Gender-Trubel und kein Ende

„Gender Trouble“ ist der Originaltitel des Buches über Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler. Wir wollen an einem Beispiel zeigen, welche Früchte diese konstruktivistische Philosophie in den letzten 30 Jahren so getragen hat.

Die Veröffentlichung der „S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ war für den 31.12.2023 geplant (hier). „S2k“ bedeutet „konsensbasiert“; die höhere Stufe in der Wissenschaftshierarchie wäre „evidenzbasiert“. Mit Schreiben vom 20. März 2024 teilte der Vorsitzende der Leitlinienkommission der Fachöffentlichkeit mit, der Entwurf (Volltext hier) könne bis zum 19. April kommentiert werden. Wie ernst das gemeint war, ist schwer zu sagen, denn „eine Änderung von Formulierungen der einzelnen Empfehlungen“ war „nicht mehr vorgesehen“, so das Anschreiben. Eine „Aufbereitung und spätere Darstellung der Inhalte eingegangener Kommentare“ ist aber angekündigt, wenn auch bisher kein Datum für die endgültige Publikation bekannt ist.

Inzwischen haben sich einige unvorhergesehene Dinge ereignet. Der Cass-Review ist erschienen, der die Evidenz zum Vorgehen der Gendermedizin gesichtet hat. Er wirft zahlreiche Fragen grundsätzlicher Natur auf. Eine 15-köpfige Gruppe von Experten kritisiert den Leitlinienentwurf heftig (hier). Der Deutsche Ärztetag verlangt einen zurückhaltenderen Einsatz von Pubertätsblockern und geschlechtsumwandelnden Therapien (hier). Insgesamt wird man wohl sagen dürfen: eine unübersichtliche Lage.

Wir haben uns entschlossen, die Verwirrung wenn möglich noch zu vergrößern und einige Einwände gegen diesen Entwurf zu formulieren, solange er noch dümpelt, und wir greifen dafür einige der zentralen Punkte aus dem 320 Seiten langen Text heraus. In der Einleitung heißt es:

Die Geschlechtsinkongruenz (GI) gilt als per se nicht krankheitswertig (S. 3)

Diese „Entpathologisierung“ führt zu paradoxen Ergebnissen. Entweder ist die Geschlechtsinkongruenz ein Risikofaktor für eine Störung oder sie hat keinen Krankheitswert – dann kann sie aber auch keine von der Allgemeinheit zu tragenden medizinischen Maßnahmen begründen. Der Vergleich mit der Homosexualität greift nicht, denn letztere begründet als solche keine medizinische Intervention, im Gegensatz zur persistierenden Geschlechtsinkongruenz. Für Homosexualität gibt es folgerichtig keine Leitlinie. Formal bestünde dann sogar eher eine Analogie zur Unzufriedenheit mit der eigenen Nasenform, die ebenfalls im Regelfall nicht auf Kassenkosten plastisch korrigiert werden kann. Der Pelz soll gewaschen werden, aber das Fell soll dabei trocken bleiben.

Zusammen mit einigen anderen Eigentümlichkeiten, zu denen wir gleich kommen, ist das ein Indiz für eine ideologische Grundierung der Leitlinie. In wünschenswerter Klarheit wird der Gedanke von Annette Güldenring formuliert: es handele sich bei der Geschlechtsidentität bzw. ihrer Inkongruenz um „eine ingeniöse Gewissheit“ [1], woraus sich gewisse ethische Folgerungen ergeben würden. Was führt sie zu dieser Auffassung? Ihre Erfahrung, meint sie. Doch das ist noch keine Wissenschaft: andere könnten andere Erfahrungen haben. „Ich spreche nur die Wahrheit“, wird sie sagen, aber das behauptet alle Welt.

Bei epidemiologischen Daten zur TGD-Population wird empfohlen, die Begriffe „Inzidenz“ und „Prävalenz“ zu vermeiden, da sie sich auf Krankheiten [6] beziehen. Dadurch soll eine Pathologisierung gender-nonkonformer Personen vermieden werden (Adams et al., 2017; Bouman et al., 2017). Stattdessen wird in den Standards of Care empfohlen, die Begriffe „Anzahl“ und „Anteil“ zu verwenden (S. 5f.)

