- Vorbemerkung
Nachdem im ersten Teil dieses Beitrags eine grundlegende Lese- und Verständnishilfe für die Auseinandersetzung mit der Strafsache Rockel-Loenhoff geliefert wurde, geht es jetzt in die Sache selbst, also an die Einzelheiten des Urteils vom 1. Oktober 2014.
Auf den ersten Blick fällt auf, dass ein solches Strafurteil lange Zeit nicht direkt dem klassischen Prüfungsschema „Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld“ folgt, das sich aus dem „Straftatsystem“ ergibt. Ein Urteil in einer Strafsache hat als Ergebnis nicht nur die Aussage: ein Delinquent ist strafbar oder nicht. Es muss sich auch mit der Persönlichkeit des oder der Angeklagten, mit auffälligen früheren Verhaltensweisen, aber auch mit dem Nachtatverhalten auseinandersetzen, weil davon beispielsweise die Strafzumessung abhängt – aber auch weil, wie das hier noch zu zeigen sein wird, wichtige Indizien für die Frage der Schuld gewonnen werden können. Das kann andererseits die Orientierung über das, was gerade in Frage steht, bei einem so langen Text schon einmal erschweren.
- Die Vorgeschichte: Radikalisierung
Das als Print über 250 Seiten starke Urteil des Landgerichts ist zur besseren Übersicht mit Randziffern versehen, die hier als Aufsuchhilfe übernommen werden. Man findet nach dem Strafausspruch selbst (sechs Jahre und neun Monate Haft ohne Bewährung, von denen drei Monate wegen der Verfahrensdauer als bereits verbüßt angerechnet werden, ein lebenslanges Berufsverbot als Hebamme und Ärztin, dazu Schmerzensgelder und Schadenersatzpflichten gegenüber den Eltern des verstorbenen Kindes):
ab Rz.18: einen Lebenslauf der Angeklagten, die nach einer Ausbildung und Praxis als Hebamme ein Studium der Medizin absolvierte, aber keine Facharztausbildung, insbesondere nicht in Frauenheilkunde und Geburtshilfe.
ab Rz.30 „Allgemeines Vorgeschehen“, in dem die Historie einer Radikalisierung der Standpunkte der Angeklagten nachgezeichnet wird, und darunter
ab Rz.41 die praktischen Einzelaspekte, in denen sich diese Radikalisierung und Ideologisierung ausdrückte, nämlich
ab Rz.42 die Geringschätzung der Überschreitung des Geburtstermins
ab Rz. 44 die überlange Dauer des Geburtsvorgangs selbst
ab Rz.52 die besonderen Risiken individueller Schwangerschaften und hier besonders die Risiken pathologischer Kindslagen beim Einsetzen der Geburt.
Ab Rz.54 folgt ein Überblick über das, was einer Hebamme durch berufsrechtliche Normen als Kenntnisstand vorgegeben wird – das Gericht weist hier ausdrücklich auf die Möglichkeit hypoxischer Gefährdungen des Kindes, also einer Sauerstoffunterversorgung im Falle einer Nabelschnurkompression bei sogenannten Beckenendlagengeburten („Steißgeburten“) als schlechthin vorauszusetzenden Kenntnisstand hin.
Ab Rz.67 findet der Leser eine Zusammenfassung der Diskrepanzen zwischen der Praxis der Angeklagten auch bei Risikoschwangerschaften und den anerkannten medizinischen Standards, die sich in typischen Risiken widerspiegeln, die von der Angeklagten aber systematisch kleingeredet und nicht einmal werdenden Eltern im Rahmen eines Aufklarungsgesprächs mitgeteilt wurden, wobei zusätzlich immer wieder
„vorgeburtliche Aufklärungen, erforderliche Überwachungsmaßnahmen während des Geburtsgeschehens, Vorsorgemaßnahmen für eine eventuell erforderliche Verlegung und die Beachtung der möglichen Risiken“ bewusst unterlassen wurden.“
In Rz.78 wird erstmals eine im Folgenden noch weitreichende Schlussfolgerung aus der Vorgeschichte des Geschehens, das hier angeklagt war, gezogen: das von der Angeklagten entwickelte „natürliche“ Entbindungskonzept, das auf strikter Fernhaltung jeder „schulmedizinischen“ Hilfe, auf der Nichtbeachtung von naheliegenden Kardinalrisiken und dem bewussten Verzicht auf Vorsichtsmaßnahmen fußte, führte konsequent dazu,
„auch das Risiko einer Schädigung des Kindes im Rahmen eines solchen natürlichen Geburtsgeschehens als schicksalhaftes Geschehen hinzunehmen.“
Ab Rz.79 bis Rz.266 berichtet das Urteil über insgesamt sieben Vergleichsfälle aus der Praxis der Angeklagten von 2005 bis 2009, einer davon der hier in Frage stehende, in denen ihr Entbindungskonzept stets nach dem gleichen Grundmuster zu dramatischen Verläufen mit weiteren Todesfällen und schweren Behinderungen führten und in denen es ihre ständige Übung war, nach den fatalen Vorfällen möglichst wasserdichte Freizeichnungserklärungen der Betroffenen zu erlangen und die Verantwortlichkeiten auf andere, etwa die Eltern selbst, oder auf behauptete Vorschäden abzuschieben. Die Erscheinungsformen kindlicher Sauerstoffunterversorgung bei einer Beckenendlagegeburt ziehen sich aber wie ein roter Faden durch diese Vorfälle, ebenso systematische Falschdokumentationen in den Unterlagen der Angeklagten – und die Praxis, mögliches Beweismaterial, insbesondere Plazenten, an sich zu bringen.
