Lesereise 5: Religion

Teil 5 unserer Serie zur Philosophie Bunges

„Verbindung von Religion und Ethik“

Nach dem Vorgesagten wird man von Bunge keine Verteidigung der Religion erwarten, und darin wird man nicht enttäuscht. Manche Gedanken sind natürlich mehr oder weniger atheistisches Gemeingut, aber dennoch hat er Bleibendes zu sagen. Ein kurzer Abriss findet sich bereits in Treatise (Vol. 6, eingeordnet ins Kapitel 14, „Kinds of Knowledge“, Abschnitt 4, „Illusionary Knowledge“, Unterabschnitt 4.2., „Ideology“). Ausführlicher ist das Kapitel 6, „Materialismus, Wissenschaft und Religion“ in der Natur der Dinge. Der „populäre Irrtum“ einer Verbindung zwischen Religion und Ethik, dieser zentrale Punkt der heutigen Gottesbeweise, wird in Abschnitt 5.5 regelrecht zertrümmert. Auf gedrängtem Raum kommen Bunge/Mahner fast ohne Beispiele aus; sie argumentieren nahezu ausschließlich aus der inneren Widersprüchlichkeit der „gottgegebenen“ Ethik heraus. Sie scheitert als Gottesgebot:

Würde Gott gebieten, wir sollten kleine Kinder foltern, dann wäre das Foltern kleiner Kinder dadurch moralisch richtig. Warum? Weil der Gottesgebotstheorie zufolge der Ausdruck ,moralisch richtig‘ nichts anderes bedeutet als „von Gott geboten“. Wer nun der Versuchung unterliegt, hier einzuwenden, Gott würde niemals etwas so Unmoralisches oder Böses gebieten wie das Foltern kleiner Kinder, der lehnt damit implizit die Gottesgebotstheorie ab. Denn er sagt nichts anderes, als dass Recht und Unrecht offenbar unabhängig von Gott sind.

Und sie scheitert als Naturrecht (entweder hätte Gott dann auch eine andere Natur schaffen können, womit er wieder den Schwarzen Peter hätte, oder er ist bestenfalls nur der kosmische Sanktionator):

Warum soll Homosexualität wider die Natur sein, das Klavierspielen oder das Bungee-Jumping aber nicht? Müssen wir die Malaria in Afrika nicht fördern statt bekämpfen, weil sie dort natürlich ist? Ist nicht die gesamte Medizin unnatürlich? […] Je mehr Beispiele man betrachtet, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass ein guter Teil der Ethik eher dazu dient, von der Natur wegzukommen, als einem vermeintlichen Naturrecht zu folgen.

„Getrennte Magisterien“ und die „Vereinbarkeit der Religion mit der Wissenschaft“

Die „Konfliktthese“ sei die historiographische Annahme eines intrinsischen Konflikts zwischen Religion und Wissenschaft, diese sei aber natürlich längst „von allen Wissenschaftshistorikern aufgegeben worden“ (deklariert die englische Wikipedia [40]). – Sicherlich zusammen mit dem „naiven Szientismus des 19. Jahrhunderts“, der „alles in Zentimeter und Sekunden“ messen wolle und noch immer nicht einsehe, dass sich die Wissenschaft auf „schwankendem Grund“ bewege, was doch schon seit Kant klar sein sollte. [41] So seien die im angelsächsischen Raum bedeutendsten Vertreter der Konfliktthese, John William Draper und Andrew Dickson White, inzwischen umfassend und auf der ganzen Linie widerlegt (wie solche Widerlegungen aussehen, haben wir übrigens in unserem Blog schon einmal gestreift).

Zweifellos hat der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft in der Gegenwart erheblich an Schärfe verloren, verglichen mit der Vergangenheit bis hinein ins späte 19. Jahrhundert. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Religion würde sich lächerlich machen, wenn sie sich noch immer gegen die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, engagieren würde. Ein Anpassungsprozess hat stattgefunden: Die Ansichten von Thomas Paine über die Bibel, mit denen er seine Zeitgenossen mehr noch als mit seinem Unitarismus schockierte, könnten heute von einem Erzbischof vertreten werden [42]. Die zeitgemäße Variante des religionsfreundlichen Burgfriedens ist die Lehre von den „getrennten Reichen“, beispielhaft und beredt von Stephen Jay Gould verkündet (non-overlapping magisteria, NOMA). Damit gibt es aber ein Problem: Wenn diese „Magisterien“ keine Berührungspunkte mehr miteinander haben, dann haben natürlich auch ihre „Befunde“ keine Berührungspunkte. Wie Gott dann auf die Welt einwirken soll, zum Beispiel mit dem intelligent design oder auch „nur“ einer creatio continua, ist ein mindestens ebenso großes Mysterium wie die unbefleckte Empfängnis.

Voller Dankbarkeit wurde diese Lehre vom Papst aufgegriffen: „Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.“ (hier). In Deutschland ist man auf das sog. „Böckenförde-Diktum“ stolz, welches das Kunststück fertig bringt, der Religion einen staatstragenden Platz einzuräumen, ohne sie beim Namen zu nennen.