Die Termini „Inzidenz“ und „Prävalenz“ haben eine Definition. Die vorgeschlagenen Alternativen sind alltagssprachlich, weisen also keine scharf umrissene Bedeutung auf und können deshalb kein Ersatz sein. Prävalenz ist gleich Inzidenz mal Dauer, aber Anzahl ist nicht gleich Anteil mal Dauer. Es stellt sich heraus, dass der Verzicht auf den Krankheitsbegriff auch den Verzicht auf Präzision mit sich bringt – in diesem Fall ein offenbar erwünschtes Ergebnis. Schon der Begriff der „Inzidenz“, die Zahl der jährlich neu auftretenden Fälle, bedeutet einen Verrat an der metaphysischen Unwandelbarkeit der Geschlechtsunzufriedenheit. Wenn man nicht von Inzidenz spricht, dann kann man sich leichter damit abfinden, dass alle Untersuchungen eine Zunahme der Diagnosehäufigkeit zeigen … aber darf man eigentlich von Diagnose sprechen, wertes Leitlinienkollektiv?

Die in der jüngeren Literatur berichteten zunehmend höheren Fallzahlen bestätigen die Vermutung, dass die Anteile gender-nonkonformer und trans Personen in der Bevölkerung in früheren Studien unterschätzt wurden (Olyslager & Conway, 2008). (S. 9)

Zunehmende Fallzahlen allein können nicht eine frühere Unterdiagnostik bestätigen; wie sollte das gehen? Das ist nur eine von drei prinzipiell infrage kommenden Erklärungen: daneben wären auch eine heutige Überdiagnostik oder eine tatsächliche Zunahme in Betracht zu ziehen. Diese beiden Möglichkeiten werden nicht beleuchtet, obwohl sie auf der Hand liegen. Bachmann et al. (hier) dagegen sprechen das furchtbare Wort beiläufig aus: sie meinen, der Anstieg lasse (neben vielen anderen möglichen Ursachen) auch an „… soziale Ansteckung, Überdiagnostik“ denken.

Das „Zuweisungsgeschlecht“ oder auch das bei der Geburt „zugewiesene Geschlecht“ (engl. „sex assigned at birth“) bezieht sich entsprechend der Begrifflichkeit der ICD-11 auf den Status einer Person als männlich, weiblich oder intersexuell, basierend auf körperlichen Merkmalen – in der Regel aufgrund des Aussehens der äußeren Genitalien – zum Zeitpunkt nach der Geburt. (S. 20)

Wir finden es bedauerlich, Trivialitäten wiederholen zu müssen: Bei Geburt wird die Geschlechtszugehörigkeit nicht zugewiesen, sondern festgestellt. Der Begriff der „Zuweisung“ impliziert eine gewisse Wahlfreiheit, die auch unangemessen oder leichtfertig ausgeübt werden könnte. Eine solche Wahlfreiheit existiert jedoch nicht. In der Leitlinie fehlt eine Definition des biologischen Geschlechts, welches zu ignorieren absurd wäre. Der Umstand, dass diese Sprachregelung sich dennoch durchgesetzt hat, spricht nicht dafür, dass es sich bei dem gesamten Themenkomplex um ein ideologiefreies Terrain handelt.

Wie anhaltend ist die Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschlecht

Kommen wir zu einem Kernpunkt, der Frage nach der zeitlichen Stabilität des individuellen Wunsches nach Geschlechtsumwandlung. Tab. 2 (S. 36) fasst die wenigen Kohortenuntersuchungen, die sich mit dieser Frage befassen, zusammen:

Wie leicht zu sehen ist, liegt der Anteil der Kinder, bei denen der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung über die Beobachtungszeit anhält, insgesamt zwischen 12% und 37%. Der Leitlinienentwurf dagegen behauptet allen Ernstes:

Die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse zeigen erwartungsgemäß, dass die jeweils ermittelten Persistenzraten […] erheblich variieren. Dies schränkt die Verallgemeinerbarkeit […] stark ein.

