreiten mitunter die Grenzen der Fachgebiete: Der Psychiater hat kaum Kontakt mit Patienten, die z. B. ein Münchhausen-Syndrom haben.

Fazit: Die Symptomatik ist unspezifisch. Sie kann schwerwiegend sein, doch der prominente Hinweis auf die Todesfälle im Eingangssatz des D-A-CH-Konsensus, der sie als direkte Folge eines krankheitsbedingten Organversagens unterstellt, ist Schaumschlägerei für die Öffentlichkeit.


  1. : https://link.springer.com/article/10.1007/s00508-024-02372-y. Es ist keine bei der AWMF registrierte Leitlinie. Die Literaturrecherche ist nicht beschrieben und gemessen am Ergebnis wohl kaum systematisch zu nennen. Befunde und Einschätzungen, die nicht ins Narrativ passen, werden kaum erwähnt, und wenn, dann höchstens polemisch gestreift, aber nicht diskutiert. Ein Beispiel für die Verlässlichkeit der Angaben. Es findet sich der Satz „Allerdings kann eine frühzeitige und korrekte Diagnosestellung von ME/CFS sowie eine fundierte Aufklärung die Aussichten für die Erkrankten verbessern [34].“ Eine solche Behauptung wäre ohne weiteres empiriefähig. Der Beleg ist jedoch keine peer-reviewed Publikation, nicht einmal eine Studie, sondern ein Magazinbeitrag. Dort liest man, „that delayed diagnosis may be a risk factor for poor prognosis.¹¹“ Die wiederum dafür aufgeführte Quelle ist https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/215827 von 2003, eine populationsbasierte Studie. Sie zeigt Inzidenzen, aber keine Verläufe, und sie präsentiert keine Daten, die irgendeinen Zusammenhang zwischen Diagnosestellung und Prognose abbilden. Überdies dürfte sie nach Ansicht des D-A-CH-Konsens selbst kaum noch verwertbar sein, denn sie benutzt die CFS-Kriterien von 1994 und hat „PEM“ nicht in der Krankheitsdefinition (S. S106: „veraltet und wurden daher ausgeschlossen“). Ein Déjà-vu: die Spur, die sich im Sand verliert.
  2. : „Als Hauptmerkmal funktioneller Bewegungsstörungen ist somit eine situationsabhängige Variabilität zu erkennen (als „Inkonsistenz“ bezeichnet), die nicht mit anderen, aus strukturpathologischen Erkrankungen bekannten Symptomeigenschaften zu vereinen ist (sog. „Inkongruenz“).“ Popkirov S et al: Funktionelle Bewegungsstörungen verstehen und verständlich machen. Nervenarzt 2024 · 95:499–506 https://doi.org/10.1007/s00115-024-01619-3

3 Gedanken zu „„MECFS“ – sind die Symptome spezifisch?“

  1. Hallo alle,

    Deutschland hat nun auch einen eigenen „me“cfs-Todesfall: wieder handelt es sich um eine junge Frau.

    Sarah Buckel verabschiedete sich am 5. Juli 2025 um 12.35 Uhr dramatisch von ihrer Gemeinde und Followern, unter dem u.a. hashtag euthanasia.

    https://x.com/sarah_buckel/status/1941445869754253664

    Mein erster Gedanke nach einer Schrecksekunde war Pentobarbital Schweiz, aber so klar und übersichtlich ist es wie üblich nicht. Außer der knappen Selbstauskunft bzw Suizidankündigung findet man dazu nichts.

    Ich kann es mir nicht vorstellen, dass in der deutschen rechtlichen Grauzone des assistierten Suizides sich ein Arzt bei dieser jungen Frau bereit fand, ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen.

    Er wüsste ja nicht einmal, wo er ihren Fall einordnen darf – für psychiatrische Erkrankungen gelten höhere bzw andere Hürden.

    Hier kurz zusammengefasst:
    https://www.tagesschau.de/wissen/grauzone-assistierter-suizid-100.html

    Ob es klug ist, am organischen Ursprung festzuhalten, ist die nächste Frage. Wie würde hier ein Gericht urteilen?

    Bei einer Krankheit, die noch nicht erforscht ist, für die es weder Therapien noch Diagnostik gibt?
    Auf welcher Rechtsgrundlage soll hier ein Sterbewillen gebildet und akzeptiert werden?

    Tatsache ist aber wohl, dass Sarah tot ist. Über die Todesumstände und -ursache erfährt man nichts, außer den inoffiziellen Auskünften.

    Die Mainstreampresselandschaft hat sich der Sache -natürlich anklagend- auch schon angenommen und fungiert wie üblich als Sprachrohr der aktivistischen Betroffenenverbände.

    https://taz.de/talkshow/!6100636/

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  2. Ein weiterer solcher TodesFall hatte es in die Sendung „Nachtcafé“ geschafft und wird von der Schwester geschildert:

    https://www.ardmediathek.de/video/nachtcafe/vom-umgang-mit-schmerzen/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIxMzUxNzE

    Wer sich nicht durch die ganze Sendung zappen will, auf fb gibts den Ausschnitt:

    https://www.facebook.com/watch/?v=834013502126659

    „Birte Viermanns Schwester Silja erhält mit Anfang 40 die Diagnose ME/CFS: Myalgische Enzephalomyelitis. Sie begleitet ihre Schwester in der Pflege, aber die Erkrankung nahm Silja jede Lebensfreude. Am 13. Juni 2022 entscheidet sich Silja für den assistierten Suizid.
    Das ausführliche Gespräch mit Birte Viermann findet Ihr in der ARD Mediathek:“

    Da wurde der assistierte Suizid also realisiert. Habe jetzt allerdings nur reingehört, weiß nicht, ob das in D stattfand.

    Erstaunlich, dass das mehrfach durchgezogen werden kann. Eine andere Frau hatte ja vergeblich versucht, auf eine Palliativstation zu gelangen, da sie deren Kriterien nicht erfüllte. Und hier zweimal der Suizid durch ärztliche Hilfe? Kann ich schwer glauben.

    Geschlecht: alle weiblich

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