Erst ab Rz. 267 kommt das Urteil zu der angeklagten Tat vom 30.06.2008. Es ist dies derjenige Vorfall, in dem die Dinge klar genug zu Tage lagen, dass sie eine Anklage und Verurteilung zuließen – was in den früheren Fällen wegen der verschiedensten Beweisschwierigkeiten (lebte das Kind nach der Geburt? Welches war genau die Todesursache?) in dubio pro reo noch nicht der Fall war.
- Urteilsgründe, kurzgefasst
Eine Kurzfassung der rechtlichen Einordnung des Geschehens findet man gegen Ende des Urteils ab Rz. 1132. Hier kann man verfolgen, wie das im ersten Teil dieser Serie erwähnte „Straftatsystem“ komplexe Sachverhalte in nachvollziehbare Schritte aufteilt und die Entscheidung rational fassbar macht – und damit letztlich auch die Beschränkung der staatlichen Strafgewalt auf die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale garantiert – anstelle einer rechtsphilosophischen Gesamtbetrachtung. Auf dem Weg dahin wird das Geschehen am 30.08.2008 in allen Schritten nachvollzogen. Die einzelnen Schritte werden an Hand einer Unzahl ärztlicher Gutachten und Zeugenaussagen, auch der betroffenen Eltern selbst, in ihrer Bedeutung für den Anklagevorwurf überprüft, desgleichen das Verteidigungsvorbringen der Angeklagten. Unter dem Strich steht als Ergebnis:
a) Totschlag durch Unterlassen: der Tatbestand
Ab Einsetzen der Geburt mit dem Beginn der Eröffnungswehen war das Kind keine Leibesfrucht mehr, sondern im strafrechtlichen Sinne des Begriffs Mensch.
Rockel-Loenhoff war, weil sie die Betreuung der Geburt übernommen hatte, verpflichtet, dafür zu sorgen, dass der Tod des Kindes nicht eintrat, es bestand Ingerenz – ein Unterlassen gebotener Maßnahmen stand also dem aktiven Handeln gleich.
Die kleine „Greta“ starb an den Folgen einer Hypoxie, also durch Sauerstoffunterversorgung wegen einer lang
andauernden Kompression der Nabelschnur, bedingt durch die problematische Beckenendstellung des Fötus unmittelbar vor der Geburt. Durch die Vornahme geeigneter, aber unterlassener Maßnahmen noch lange nach Einsetzen der Geburt hätte der Tod des Kindes verhindert werden können – das Kind war im übrigen bewiesenermaßen vollständig gesund und lebensfähig, keine der von Rockel-Loenhoff angeführten anderen Todesursachen hielt einer Überprüfung durch Sachverständige stand, die Untätigkeit der Angeklagten war für den Tod also kausal.
Diese Feststellung bildet den Schlussstein für den gesetzlichen Tatbestand des Totschlags. Sie ruht auf den Ergebnissen ausführlicher Begutachtungen sämtlicher aufgeworfenen Beweisfragen durch anerkannte Fachgutachter, und, was zu erwarten war: sie beruht auf der Feststellung, dass es – wieder – eine unter Beckenendlage eingetretene Sauerstoffunterversorgung war, die dem Kind zum Verhängnis wurde. Die Ausführungen zur Beweiswürdigung reichen von Rz. 586 bis Rz. 1013, sie nehmen annähernd die Hälfte der gesamten Urteilsgründe ein und lesen sich wie ein Kolleg der neonatologischen Pathologie. Das Gericht ging jedem noch so abgelegenen Beweisantrag zu möglichen anderweitigen Todesursachen durch Einholung weiterer Fachgutachten nach, wobei die Einwände der Angeklagten von einem intrauterinen Tod durch eine pränatale Gehirnschädigung über unbekannte Virusinfektionen, schädigenden Himbeerblätterteegenuss der Mutter bis hin zu einer Vergiftung des Kindes, durch wen auch immer, mit Benzalkoniumchlorid reichte – von dem Mittel, mit dem Obduktionstische und Instrumente sterilisiert zu werden pflegen, hatten sich Reste an Organen des toten Kindes feststellen lassen. Unter dem Strich blieb davon nichts übrig, ein Sachverständiger sprach von „fundamentalen anatomischen Irrtümern“ bei den von Rockel-Loenhoff zur Entlastung aufgebotenen Privatgutachtern. Umso deutlicher steuerten die befragten Gutachter sämtlicher beteiligten Fachgebiete ihren Beitrag zu einem eindeutigen Befund bei: das ansonsten gesunde Kind war unter der Geburt schlicht erstickt.