Das ist nicht der Fall. Wenn die Autoren davon sprechen, dass die „Persistenzraten für eine Geschlechtsdysphorie im Jugendalter zwischen 13% und 63%“ (S. 38) liegen würden, ist man verpflichtet, sich die letztere Zahl etwas genauer anzusehen. Es handelt sich hierbei um den Anteil unter Ausschluss der „Non-Responder“ (in einer einzelnen Untersuchung), d.h. derjenigen, die für die Nachuntersuchung nicht erreichbar gewesen sind. Auf ähnliche Weise wurde früher die Wunderkraft von Marienstatuen bei Kinderwunsch bewiesen. Gezählt wurden nur die eingetretenen Schwangerschaften, nicht die erflehten. Hat sich was mit „ingeniöser Gewissheit“.

Wenn tatsächlich die Persistenzraten in allen Untersuchungen deutlich unter 50% liegen, dann sind sehr wohl Schlüsse nicht nur nicht unmöglich, sondern geboten. Oder anders: die Gendermediziner sind in der Lage, aus einer reversiblen Dysphorie einen iatrogenen (d. h. vom Arzt verursachten) irreversiblen Körperschaden zu machen, und es gibt keinen Prognoseindikator, der sie davon abhalten kann („keine Mindestdauer und keine klaren Kriterien für eine Prognose der Persistenz für die Zukunft“, S. 137).

Verbrannte Erde

Frühere Forschungsergebnisse, z. B. über das Verhältnis von Homosexualität zu Wünschen nach Geschlechtsumwandlung, werden erledigt, indem auf den Einfluss des historischen Kontexts verwiesen wird (S. 31). Davon ist natürlich keine Forschung ausgenommen, auch die heutige nicht. Ähnlich heißt es bei der Erwähnung der Komorbiditäten (der begleitenden psychischen Störungen), sie dürften nicht als „Ko-Ätiologie“ (d. h. als mit der Geschlechtsdysphorie gemeinsam entstanden) gesehen werden, denn dann würde es sich um „primär theoriegeleitete Vorannahmen“ handeln (S. 61). Selbst bei allergrößter Gelassenheit wird man eingestehen müssen, dass auch die gegenteilige Ansicht eine primär theoriegeleitete Vorannahme ist. Jeder Leser darf sich selbst fragen, wie weit ihn diese Pauschalkritik trägt. Wir deuten eine Richtung an: gemeint ist vermutlich, dass die früheren Forscher die Erkenntnisse über Nichtbinarität usw. noch nicht verinnerlicht hatten. Auch hier hatte Güldenring Pionierarbeit geleistet. Die vorherigen Generationen von Fachvertretern waren „die Symptomträger einer tief sitzenden Angst vor dem Phänomen Transidentität/Transsexualität“, was sie „apodiktisch und diskrimierend gegenüber Trans*menschen handeln“ ließ. Sie hatten „verbrannte Erde“ hinterlassen [1].

Der opake Kern der Leitlinie, die „affirmative Grundhaltung“, kann hier nur gestreift werden, aber sie muss uns ein ausführliches Zitat wert sein.

Psycholog_innen verstehen die Geschlechtszugehörigkeit als nicht-binäres Konstrukt (S. 96).

„Es gilt, die trügerische Vorstellung von der Möglichkeit einer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung aufzugeben, die dem System einer hetero- und cis-normativen Zweigeschlechtlichkeit verpflichtet ist. Diese Vorstellung bildet die Lebenswirklichkeit der uns begegnenden Menschen und auch die Lebenswirklichkeit der Behandler_innen nicht ab“ (Dietrich, 2021, S. 64). Und weiter: „Nur wenn wir das Konzept eines ergebnisoffenen Vorgehens ernst nehmen und das Wandelbare der menschlichen Identität und auch des Geschlechtsidentitätserlebens als Therapeutinnen anerkennen, können wir schon zu Beginn der Begleitung verbal wie nonverbal signalisieren, dass all das, was die hilfesuchende Person empfindet, seinen Platz in der Therapie haben soll.“ (Dietrich, 2021, S. 65). (S. 97)

