„MECFS“ – was heißt das?

Eine Krankheit namens „MECFS“ bewegt die Öffentlichkeit. Der Gesundheitsminister der vorherigen Regierung engagiert sich für ihre Erforschung, es gibt zahlreiche erschreckende Fallberichte, und die Skeptiker-Organisation GWUP stellt sich auf die Seite der Betroffenen, sagt sie. Weltweit seien 17 Millionen Menschen erkrankt, heißt es. Von Teilen der Medizin werde sie noch immer als psychosomatisch (übersetze: eingebildet) verkannt, dabei gebe es ein hochcharakteristisches Symptom, die „PEM“ (postexertionale Malaise), welche ausschließlich bei dieser Erkrankung vorkomme, und längst wäre eine Fülle von Biomarkern etabliert. Es gibt eine aktive Unterstützergemeinde im Internet, in großen Tageszeitungen erscheinen Interviews und Feulletons dazu, und es gibt öffentliche Demonstrationen Betroffener. Eine jüngste Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie DGN (hier), die die interdisziplinäre Erforschung fordert, wird scharf angegriffen (z. B. hier), weil sie auf psychosomatische Aspekte hinweist.

Doch es bleiben zahlreiche Fragen offen. Wir beginnen mit dem Namen der Erkrankung. Das Akronym „MECFS“ heißt in Langform auf deutsch: „myalgische Enzephalomyelitis / chronisches Müdigkeitssyndrom“. „Myalgisch“ bedeutet: mit Muskelschmerzen einhergehend. „Enzephalomyelitis“ bedeutet „Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks“. Enzephalitiden und Myelitiden sind schwerwiegende, zumeist akute, häufig lebensbedrohliche Erkrankungen. Nach ihrer Ursache lassen sie sich grob einteilen in erregerbedingte und in autoimmunologische Entzündungen.

Die Liste der möglichen Symptome ist lang. Bei einer Enzephalitis beispielsweise erwartet man:

  • Bewusstseinstrübungen (bis hin zum Koma), nahezu obligat; Verwirrtheit, Halluzinationen
  • Sogenannte Herdsymptome: Lähmungen, bestimmte Arten von Sprachstörungen (Aphasien), Augenbewegungsstörungen, Sprechstörungen (Dysarthrien), Schluckstörungen
  • epileptische Anfälle
  • demgegenüber treten Schwindel, Ohnmacht (Synkopen), allgemeine Schwäche, Herzklopfen u. ä. zurück, weil ganz unspezifisch und selten bedrohlich. Sie allein begründen keinen Enzephalitisverdacht.

Bei einer Entzündung des Rückenmarks treten auf:

  • Lähmungen, insbesondere Querschnittsyndrome
  • Empfindungsstörungen in charakteristischer Verteilung
  • schwere Blasen-Mastdarmstörungen, die z. B. eine Katheterisierung erforderlich machen können.

Hinzu kommen quasi obligatorisch pathologische Befunde:

  • in der Bildgebung, insbesondere im MRT
  • im Nervenwasser (Zellzahlerhöhungen, Eiweißverschiebungen und -vermehrungen, Antikörpertiter u. a.)

Zusammenfassend: ohne charakteristische Symptome und in Abwesenheit der apparativen Befunde kann man nicht von Enzephalitis oder Myelitis sprechen. Doch alle diese Symptome und Befunde (mit Ausnahme der unspezifischen) werden bei den „MECFS“-Kranken regelhaft vermisst. (Man vergleiche die Symptomaufzählung z. B. auf mecfs.de, hier)[1]. Muskelschmerzen dagegen würde man bei einer reinen Enzephalomyelitis, ohne Beteiligung der Hirnhäute, eher nicht erwarten.

Die Benennung wurde zuerst für eine (verglichen mit der Poliomyelitis) gutartige lokale Epidemie in Island 1948/49 verwendet [2], deren Akutsymptomatik aber doch deutlich anders als in den heute so bezeichneten Fällen gewesen ist. Ähnliches gilt für den sog. Royal-Free-Ausbruch 1955, auf den wir später noch einmal zurückkommen müssen. Die dortige Erkrankung hieß zunächst benigne (gutartig), weil niemand gestorben war und keine pathologischen Befunde zu erheben gewesen waren, aber mit diesem Etikett waren die Patienten nicht einverstanden, es wurde fallen gelassen und es blieb bei der „myalgischen Enzephalomyelitis“. Schon die Bezeichung der Krankheit war ein Triumph des Verlangens nach organischer Ursache über die Wissenschaft [3].

Wie mit dieser kognitiven Dissonanz umgehen? 2015 wurde der Begriff „Systemic Exertion Intolerance Disease“ (SEID) eingeführt, der auf die „Enzephalomyelitis“ verzichtet, sozusagen der Versuch, wenigstens den Namen ehrlich zu machen. Er ist gescheitert; die Bezeichnung hat sich nicht durchgesetzt. Das britische NICE (National Institute for Health and Care Excellence) findet eine salomonische – oder vielmehr jesuitische – Lösung. Es nennt die Erkrankung

Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome

„Enzephalopathie“ bedeutet einfach jedwede Hirnerkrankung. Doch Tradition ist in der Medizin noch nie ein ausreichender Grund gewesen, eine Terminologie ehrfürchtig beizubehalten. Was hat sie gehindert, die „Enzephalitis“ einfach zu streichen? Wie kommt es, dass diese Namensgebung dennoch überlebt? „Viele Patienten und Ärzte bevorzugen den Begriff, da er die Schwere der Symptomatik besser abbildet als CFS“ (mecfs.de, hier).


  1. : Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS lehnt übrigens Übersetzungen des Begriffs „fatigue“ (Schwäche, Müdigkeit) als „bagatellisierend und irreführend“ ab (hier). Auch alle denkbaren Übersetzungen von „brain fog“ (Konzentrationsstörung) klingen irgendwie gewöhnlich.
  2. : Sigurdsson B et al:A disease epidemic in Iceland simulating poliomyelitis. Am J Hyg 1950;52:222–238; Lang CJG: Fragwürdiges Akronym. Nervenarzt 2023;94:734–73
  3. : „The disease label alone was a triumph of the longing for organicity over science.“ Shorter E: From Paralysis to Fatigue. A History of Psychosomatic Illness in the Modern Era (Free Press, New York 1992)

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