b) Der Tatvorsatz
Die Feststellungen zum bedingten Tatvorsatz findet man unter Rn. 1141 bis 1144. Rockel-Loenhoff hat den Eintritt des Todes als möglich und nicht ganz fernliegend erkannt, sich für den Fall des Eintretens damit aber abgefunden. Kern dieser Feststellung ist die Auswertung der festgestellten Indizien aus
dem Verlauf des Geburtsgeschehens mit erkennbaren Anhaltspunkten für eine lebensbedrohliche Notsituation des Kindes und einer Wahrnehmung dieser Umstände durch die Angeklagte – und der Kenntnis der Angeklagten von der Möglichkeit des Eintritts des Todes des Kindes, wie dargelegt, ohne begründete Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Geburt, vor dem Hintergrund sachfremder Erwägungen
wobei die „sachfremden Erwägungen“ darin bestanden, dass Rockel-Loenhoff unter dem Eindruck eines übermächtigen Paradigmas, nur ja keine klinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sich sagte: na, wenn schon. Bewertet wurde damit zum einen der äußere Verlauf des Geburtsgeschehens mit erkennbaren Anhaltspunkten für eine lebensbedrohliche Notsituation des Kindes, ohne dass die Konsequenz der Verlegung in eine nur 1,8 km entfernte, voll ausgestattete Klinik in Erwägung gezogen werden durfte; aber auch der „Zusammenhang mit schuldhaftem Vorverhalten und sachfremden Motiven“, womit zum einen die auch in Veröffentlichungen der Angeklagten offen geäußerte Ansicht gemeint ist,
„dass ein – ihr natürlich grundsätzlich unerwünschter – Tod eines Kindes im Rahmen eines Geburtsvorgangs vor dem Hintergrund einer Einstellung, dass Tod und neues Leben zusammen gehören, und auch Geburt und Tod zusammen fallen können, als tragischer Ausgang im Einzelfall und als schicksalhaftes Geschehen im Rahmen eines natürlichen Vorgangs zu akzeptieren sei“
(Urteil, Rz.34)
Rockel-Loenhoff war es bitter Ernst mit einer Güterabwägung, bei der das Leben des Kindes (und das Wohlergehen der Mütter!) hinter den Maximen der „Natürlichkeit“ einer Geburt rangiert, bei der es zu allererst darauf ankommt, nur ja keine ärztliche oder gar klinische Hilfe heranzuziehen, anerkannte medizinische Schutzstandards bewusst zu missachten und alle Vorgänge auf dem niedrigsten denkbaren Standard ablaufen zulassen.
Damit führte, wie es auch vom BGH schließlich gebilligt wurde, kein vernünftiger Weg mehr an der Feststellung vorbei: Anna Rockel-Loenhoff handelte mit bedingtem Vorsatz.
- Im Detail: was genau war am 30.06.2008 geschehen?
Die Einzelheiten dessen, worum es ging, sind im Urteil des Landgerichts Dortmund wie gesagt ab Rz.267 nachzulesen. Eine Kurzfassung wird im Folgenden wiedergegeben. Sie werden gute Nerven dafür brauchen, aber es ist wichtig, sich das zu vergegenwärtigen. Es ist, insbesondere in der Kette rasch aufeinander folgender ähnlicher Ereignisse aus der Praxis der Anne Rockel-Loenhoff, eine dringend erforderliche Konkretisierung dessen, was ein als „natürlich“ apostrophierter und praktizierter Geburtsvorgang eigentlich bedeutet, wenn er in die Händen von Ideologinnen der Bewegung gerät und die Fortüne gerade Pause macht.
a) Eine „Hausgeburt“? Nicht wirklich.