Ethischer Anspruch und logische Konsistenz stehen hier in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis. Wenn wir „das Wandelbare der menschlichen Identität“ anerkennen, dann müssen wir selbstverständlich auch die Wandelbarkeit eines Wunsches nach Zugehörigkeit zum jeweils anderen Geschlecht – oder zu gar keinem – annehmen. Die normative Kraft des Faktischen, der biologischen Realität wird mit dieser Sprachregelung schlicht negiert. Nonbinarität findet im täglichen Leben nicht statt, oder wenn dann extrem selten. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts 2017 hatten insgesamt „20 Personen beantragt, ihren Geschlechtseintrag auf „divers“ ändern zu lassen (Stand Mitte April [2019])“ (DIE ZEIT, 9. Mai 2019, S. 39). Die Auffassung von der Geschlechtszugehörigkeit als „nicht-binär“ und „Konstrukt“ geht auf die einflussreiche aber wissenschaftsfeindliche und gesellschaftspolitisch reaktionäre [2] Essayistik von Judith Butler zurück und sollte in einer medizinischen Leitlinie keinen Platz haben.

Diese bedingungslos akzeptierende Grundhaltung steht nicht im Widerspruch zur für professionell Helfende gleichsam bedeutsame Kenntnis einer großen Variationsbreite von Entwicklungsverläufen (S. 97)

Doch, sie steht in einem eklatanten Widerspruch zum variablen Outcome, wenn der/die noch selbstunsichere Jugendliche in der Praxis nicht ergebnisoffen, sondern auf die Transition als alleiniges Ziel hin beraten wird und der Therapeut/Berater, gestärkt von einem Katechismus, gefestigter in dieser Zielvorstellung als der Patient/Ratsuchende ist. Ist es denkbar oder möglich, dass ein Kind, dem der Sportunterricht lästig ist, unter Hinweis auf seine Besonderheit die Umkleidekabine meidet? Es scheint sich bei der bedingungslosen Affirmation um eine programmatische aber unrealistische Formel zu handeln, die eher einer Parteinahme in einem imaginierten Kampf als einer therapeutischen, professionellen Distanz entspricht. Was kann hier helfen? Beschwörung:

In den Guidelines for Psychological Practice with Transgender and Gender Nonconforming People (APA, 2015) sind hierzu folgende fachlichen Statements relevant: […] Psycholog_innen verstehen […] Psycholog_innen versuchen […] Psycholog_innen sind der Auffassung, […] Psycholog_innen sind der Ansicht […] (S. 98, 99)

Nach Stil und Inhalt handelt es sich hier um einen Moralkodex, ein Glaubensbekenntnis, aber nicht um eine wissenschaftliche Guideline. Ein Credo ist eine formelhafte Bekräftigung von Inhalten; es dient der Abwehr von Bedenken.

Roma locuta, causa finita est

Worauf stützen sich die Leitlinienautoren?

In Deutschland sind Therapieversuche bei Minderjährigen mit einer solchen „reparativen“ Intention (sog. Konversionsbehandlungen zur Veränderung der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität) seit 2020 zudem strafbar (Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen, BGBl. I, S. 1285). Daher bedarf es hierzu keiner eigens konsensbasierten Empfehlung in dieser Leitlinie. (S. 98)

Roma locuta, causa finita est (Rom hat entschieden, die Sache ist erledigt). Diese Überlegung ist insofern folgerichtig, als sie auf den postulierten Nicht-Störungscharakter der Geschlechtsinkongruenz abhebt. Ihre externe Begründung ist jedoch fehlerhaft, soweit sie die Anziehung einer empirischen Grundlage durch die Berufung auf das Gesetz ersetzt. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass die Gesetzeslage inkonsistent ist (vgl. die Binnenanerkennung der besonderen Therapierichtungen oder die Verordnungsfähigkeit von Cannabis). Auch medizin-ethische Grundpositionen halten gelegentlich einer näheren Inspektion nicht stand. Und es wäre auch nicht das erste Mal, dass eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst erstellte Leitlinie wissenschaftlich scheitert [3].

Die in der medizinischen Fachwelt geführten Kontroversen um somatomedizinische Interventionen bei Jugendlichen mit diagnostizierter Geschlechtsinkongruenz (GI) bzw. Geschlechtsdysphorie (GD) werden häufig vordergründig über Argumente zur unsicheren Evidenz für diese Altersgruppe ausgetragen, berühren dabei aber im Kern ethische und rechtliche Fragen (S. 238)

Auf diese Weise werden Fragen nach Evidenz unter Verweis auf ethische Fragen delegitimiert. Tatsächlich aber ist eine Ethik inakzeptabel, die ihre Postulate im Widerspruch zur Evidenz, zur systematisch geprüften Faktenlage, entwickelt.

