Teil 6 unserer Serie zur Philosophie Bunges
Die Kritik Bunges an der vorherrschenden Philosophie ist scharf; kein Wunder, dass er nicht gemocht wird. Der intellektuelle Mob bekundet seine Abneigung hemmungslos: Eine Rezension bei Amazon von Über die Natur der Dinge spricht vom „kaum zu überbietenden Blödsinn“ und empfiehlt „jedem Leser, den Brennwert dieses Buches empirisch zu ermitteln“. – Da kommen einem die öffentlichen Auftritte von Trump-Anhängern (einfachen, gläubigen Menschen) in den USA in den Sinn, die ihre Nike-Sportschuhe verbrannt haben, weil die Firma einen Werbespot mit dem von Trump als Hurensohn titulierten Football-Spieler Colin Kaepernick geschaltet hatte.
Es stellt sich die Frage, ob die Kritik Bunges berechtigt ist. Ich muss hier der Versuchung widerstehen, ganze Abschnitte aus seinen Büchern zu zitieren. Sie würden keiner Übersetzung aus einer hochformalen abstrakten Sprache bedürfen; die Kenntnis eines simple English würde genügen, sie zu verstehen. Ich werde mich mit einigen wenigen Zeilen begnügen.
Der entscheidende Vorwurf, den Bunge der Philosophie macht, ist ihre hochmütige Isolierung von der Wissenschaft [49]:
Nur das Höhere [im Original deutsch, Verf.] ist der Aufmerksamkeit des Herrn Professors würdig. Überlass‘ das Elend des täglichen Lebens den niederen Kreaturen [to the lesser beings]. [50]
Das hat durchaus Tradition, sagt er: Locke habe Newtons opus magnum nicht gekannt, welches genau jene Bewegungsgesetze beschreibt, die er in seinem Essay für unerkennbar erklärt habe – er verstand nicht genug von Mathematik [51]. (Man vergleiche dazu die Rapoportsche Bunge-Kritik, s. o. Newtons Mathematik war zu seinen Lebzeiten allerdings nur für eine Handvoll Menschen verständlich.). Hume lehnte die Newtonsche Mechanik explizit ab, weil sie nicht aus Sinneseindrücken abgeleitet ist [52]. Kant habe sein Interesse an der Naturwissenschaft um 1756 aufgegeben und nur noch Philosophen gelesen – „ein Brauch, der sich bis in unsere Tage erhalten hat“ [53]. An weiteren scharfzüngigen Sottisen ist kein Mangel.
Nachdem Bunge die Ossifikation der Philosophie konstatiert hat, hält er fest:
In der Tat, all die sogenannten ewigen Probleme der Philosophie, wie „was sind mathematische Objekte“, Materie, Raum, Zeit, Kausalität, Zufall, Leben, Geist, Gesellschaft und Geschichte, werden von Forschern in den jeweiligen Fachdisziplinen detailliert bearbeitet. [54]
Hier aber ist ein Caute! zu setzen: Bei diesen „ewigen Problemen“ auf die Einzelwissenschaften zu setzen bedeutet, dass die Philosophie eben auch veralten kann. Sichtbar wird das beispielsweise in Band 7 des Treatise, der die „Philosophy of Science and Technology“ umfasst. Die Themen sind dort notwendigerweise nur noch selektiv, und die ganze Bandbreite der jeweils konkurrierenden Auffassungen ist nicht mehr immer integrierbar. Ist das ein Nachteil? Nein, sagt Bunge, das ist der Lauf der Welt, Wahrheitswerte veralten. „Nein, Langlebigkeit ist nicht notwendig ein Zeichen von Wahrheit oder Nützlichkeit: sie kann auch ein Zeichen der Ignoranz sein.“ [55]
Und er fährt fort mit einer Verteidigung des Szientismus:
Die methodologische These lautet, dass der beste Weg, die Realität zu untersuchen, darin liegt, die wissenschaftliche Methode anzunehmen, welche sich auf die Regel herunterbrechen lässt: „Überprüfe deine Vermutungen“ [„Check your guesses„]. Dem Szientismus ist explizit von Dogmatikern und Obskuranten aller Schattierungen widersprochen worden, wie dem neoliberalen Ideologen Friedrich Hayek und dem „kritischen Theoretiker“ Jürgen Habermas, einem schwerfälligen Schriftsteller, der es fertig gebracht hat [who managed], Hegel, Marx und Freud zu amalgamieren, und der dekretiert hat, dass „die Wissenschaft die Ideologie des Spätkapitalismus“ sei.