Die aus Lettland stammenden Eltern erlebten eine erste und komplikationslose Schwangerschaft. Der errechnete Termin der Niederkunft war der 22.06.2008. Am 26.05.2008 wurde bereits eine Beckenendlage des Kindes festgestellt, und der konsultierte Gynäkologe riet zum Kaiserschnitt. Aus Furcht vor den möglichen Folgen einer MRT entschieden sich die Eltern, die Geburt nicht in einer Klinik ausführen zu lassen. Auf Rockel-Loenhoff, die gezielt als Hebamme für problematische Entbindungen warb, kamen die Eltern durch Empfehlung einer Hebamme in Lettland.
Nach der Ankunft bei der Angeklagten Ende Mai fand ein Informationsgespräch statt, in dem spezifische Risiken der gegebenen Situation selbst auf gezielte Nachfrage nicht offengelegt, sondern negiert wurden. Die Verhältnisse einer Klinikgeburt hingegen wurden als „rigides System mit einer nicht immer sinnvollen medizinischen Behandlung“ bezeichnet (Rz.274). Die Angaben von Rockel-Loenhoff gegenüber den Eltern über das notfalls zur Verfügung stehende Krankenhaus in der Nähe waren außerdem unzutreffend.
Die Eltern hatten jetzt die Vorstellung, die Entbindung werde in der Praxis Rockel-Loenhoff stattfinden und ein nahes Krankenhaus stehe im Krisenfall bereit – beides war verhängnisvoll falsch.
Bis zur Geburt mietete sich das Eltenpaar in einem Hotel ein, das nur etwa einen Kilometer von der Praxis entfernt lag. Nach dem errechneten Geburtstermin suchten die Eltern die Praxis noch viermal auf, zuletzt am 29.06. – bereits eine Woche über der Zeit. Rockel-Loenhoff bezeichnete die Verhältnisse immer noch als „völlig normal“. In dieser Zeit kamen alle Termine auf Initiative der Eltern zustande; eine engmaschige Überwachung durch Rockel-Loenhoff gab es nicht, selbst um die Anfertigung eines CTG (simultane Aufzeichnung von Wehen und Herztönen des Kindes mittels Wehenschreiber, Cardiotocographie) musste die Mutter betteln, Rockel-Loenhoff hielt es für unnatürlich.
Am 30.06.2008 begann die Geburt. Bis zum Ende des Geschehens verließ die Mutter das Hotelzimmer nicht mehr. Es war weder eine häusliche Geburt, noch eine Geburt in der Hebammenpraxis – es war eine Hotelzimmergeburt unter entsetzlichen Umständen, bei der sämtliche Rettungswege systematisch verbaut wurden.
b) 18 Stunden Martyrium und kein glückliches Ende: die Zeittafel einer „natürlichen Geburt“
04.00 Uhr: die Geburt beginnt mit einem Fruchtblasensprung.
05.09 Uhr: die Eltern rufen bei Rockel-Loenhoff an, die die Eltern aber vertröstet: es sei alles normal, sie sollten noch etwas schlafen.
09.39 Uhr: erneut rufen die Eltern bei Rockel-Loenhoff an wegen einsetzender Wehen. Rockel-Loenhoff wiegelt erneut ab, es sei noch alles normal und nur die „Eihaut“ (gemeint war wohl die äußere, sekundäre Eihülle) gerissen – obwohl sie in ihren Notizen bereits für 04.00 Uhr einen Fruchtblasensprung notiert hatte. Sie vertröstet die Eltern und lehnt eine Kontrolle wegen befürchteter Hypoxie ausdrücklich ab. Die Mutter solle sich entspannen oder spazieren gehen. In den folgenden fünf Stunden gab es keinen Kontakt zwischen Rockel-Loenhoff und den Eltern in ihrem Hotelzimmer mehr.
14.49 Uhr: der Vater ruft Rockel-Loenhoff an und schildert heftige Wehentätigkeit. Rockel-Loenhoff bittet die Eltern zu sich in die Praxis, sie wolle dort eine Badewanne einlassen. Die Mutter ist zu einem Transport mit dem Auto nicht mehr in der Lage. Jetzt, nach fast 11 Stunden, in denen die Mutter ohne kundige Hilfe in einem Hotelzimmer zubrachte, setzte die Eröffnungs- und Austreibungsphase ein – wieder ohne jegliche Hilfe.
15.59 Uhr: der Vater bittet telefonisch nochmals um Hilfe. Erst jetzt, unter dem Eindruck der Schreie der Mutter im Hintergrund, setzt sich Rockel-Loenhoff in Bewegung.