Im Text der Leitlinie kommt der Wortstamm „ethi*“ insgesamt 140 mal vor; der Wortstamm „empir*“ 31 mal. Die Mehrzahl der Treffer bei letzterem steht in einem negativem Zusammenhang („kein empirischer Beleg“, „durch empirische Evidenz bisher nicht zu untermauern“ o. ä.). Ethik ersetzt die Empirie.

Insgesamt bleibt das Desiderat einer ideologiefreien Perspektive, die allein sachgerechtes Handeln ermöglicht. Die biologischen Tatsachen werden sich nicht nach den ethischen Regeln richten und sich nicht funktionell oder auch nur ästhetisch mit medizinischen Mitteln vollständig revidieren lassen. Es wird auch in Zukunft nicht möglich sein, mit einer Transidentität konfliktfrei und unauffällig zu leben. In manchen öffentlichkeitswirksamen Fällen scheint es sogar zweifelhaft, ob das überhaupt angestrebt wird. Die Transformation der Gesellschaft nach den Vorstellungen von Gender Studies und Critical Studies ist eine Illusion, weil die theoretischen und faktischen Grundlagen dieser Ideologien defizitär sind.

„Man kann nicht beides haben, Erkenntnis und Illusion. Oder besser: Man kann sie nicht widerspruchsfrei beide haben. Vielleicht lernt es die Menschheit noch, systematisch inkonsistent zu sein. Es werden ernsthafte Anstrengungen unternommen, genau dies zu erreichen.“
– Ernest Gellner, Descartes & Co. Von der Vernunft und ihren Feinden, 1995


  1. : Güldenring, A.-K. (2013). Zur ,,Psychodiagnostik von Geschlechtsidentität“ im Rahmen des Transsexuellengesetzes. Zeitschrift für Sexualforschung, 26(02), 160-174.
    doi:10.1055/s-0033-1335618
  2. : Sanbonmatsu J. (2015). „Postmodernism and the Corruption of the Critical Intelligentsia“, in: Smulewicz-Zucker/Thompson: Radical Intellectuals and the Subversion of Progressive Politics: The Betrayal of Politics, S. 47-54
  3. : vgl. die AWMF-Leitlinie Hörsturz. Die komplette Diskussion in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 107, Heft 11, 19. März 2010 S. 195-197

6 Gedanken zu „Gender-Trubel und kein Ende“

  1. Ein paar Überlegungen:

    Es existiert auch eine S3-Leitlinie zur Geschlechtsinkongruenz bei Erwachsenen (https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/138-001 – gerade in Überarbeitung). Der gleiche affirmative Ansatz inklusive der „16 Gebote für den APA-Jungpionier“. Ich habe überdies ein gewaltiges Problem, daß in dieser Leitlinie der gender-affirmative Ansatz als „menschenrechtsbasiert“, „menschenrechtskonform“ und „menschenrechtsorientiert“ gelabelt ist – als ob eine abweichende Meinung zum Thema zur Folge hätte, daß automatisch Menschenrechte mißachtet würden. In Bezug auf das Recht auf körperliche Unversehrheit von Kindern kann sich ein solches Framing für die Autoren zu einem Bumerang entwickeln.

    Als Begründung, weshalb die Leitlinie für die Kinder und Jugendlichen nicht wie geplant auf S3-Niveau, sondern auf S2k-Niveau ausgearbeitet werden soll, wird in (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/150071/Neue-S2k-Leitlinie-zu-Geschlechtsinkongruenz-und-dysphorie-im-Kindes-und-Jugendalter-vorgestellt) ausgesagt: „Die Voraussetzungen für eine S3-Leitlinie konnte (sic) aktuell aber nicht erreicht werden. Dafür hätten mehr als 50 Prozent der Empfehlungen evidenzbasiert sein müssen.“
    Es stimmt, daß es diesbezüglich eine Empfehlung der AWMF gibt, so zu verfahren.
    Die Autoren des Leitlinienentwurfs geben im übrigen an, daß eine systematische Literaturrecherche erfolgt sei in Analogie zur S3-Leitlinie.
    Die Autoren können aber nicht beides haben: Entweder wenden sie die strengen Kriterien einer S3-Leitlinie an – dann müssten sie feststellen, daß sie kaum iregendwelche Empfehlungen abgeben können. Oder aber sie machen ganz deutlich klar, daß die Empfehlungen der Leitlinie zwar konsensbasiert sein mögen, aber letztlich vollkommen subjektiv. – Fatal in Verbindung mit der Tatsache, daß die Arbeitsgruppe fast ausschließlich aus Befürwortern des gender-affirmativen Ansatzes bestand.