Dagegen hat Lalandes schlichtes [sober] Vocabulaire (1938: II, 740) die folgende Definition des Szientismus gegeben: „Er ist die Idee, dass der Geist und die Methoden der Wissenschaft auf alle Gebiete des intellektuellen und moralischen [sozialen] Lebens ausgedehnt werden sollten“. So ist der Szientismus, entgegen seinen Verleumdern [detractors], nicht das gleiche wie ein sozialer Naturalismus oder der Versuch, die Naturwissenschaft auf gesellschaftlichem Gebiet nachzuäffen: es ist allein der Versuch, die wissenschaftliche Methode auf alle Probleme anzuwenden, die Fakten betreffen.
[56]
Check your guesses. Was einer Regel folgt, kann studiert werden. Und wenn es keiner Regel folgt … – wie will man wissen, ob es einer Regel folgt, wenn man es nicht studiert hat?
Es gäbe noch vieles zu berichten (z. B. über das „Leib-Seele-Problem“ oder die Popper-Kritik [57]), aber ich will es mit einem Spruch bewenden lassen, der beides anreißt:
Ein Beispiel für diese teleologische Denkweise ist der Titel des Buchs von Popper und Eccles: „Der Geist und sein Gehirn“. Warum nicht „Das Gehen und seine Beine“, „Die Verdauung und ihr Gedärm“ oder ähnliches? [58]
Finis. Nein, halt, den noch:
Wenn die wissenschaftliche Forschung tatsächlich diejenige philosophische These voraussetzt, die den Szientismus charakterisiert, dann widerspricht sie nicht dem Humanismus, wie oft verkündet wird. Was die Befürworter des Szientismus bekämpfen, ist die antiwissenschaftliche Haltung, die von Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Dilthey, Bergson, Husserl, Heidegger, der Frankfurter Schule und den Postmodernisten, welche von den Humanwissenschaften in Frankreich Besitz ergriffen haben, eingenommen wird. Verdienen es diese Feinde der Rationalität, „Humanisten“ genannt zu werden, wenn wir Aristoteles‘ Definition des Menschen als „ein rationales Tier“ akzeptieren? [59]
Nun soll es aber wirklich genug sein.
Und was ist denn nun „Materie“? Ein Abstractum. [60] 😄
In unserer Serie zur Philosophie Bunges folgt noch ein Anhang für Hardcore-Fans
- ↑: Doing Science, Kap. 11.7.
- ↑: Chasing Reality, Kap. 3
- ↑: Chasing Reality, Kap. 2.5.
- ↑: Chasing Reality, Kap. 2.7.
- ↑: Chasing Reality, Kap. 2.8.
- ↑: Evaluating Philosophies, Kap. 2.5.
- ↑: Treatise Vol. 6, Ch. 12, Sec. 3.2.
- ↑: Evaluating Philosophies, Kap. 2.6.
- ↑: Karl Popper ist sicher derjenige der Philosophen, dem er die ausführlichste Kritik gewidmet hat. Vielleicht ein andermal.
- ↑: Matter and Mind, Kap. 9.5.
- ↑: Doing Science, Kap. 10.5.
- ↑: Natur der Dinge, Kap. 2.5.1.