16.08 Uhr: Ankunft Rockel-Loenhoff im Hotel, nach über 12 Stunden. Kurz zuvor trat der erstmalige Abgang von
Mekonium ein, des „Kindspechs“: normalerweise der ausgeschiedene Stuhl eines Neugeborenen, gleichzeitig aber auch Anzeichen einer Hyperperistaltik des kindlichen Darms unter dem Stress einer durch Sauerstoffunterversorgung ausgelösten Übersäuerung des kindlichen Bluts. Rockel-Loenhoff erklärt auch jetzt noch, es sei alles in Ordnung und ganz normal, die Geburt solle an Ort und Stelle fortgesetzt werden, nicht in einer Klinik. Sie nimmt jetzt nur eine Kontrolle der kindlichen Herztöne mit einem kleinen Ultraschallgerät („Dopton“) vor, dokumentiert als Ergebnis in verschiedenen Unterlagen aber drei verschiedene Werte. Für die nächsten sechs Stunden wird Rockel-Loenhoff noch insgesamt nur fünf weitere Messungen vornehmen, aber gar keine Herzfrequenzen mehr dokumentieren.
Jetzt, nach Ankunft von Rockel-Loenhoff, steht zudem die problematische Beckenendlage bei Einsetzen der Austreibungsphase fest, und sie entscheidet sich gleichwohl bewusst gegen eine Klinikverlegung.
Bis zu diesem Zeitpunkt geht das Gericht übrigens in dubio pro reo davon aus, dass die Lage des Kindes zwar zunehmend riskant war, aber noch nicht lebensbedrohlich – und dass Rockel-Loenhoff hier noch nicht mit dem Eintritt irgend eines Schadens rechnete. Selbst hier bewegte sie sich also – noch – in einem straflosen Bereich. Leider bleibt es dabei nicht.
17.50 Uhr: das Kind befindet sich noch in der Beckenmitte, es ist noch kein Ende abzusehen.
18.15 Uhr: dies ist der erste wesentliche Zeitpunkt für die strafrechtliche Beurteilung: nach den Ergebnissen der Sachverständigen hätte die Geburt jetzt beendet sein müssen, um eine Schädigung des Kindes durch Hypoxie und ihre Folgen zu verhindern. Statt dessen ging es unverändert weiter. Inzwischen war die Mutter völlig entkräftet, die Wehentätigkeit ließ nach.
18.22 Uhr: erneuter, starker Mekoniumabgang.
19.50 Uhr: dies ist ein Zeitpunkt, der für die Vorsatzfeststellung von hoher Bedeutung ist: das Gericht geht davon aus, dass Rockel-Loenhoff bisher bewusst und trotz aller Krisenzeichen von einer Verlegung in ein Krankenhaus absah, spätestens ab 19.50 Uhr dabei aber zusätzlich den tödlichen Ausgang in Kauf nahm und damit die Schwelle zur Vorsatztat subjektiv überschritt. Die Begründung unter Rz.307 des Urteils ist insofern zentral wichtig.
„Ihr war bewusst, dass die Chance, zu diesem Zeitpunkt noch ein gesundes Kind zu entbinden, bereits kaum mehr zu realisieren war und mit zunehmendem Zeitablauf auch die Hoffnung auf ein Überleben des Kindes weiter sank.“
Die Anzeichen waren auch überdeutlich. Und: sie musste ab hier spätestens eingesehen haben, mit ihrem Latein am Ende zu sein; es drohten Reputationsverlust und, schlimmer, das Publikwerden krasser Sorgfaltsverstöße auf dem Boden einer Außenseiterideologie mit allen Folgen in Form von Schadensersatzansprüchen. Und für Rockel-Loenhoff möglicherweise noch schlimmer: es drohte der Verlust der Reputation unter ihresgleichen, für die sie ein fast religiös verehrtes Vorbild war. Deshalb, so das Landgericht, musste jetzt erst recht die reine Lehre der natürlichen Geburt bis zum bitteren Ende durchgezogen werden: keinesfalls in die Klinik!
Und es kam noch eine nicht zu unterschätzende Kleinigkeit hinzu: kurz nach 19.50 Uhr führte Rockel-Loenhoff aus dem Hotel heraus heimlich ein Telefonat mit einer anderen, ihr vertrauten Hebamme, die ihr dringend riet, sich an ein Krankenhaus zu wenden – und Rockel-Loenhoff lehnte ab.
20.30 Uhr: Rockel-Loenhoff stellt fest, dass die Wehentätigkeit nachlässt, untenimmt aber immer noch nichts.
21.03 Uhr: seit Beginn der Austreibungsphase sind etwa fünf Stunden vergangen, und der Steiß des Kindes befindet sich immer noch in der Beckenmitte der Mutter.