    Die Kritiker des Leitlinienentwurfs weisen in ihrem Statement (https://www.zi-mannheim.de/fileadmin/user_upload/downloads/forschung/KJP_downloads/Gemeinsame_Kommentierung_Leitlinienentwurf_S2k-240521.pdf) darauf hin, daß es bei Identitätsäußerungen häufiger es zu widersprüchlicher und zirkulärer Logik komme (S. 6 ff). Interessanterweise würde ich mich selbst davon (cissexueller Mann) auch nicht ausnehmen: Ich bin ein Mann, weil ich mich männlich fühle. Und die Essenz, an der ich mein Männlichsein festmachen kann, ist in der Tat der biologische Befund mit primären und sekundären Geschlechtsorganen und -merkmalen. Sicherlich nicht kulturell wandelbare Rollen oder irgendwelche Erwartungen meiner Umwelt an mein Verhalten. Vielleicht bin ich auch nur etwas einfach gestrickt, aber alles andere konstruiert die Geschlechtlichkeit anhand von Klischees. Und genau diese Klischees zu durchbrechen, ist (durchaus mit Recht!) Anliegen nicht nur „traditioneller“ Feministinnen, sondern auch derer, die sich gender-affirmativ positionieren. Ich sehe hier eine letztlich nicht auflösbaren Widerspruch in deren Bemühen.

    Letzter Punkt: Die Pathologisierung. Am Beispiel der Homosexualität läßt sich sehr gut illustrieren, wie manche psychiatrische Diagnosen mit der Kultur verbunden sind, in der sie entstehen. Auf der anderen Seite hat nicht jede seelische Befindlichkeitsstörung einen Krankheitswert – man denke nur an die Trauer nach dem Tode eines Angehörigen, Liebeskummer und so weiter. Im Falle der Genderdysphorie jedoch nicht von einer Pathologie zu sprechen, obwohl hier doch massive somatische Eingriffe die Folge sein könnten, ist dagegen schon eigenartig, gelinde gesagt. Ist das Problem nicht vielmehr, daß die Stellung einer explizit psychiatrischen Diagnose in unserer heutigen Gesellschaft noch immer viel zu oft mit einer massiven Stigmatisierung einhergeht? Sollten wir also uns nicht eher darüber Gedanken machen, wie wir mit Menschen z.B. mit Depression, Psychosen und Suchterkrankungen angemessener umgehen sollten?

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  2. vorab: Ich stecke nicht besonders tief in der Thematik, sagt also gerne wenn meine Fragen zu doof sind. Ich lern gerne dazu 🙂

    Soweit ich weiß, geht es bei der Behandlung von Transkindern nur um 2 Dinge:
    – psychologische Betreuung
    – die Gabe pubertätsverzögernder Mittel, damit das Kind alt genug bzw. kein Kind mehr ist wenn/falls es sich für eine körperliche Transition entscheidet. Die sind also genau dazu da, dass sich der Körper nicht zu früh verändert.

    Von welchem „irreversiblen Körperschaden“ ist hier denn die Rede? Werden in dem Papier andere Behandlungen genannt?

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  3. Pubertätsblocker sind nicht einfach nur Verzögerer. Sie sollen ja eigentlich eingesetzt werden, um Zeit zu gewinnen, damit das Kind sich klar werden kann, was er/sie mal sein will. Dummerweise blockieren sie auch die Libido, und damit ist die Grundlage für diese Entscheidungsfindung futsch. Und wenn sie länger als X Jahre eingenommen werden, je nach Alter, dann sind es halt Pubertätsverhinderer.

    Außerdem ist u.A. von Problemen mit dem Knochenwachstum und geringerer Intelligenz die Rede, aber ich habe keinen Überblick wie valide die betreffenden Studien sind.