Das ist Rabulistik, für Bunge-Fans die reine Freude. Aber ernsthaft: Die hier vorgebrachte Szientismus-Definition ist zu unbestimmt. Da ist von Realität die Rede und von Fakten, ohne zu sagen, was darunter zu verstehen ist. Die Unterschiede zwischen den Wissenschaften werden erst klar, wenn man sagt, was Realität oder Wirklichkeit jeweils bedeutet: Ist es die Natur, in der wir universelle Invarianten erkennen können, oder ist es die Gesellschaft, die immerfort eine andere ist. Im ersten Fall greift der Kritische Rationalismus, im zweiten eben nicht. Wenn es heißt, „Was einer Regel folgt, kann studiert werden“, dann wird dem, soweit ich sehe, kein Vertreter der Kritische Theorie der Frankfurter Schule widersprechen.
Och, wenn Dich das überfordert hat, dann setz‘ ich mal noch eins drauf:
Jeweils genau einen Mausklick entfernt sind die Definitionen. Realität hier, Fakten hier.
🙂
„Universelle Invarianten“ kann man natürlich in der Gesellschaft genausogut finden wie in der Natur, und auch die ist immerzu eine andere. Weiß man seit Heraklit. Der ganze klangvolle Satz ist also innen hohl. Werden wir mal konkreter und kommen wir noch einmal zurück auf Foucault, s. o., der von Dir ja mit eben jenem Zitat approbiert ist („für mich akzeptabel ist der Volksverpetzer, wenn er Foucault zitiert“), das ich ihm ankreide. Du hast gesagt, weil die Gesellschaft nicht denkunabhängig sei, gelte die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht – aber welche andere Wahrheitstheorie vertritt Foucault dort (abgesehen davon, wie er mit ihr umgeht)?
Foucault geht es wohl nicht um die Natur der Dinge und um die Wahrheit, sondern um die Ordnung der Dinge. Die ist menschengemacht. Es würde mich sehr wundern, wenn Foucault eine Wahrheitstheorie verträte.
„die Ordnung der Dinge. Die ist menschengemacht.“ – Ach, und Dinge ohne Menschen haben keine Ordnung? Dann solltest Du wohl die Antwort auf die hier gestellte Frage parat haben: Wie ist denn das nun, waren vor der Existenz des Menschen die Dinge einfach da oder nicht? Oder ist das eine ganz neue Art von Chaostheorie? Und unterstellen wir mal, dass Foucault von Wahrheit spricht, aber keine Ahnung hat, was er damit gemeint hat – dem Leser zumindest wird sich doch eine Vermutung aufdrängen?
Und das sagt jemand, der bei seinem Gegenüber Rabulistik diagnostiziert.
Wir alle kennen Wahrheiten, immer bezogen auf einen Denkrahmen. Im Rahmen der Arithmetik ist 2 + 3 = 5 eben wahr. Im Rahmen einer Taxonomie kann der Satz „Das ist eine Ente“ wahr sein. Die Realität stellt uns keinen passenden Interpretationsrahmen zur Verfügung. So ist der Satz von Heinz von Foerster zu verstehen: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“.
Erneut genau einen Mausklick von hier findest Du:
Wenn wir eine Chance haben wollen, Chaos-Techniker vom Trump-Typ einzuhegen, dann brauchen wir mehr als das Gefühl der Überlegenheit. Die Gewissheit, im Besitz der Wahrheit zu sein, hilft nicht. Kellyanne Conways alternative facts sind niederträchtig und wirksam. Fakten sind das, worauf sich die Mitte geeinigt hat. Wahrheit wird nicht gebraucht. (Wie Sie sehen, lasse ich mich auf den spöttischen Ton nicht ein. Die Sache ist mir viel zu ernst.)
„Wie Sie sehen, lasse ich mich auf den spöttischen Ton nicht ein“ – aber auch nicht auf einen vernünftigen. Fakten sind nicht das, worauf man sich geeinigt hat (das wäre eine Diskurs- oder Konsenstheorie; vgl. noch hier), und wie in aller Welt soll es etwas anderes als Spott sein, wenn jemand gleichzeitig erklärt, er lehne alternative Fakten ab und er halte die Wahrheit für unnötig?