Für diesen Zeitpunkt nimmt das Gericht auf der Basis der eingeholten Sachverständigengutachten die nächste wesentliche Grenzziehung vor: jetzt wäre noch immer wenigstens eine Rettung des Lebens des Kindes möglich gewesen – voraussichtlich dauernd behindert wegen der andauernden Sauerstoffunterversorgung, aber lebend. Auch dieser Zeitpunkt der letzten Rettung verstreicht ungenutzt. Statt dessen stellt das „Dopton“ der Rockel-Loenhoff wegen Batterieschwäche den Betrieb ein, weitere Herztonkontrollen sind nicht mehr möglich.
21.45 Uhr: die in völlig desolatem Zustand befindliche Mutter rafft sich noch einmal aus eigener Kraft zu Presswehen auf.
22.14 Uhr: das Kind tritt völlig aus dem Mutterleib aus – in sterbendem Zustand, mit einem Apgar-Score von null, ansonsten voll und normal entwickelt. Rockel-Loenhoff beginnt an dem leblosen Kind mit Mund-zu-Mund-Beatmungsversuchen und einer Herzdruckmassage.
22.24 Uhr: Rockel-Loenhoff bittet den Vater, einen Notarzt zu rufen. Die Verzögerung der Alarmierung um die Zeit aussichtsloser Reanimationsversuche versteht das Gericht als absichtliches Manöver in der Hoffnung, einen unerfahrenen Notarzt zur Ausstellung einer Todesbescheinigung über eine natürliche Todesursache zu veranlassen, wie ihr dies in einem früheren Fall schon einmal gelang. Dies ist die vielleicht schwächste Erwägung zur Vorsatzfrage, für das Ergebnis aber auch nicht essentiell.
22.30 Uhr: der Notarzt trifft im Hotel ein und findet folgende Situation vor:
„Der Zeuge Z26 fand die Angeklagte bei noch durchgeführter Mund-zu-Mund-Beatmung an dem auf dem Hotelbett liegenden Säugling vor. Die Zeugin Z1 saß nur mit einem T-Shirt bekleidet verzweifelt und völlig entkräftet in einer Blutlache auf dem Fußboden. Die Angeklagte machte dem Zeugen Z26 sofort unmissverständlich klar, zu welchem Zweck sie ihn hatte rufen lassen. Sie empfing ihn mit der Angabe, dass der Apgar 0 sei und das Kind bei der Geburt keine Lebenszeichen gezeigt habe, wobei sie unmittelbar die Bemerkung anfügte: „Herr Kollege, ich glaube, Sie können bestätigen, dass das Kind tot ist!“. Von weiteren Umständen, insbesondere, dass es sich um einen über 18 Stunden dauernden Geburtsvorgang aus Beckenendlage handelte, informierte sie den Arzt zunächst nicht“.
Der Notarzt („Z26“) unternimmt letzte Versuche der Reanimation, stellt aber letztlich mittels EKG nur noch elektrische Restaktivitäten am stehenden Herzen des Kindes ohne Pumpfunktion fest. Um 22.40 Uhr werden die Maßnahmen eingestellt. Das Kind, das sich mindestens einen halben Tag lang gegen das innere Ersticken unter einer „natürlichen Geburt“ wehrte, ist tot.
c) Nach dem Desaster: Vertuschung statt Reflexion
Was folgt, ist das aus anderen Fällen bekannte Verhaltensmuster von Rockel-Loenhoff: die nachweislich wahrheitswidrige Manipulation von Beteiligten, Dokumentationen und Beweismaterial, das Legen falscher Fährten mit unbelegten Behauptungen, Versuche, die Eltern zur Abgabe unrichtiger entlastender Schreiben zu drängen. Das unappetitlichste Detail: kurz nach dem tragischen Ereignis, am 3. Juli, ließ Rockel-Loenhoff sich von den Eltern eine schriftliche Vollmacht zur Entnahme einzelner Organe aus dem Leichnam des Kindes erteilen, nutzte diese Vollmacht aber dazu aus, alle bis dahin in einem Beutel nach der Obduktion des Kindes in dessen Abdomen gelagerten inneren Organe mitzunehmen und bei sich zu Hause, teils in Formalin, teils im Gefrierfach neben Lebensmitteln zu lagern, wo sie von der Polizei schließlich gefunden wurden. Und selbst das war noch zu steigern: Am 9. Juli, als die Eltern sich weigerten, eine ihnen abverlangte Entlastungserklärung zu unterschreiben, kam es zu folgender Szene (Rz.388):
„Sie erklärte den Eltern, dass sie selbst auch mit einer Anzeige wegen Mordes rechnen müssten, und dass man angesichts der Umstände, dass ein Paar aus Lettland anreise, um in einem Hotelzimmer zu entbinden, auch auf die Idee kommen könne, dass der Vater das Kind vielleicht nie gewollt habe.“
Damit war Rockel-Loenhoff zu weit gegangen. Die Eltern erkannten die Manipulationsabsicht und wandten sich an die Polizei.