Ich will nicht versäumen, eine weitere fruchtbringende Anwendung dieser Lehre vorzustellen: Der „Beidseitismus“ (bothsideism), die falsche Ausgewogenheit, die wir kürzlich in unserem Blog diskutiert haben (hier). Der Apologet Jeffrey Burton Russell (wir kennen ihn von seinem „Debunking“ des Flacherde-Mythos [hier]) schreibt, dass die Theologen die Darwinsche Evolutionstheorie bereitwillig akzeptiert hätten (dabei muss ihm Bischof Wilberforce irgendwie entgangen sein), doch:

Im späten 19. Jahrhundert … zogen es T. H. Huxley (1825-1895) und andere vor, dem Christentum den Krieg zu erklären. In den 1920er Jahren dann erklärten George McCready Price und seine Anhänger dem Darwinismus den Krieg, indem sie sich für die wörtliche Interpretation der Genesis aussprachen und den Junge-Erde-Kreationismus hervorbrachten. Der Lärm, den die Extremisten beider Seiten erzeugten, hat seitdem die Tatsache verdunkelt, dass die meisten Christen die Evolution und das Christentum für vereinbar halten. [43]

Vielleicht haben Huxley und McCready Price sogar den gleichen Abstand vom Mainstream des Christentums („extremists on both sides“), aber gewiss nicht den gleichen Abstand zur Realität. Daraus folgt zwangsläufig, dass das Christentum in der Russellschen Fassung sich weit von der Realität entfernt hat.

Dies war die Vorrede, nun zur Sache. Bunge/Mahner setzen sich ausführlich und systematisch mit der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion auseinander (Kapitel 6 der Natur der Dinge). Die Bilanz ist verheerend. Wenn die Religion wirklich auf alle weltlichen Ansprüche verzichten wollte, dann müsste sie dazu eine für den Gläubigen kaum noch akzeptable Farb- und Folgenlosigkeit annehmen. Aus den zahlreichen Unverträglichkeiten sei noch herausgegriffen: „Während die Wissenschaften die Religionen kennen und erklären müssen, brauchen die Religionen nichts über die Wissenschaften zu wissen.“ [44] Fazit: „Die Unvereinbarkeit zwischen Wissenschaft und Religion besteht heute weniger in Konflikten bezüglich konkreter Tatsachenaussagen über die Welt als vielmehr in den philosophischen Voraussetzungen der beiden Bereiche.“ [45]

Der Materialismus sei verwerflich, weil er den Kosmos zu einer toten, kalten Wüste mache, bevölkert von Zombies. Er könne die Liebe nicht erklären, heißt es häufiger in der apologetischen Vulgärliteratur. (Gewöhnlich wird diese „Feststellung“ von zahlreichen Invektiven begleitet, die Rückschlüsse auf die Gemütsverfassung der jeweiligen Autoren zulassen. Sie hat mit Liebe nicht viel zu tun.) Und es ist schlicht falsch. Noch einmal Jeffrey Burton Russell: „Der Atheismus ist unmusikalisch, farbenblind, sogar widernatürlich [nature-challenged][46] genannt worden. Der Atheismus ist wie das menschliche Auge, das nur einen winzigen Anteil des elektromagnetischen Spektrums sieht. Für Atheisten ist der Rest des Spektrums einfach nicht vorhanden.“ [47] – Nur: 2000 Jahre Theologie haben die Existenz von Röntgenstrahlen nicht aufgedeckt. Um den Infrarotanteil des Spektrums zu sehen, genügt ein Nachtsichtgerät (Ergebnis der Wissenschaft), doch Gott ist auf die Kirchenfenster nur aufgemalt.

Schon gar nicht damit [mit dem Szientismus, Verf.] verbunden ist die von antiwissenschaftlich eingestellten Personen oft gemachte oder implizierte Behauptung, dass etwas wegerklärt oder entwertet ist, sobald man es wissenschaftlich erklärt hat. Auch wenn völlig erklärt sein sollte, wie und warum ich jemanden liebe oder hasse, warum ich lieber Rotwein trinke als Bier oder was in mir vorgeht, wenn ich Musik höre: All dies ändert nichts an der Qualität oder Intensität dieser Gefühle oder Empfindungen. [48]

Es folgt Teil 6 unserer Serie zur Philosophie Bunges


  1. : https://en.wikipedia.org/wiki/Conflict_thesis. Bereits eine stichprobenartige Überprüfung der Quellenlage sollte nachdenklich stimmen. Beispiel 1. „The Galileo affair is one of the few examples commonly used by advocates of the conflict thesis.“ So etwas kann nur schreiben, wer auf die Unwilligkeit des Lesers vertraut, sich mit der Wissenschaftsgeschichte bekannt zu machen. Beispiel 2. Von den beiden Finocchiaro-Zitaten, die ich versucht habe zu verifizieren, ist eines krass überinterpretiert, und das andere an der angegebenen Stelle nicht zu finden. Danach habe ich aufgegeben.
  2. : Kimmerle G: Begriffene Unwahrheit. Kopernikus, Kant und der methodische Atheismus der Naturwissenschaften. Stuttgart 2018, Vorwort
  3. : Bertrand Russell, The Fate of Thomas Paine, in Why I Am Not A Christian, S. 147
  4. : Russell JB: Exposing Myths About Christianity, Illinois 2012, S. 164f
  5. : Natur der Dinge, Kap. 6.4.1.3.
  6. : Natur der Dinge, Kap. 6.5.
  7. : In einem gewissen, von Russell jedoch nicht intendierten Sinne ist das korrekt: Die Rationalität ist nicht der Standardmodus der menschlichen Gehirns. Wolpert L: The Unnatural Nature of Science, London 1993.
  8. : Russell JB: Exposing Myths, S. 37
  9. : Natur der Dinge, Kap. 6.2.

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