„Im Rahmen einer Taxonomie“
Foucault hat sich ja an C. v. Linne abgearbeitet, besser gesagt an „seiner“ Taxonomie. Diese soll als Beispiel herhalten, dass solche Klassifikationssysteme beliebig, historisch und kulturell hergeleitet seien. So könnte man Enten und Krokodile in eine Kategorie packen: Tiere, die im Wasser schwimmen.
Die biologische Taxonomie ist aber nicht beliebig, sie ist zwingend. Weil die Evolutionsbiologie die Dinge ordnet, nicht Pappnasen.
Die biologische Taxonomie im Sinne von „wer hat welche gemeinsamen Vorfahren und wieso“ ist natürlich zwingend. Die Sortierung, die die Menschen daraus gemacht haben, schon nicht mehr, weil wir außer der Genetik noch andere Schubladen haben, in die diverse Arten reingehören. Und hoppla, kaum lernen wir was dazu, müssen wir umsortieren.
(Vom zweiten Teil des Namens einer Art ganz zu schweigen. Frösche nach David Bowie zu benennen ist nunmal alles Andere als zwingend …)
Da kommt bei nicht-Wissenschaftlern schon mal die Idee auf, dass das Ganze ein bisschen sehr vom Blickwinkel abhängt. Den Hauptvorwurf, den man Foucault und Konsorten machen muss, ist, dass sie ex cathedra herumgesülzt haben, ohne von dem, über das sie da sülzen, die leiseste Ahnung zu haben.
Kann mir eigentlich jemand erklären, wie diese Truppe überhaupt auf die Idee kommt, die Existenz objektiver Tatsachen schlicht zu negieren? ich begreife es nach wie vor nicht.
@ Elender
Aus dem Abstract des Artikels Taxonomie im Wandel: „Die Taxonomie erlebt heutzutage tiefgreifende Veränderungen. Molekulare Methoden wie DNA-Barcoding sind mittlerweile fester Bestandteil moderner taxonomischer Forschung[…] Zusätzlich ebnet die beginnende Digitalisierung taxonomischer Daten sowie ihre Vernetzung den Weg zu einer dynamischen Cyber-Taxonomie.“
Vor Jahren habe ich einmal vom Trend gelesen, Taxonomien sozusagen zu privatisieren: Manch ein Forschergrüppchen bastelt sich seine eigene.
Das zum Thema Wahrheiten.
Natürlich erlebt die Taxonomie Veränderungen, das ist das Wesen von Wissenschaft. Es gibt heute einfach mehr an Beobachtungen und Methoden. Ursprünglich hat man sich nur auf phänotypische Merkmale bezogen, heute spielen auch molekulare Marker eine Rolle. Jetzt aber so zu tun, als würde man das ganze System nach Wetterlage umordnen, ist grotesk. Es sind Bereiche, in denen eine Klassifikation schon immer schwierig war, wo man überhaupt erst anhand molekularer Marker in der Lage ist, zu klassifizieren. Die Archaeen sind auch erst in den letzten Jahren zu einem eigenen Reich erklärt worden. Nicht, weil sich die Mode geändert hat, sondern weil neue Beobachtungen hinzugekommen sind.
Diese angebliche Beliebigkeit ist nicht grenzenlos, wie hier angedeutet werden soll. Wer sich auf „Wahrheiten“ einschießen will (die ewig sein sollen), der bastelt einfach Strohmänner. Es gibt den Spruch: Wir irren uns empor. Alles Wissen ist anhand der aktuellen Erkenntnis vorläufig. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen in manchen (sogar in vielen) Bereichen, aber nur, weil die Methoden und Datenlage (noch) keine Eindeutigkeit hergeben. Das System, das Linne ursprünglich begründet hat, gilt im Wesentlichen noch immer, auch wenn man es ständig erweitert und verfeinert.