Wie wenig bei Rockel-Loenhoff dieses Geschehen einen Eindruck hinterlassen hatte, der vielleicht zu einer Überprüfung ihrer indolenten Haltung gegenüber dem Wohlergehen von Mutter und Kind hätte führen können, haben wir an anderer Stelle schon einmal betrachtet: drei der sechs vom Landgericht weiter betrachteten Vergleichsfälle mit ganz ähnlichen Verhaltensverläufen (Rz.81 bis 92) liegen zeitlich knapp nach dem hier in Frage stehenden Fall; und das Gericht erwähnt zusätzlich weitere Fälle ab 2010, in denen nur die Mitwirkung einer zweiten Hebamme zur Inanspruchnahme medizinischer Notfallhilfe führte (Rz.93).
Selbst wenn man alle Grundsatzfragen über Nutzen oder Schaden häuslicher Geburten einmal beiseite lässt: die folgende Anmerkung auf der Homepage eines Anwaltsbüros aus Bochum bringt es auf den Punkt:
Wenn die Zitate der Angeklagten, die im Spiegel veröffentlicht sind, stimmen, dürfte das Problem des Falls Anna R. nicht der Streit um klinische oder außerklinische Geburtshilfe sein, sondern eine erschreckende und bedauerliche Hybris dieser einzelnen besonderen Ärztin und Hebamme. Denn als der Vorsitzende Richter ihr aus einem von ihr selbst mitverfassten Standardlehrbuch die Passage vorhielt, dass Kinder in Beckenendlage nur im Notfall außerhalb der Klinik entbunden werden dürften, antwortete Anna R. laut Spiegel: „Das sind Regeln für Anfängerinnen, ich brauche sowas nicht.“
Rockel-Loenhoff hatte sich bewusst über Regeln hinweg gesetzt, die sie selbst formuliert hatte. Und mehr noch: sie stellte in der Krise, in der sich ihr Anspruch auf Deutungsmacht praktisch bewähren musste, die reine Lehre über den Schutz des Lebens; nicht nur in dem einen Fall am 30.06.2008, sondern immer wieder.
Überflüssig zu erwähnen, dass bislang kein Wort des Bedauerns von ihr zu hören war.
Teil (3) wird sich zum Abschluss dieser Reihe mit den Reaktionen der Unterstützer auseinandersetzen.
Danke für diese umfassende Zusammenschau, auch schon im ersten Teil.
Dokumente des Grauens!
Dieses völlige Abwesenheit von Empathie zugunsten einer Ideologie des „Natürlichen“, unfassbar.
Ich hab Gänsehaut und Tränen in den Augen, und ich bin nicht nah am Wasser gebaut.
@Ursula: Es wird einem wirklich ganz anders, vor allem in Zusammenschau mit dem sympathischen Auftreten und ihrem Status als Guru. Zu allem Überfluss wird sie auch noch von einigen Kolleginnen bis aufs Messer verteidigt. „Todesengel“ ist hier wohl eine treffende Bezeichnung.
Gruselig. Das erste Kind meiner Schwester war eine Totgeburt und wir trauerten gemeinsam; ich will mir nicht vorstellen, was diese Umstände in den Eltern anrichten.
Ich finde in diesem Zusammenhang immer wieder faszinierend, wie arrogant Menschen sind, die genau dies (Arroganz ohne Rücksicht auf die Patienten) der „Schulmedizin“ vorwerfen. Dass man von einem Homöopathen oder ähnlichen Scharlatanen mindestens genauso abhängig ist, diese aber keiner weiteren staatlichen Kontrolle unterworfen sind, wollen ihre Fans nicht einsehen.
Danke ansonsten für die detaillierten Ausführungen; ein angenehmes Gegengewicht zu der grauenhaften WDR-Sendung, bei der jemand jede journalistische Sorgfalt über Bord geworfen zu haben scheint.
Traurig, dass diese Frau erst jetzt weggesperrt werden wird.
Das für mich am schwersten verdauliche Aspekt: Selbst, wenn sie eingesehen haben sollte, dass sie entsetzlichen Mist gebaut hat, kann oder will sie das nicht zugeben und opfert für die Aufrechterhaltung ihres Bildes als Lichtgestalt der Szene ohne mit der Wimper zu zucken Menschenleben.
Es wird nie jemand erfahren, dass eine mir bekannte Schwangere aufgrund eines Ultraschallbildes in Vollnarkose am Unterleib operiert werden sollte, das nie gemacht wurde. Kommentar der Ärzte: „Oups, ich habe es doch gesehen …“
Aha, sehr … interessant. Aber was war es denn nur, was Du sagen wolltest?
Ich glaube, er/sie/es wollte sagen, dass keiner bei nichts was gemerkt hatte, was nicht stattfand, aber jemand „Oups!“ sagte und auch umgekehrt.
Bis eben war ich noch der Meinung gewesen, der erste Teil müsse naturgemäß der schwerer zu lesende sein. Doch diese haarklein aufgedröselte, nüchterne Beschreibung einer Unsäglichkeit ist wahrlich schwer zu ertragen…
Unabhängig davon: tolle Arbeit!
„Schöner Artikel“ möchte ich angesichts des Inhalts nicht sagen, aber gute Arbeit.
Das Urteil liest sich echt gruselig, vor allem weil es anscheinend ein ganzes Nest von medizinischen Totalverweigerern gibt. Und erschreckend ist auch, wie andere geschädigte Eltern die gute Frau R-L noch in Schutz genommen haben.
Praktiziert die andere im Urteil genannte Hebamme eigentlich noch Geburten auf der Insel ohne Krankenhaus? Schwangere extra in die Pampa zu locken ist auch ziemlich krank. Und mir kann keiner erzählen, diese Dame würde es nicht auch billigend in Kauf nehmen, das bei einer Gefährdung von Mutter und Kind mal eben jede Hilfe zu spät kommen kann.
Vielen Dank für diese beiden hervorragend geschriebenen Artikel!
Ich vertraue dem deutschen Rechtssystem weit genug um davon auszugehen, dass die, im Urteil genannten Umstände als ausreichend erwiesen angesehen werden können und bin (wieder einmal) froh nicht Richter in diesem Fall gewesen zu sein, da es _mich_ zu viel meiner Menschlichkeit gekostet hätte hier die nötige Distanz zu wahren.
Ich bin gespannt ob Teil drei des Artikels zeigen wird, dass wenigstens Teile der Unterstützer in der Lage waren über ihre ideologische Mauer zu blicken und das Urteil als rechtmäßig und gerecht anzusehen.
Ich befürchte aber das schlimmste.
@ untoter
Wenn man bedenkt, dass im Fall von Hamer nicht einmal Massenmord Anhänger zum Nachdenken bringt, wird das hier nicht anderes sein.
Mich hat schon gewundert, dass niemand darüber diskutiert, warum die Versicherungsprämien für Hebammen so gestiegen sind. Statt dessen diskutiert man darüber, wie man die Hebammen finanziell entlasten kann.
mein gott.
ich hab gerade noch den SPIEGEL-artikel gelesen (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-129568335.html), ich fasse es einfach nicht.
und dann das:
https://www.youtube.com/watch?v=ECMMhvyrWl8
wie kann man nur so unterwegs sein? und dann noch die kommentare unter diesem wahnsinn. unfassbar.
Man sollte sich tatsächlich die WDR-Doku über Rockel-Loenhoff ansehen. Vor allem im Kontext zu diesem Artikel hier wird mir unglaublich schlecht davon. Ekelhafteste Selbstdarstellung, sie stylisiert sich dort zur Märtyrerin, gestützt durch den WDR der mit unglaublich schlechter journalistischer arbeit dazu beiträgt. Auch der Guru-Kult um sie wird dort sehr deutlich, bei ihren ‚Anhängern‘, aber auch den Journalisten, die ihr anscheinend selbst verfallen oder schon vorher verfallen waren.
Ihr Auftritt beim braunesoterischen, conrädischen‘ bewusst tv ist letztendlich die erbärmlichste und exhibitionistischste Form ihrer medialen Selbstinzenierung: Spätestens an diesem Punkt (nach dem gekonnten ignorieren von Prozessfakten wie etwa der Obduktion am Küchentisch), einem Auftritt in einem antisemitischen youtube-Format, das Werbung für ‚germanische neue Medizin‘ macht und über reptiloide Illuminaten spricht, sollte man denken, es würde den Menschen die Augen öffnen.
Tut es nicht. Sehr bitter und sehr gefährlich, glaub ich.
Danke für den detaillierten Artikel.
Das traurige ist, dass dieser Fall auf die Arbeit der Hebammen auswirken wird die mehr Sorgfalt und Verantwortung walten lassen.
Ich selbst habe unsere Tochter zu Hause entbunden und war ab der 13.Woche in permanentem Kontakt mit der Hebamme. Beim Vorgespräch für die Geburt war klar, dass bei der kleinsten Abweichung vom Ideal ohne Diskussion ins 3km entfernte Krankenhaus verlegt wird und dass ich selbst jederzeit sagen kann, dass ich doch in die Klinik möchte.
Das Vorgehen von Frau R. zeigt mir wie ideologisch verbohrt jemand sein kann, dass er den Tod von so etwas unschuldigem wie einem Säugling billigend in Kauf nimmt.