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  4. Soweit ich weiß, geht es bei der Behandlung von Transkindern nur um 2 Dinge:
    – psychologische Betreuung
    – die Gabe pubertätsverzögernder Mittel

    Leider ist das nicht richtig. Selbstverständlich werden auch Jugendliche „geschlechtsangleichenden“ (ein Euphemismus) Behandlungen unterzogen (Leitlinienentwurf S. 120 ff, explizit Punkt 6.3, S. 163ff).

    Die Pubertätsblocker sind ausführlich Thema im Cass-Review. Sie sind weder in ihren tatsächlichen Wirkungen noch in ihren Nebenwirkungen auch nur annähernd hinreichend erforscht. Zur Einführung ist zu erfahren:

    22. Preliminary results from the early intervention study in 2015-2016 did not demonstrate benefit. The results of the study were not formally published until 2020, at which time it showed there was a lack of any positive measurable outcomes. Despite this, from 2014 puberty blockers moved from a research-only protocol to being available in routine clinical practice and were given to a broader group of patients who would not have met the inclusion criteria of the original protocol.

    Zu ev. Nebenwirkungen:

    13.15 Puberty blockers are intended to be a short-term intervention and the impact of use over an extended period of time is unknown, although the detrimental impact to bone density alone makes this concerning.

    Allen Studien zufolge bleibt höchstens ein Drittel der Kinder/Jugendlichen beim Wunsch nach Geschlechtsumwandlung, und es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass dieser Wunsch sozial kontagiös ist (das wichtigste, aber nicht das einzige: die epidemische Zunahme). Die Gendermediziner haben keinen prognostischen Faktor gefunden, der den Verlauf voraussagen kann, und sie finden das auch nicht weiter bedeutsam. Früher sollte das Kind mehr oder weniger ergebnisoffen beraten werden („watchful waiting“, S. 93), heute verkündet der Leitlinienentwurf, dass das Kind bestärkt („validiert“) werden soll, ggf. in der sozialen Transition vor der Pubertät (S. 94). Aber dann ist der Zug abgefahren (s. Cass-Review), und die nächste Aufgabe der „Psycholog_innen“ ist, sich für die „Förderung eines sozialen Wandels“ einzusetzen (S. 99) – ein Anspruch, der allenfalls noch mit dem der Psychoanalyse auf Welterklärung vergleichbar ist und jedenfalls keine von den Krankenkassen zu finanzierende Aufgabe ist. Es ist aber schlicht nicht glaublich, dass dies angesichts der dokumentiert geringen Persistenzraten vernünftig sein kann.

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  5. hier ein paar Gedanken zu euren Kommentaren:

    „Pubertätsverhinderer“ finde ich ein wenig überzogen — den Leuten die sie einnehmen dürfte es ja kein Anliegen sein, das bis zu ihrem Tod zu tun — und sobald man sie nicht mehr nimmt geht die Pubertät los. Wie lange es therapeutisch sinnvoll ist wäre natürlich trotzdem gut zu wissen (weiß nicht, ob es Leitlinien dazu gibt).

    @pelacani, was sind das für „geschlechtsangleichende“ Behandlungen? Ein neuer Haarschnitt und Stimmtraining ist ja etwas anderes als eine kosmetische OP. Hast du da Daten?

    Natürlich stimme ich dir zu, dass man die Wirkungen und Risiken der Pubertätsblocker kennen sollte. Gibt es etwas, das gegen Erforschung spricht?

    Und das mit dem Drittel kannte ich nicht, welche Studie gibts da zB? Außerdem kenne ich keine Quellen zur „epidemischen Zunahme“.
    Wobei IIRC die Quellen zur „Social Contagion“-Theorie gut auf einzelne Akteur*innen der amerikanischen Evangelikalenbewegung zurückzuführen waren (In guter Verschwörungserzählungstradition, man zitiert sich so lange selbst bis es von anderen geglaubt wird). Wenn du möchtest, kann ich das nochmal raussuchen.

    Ich finde es durchaus erwartbar, dass die Zahl einer Personengruppe, die historisch wegdefiniert wurde auf einmal zunimmt sobald man anfängt sie zu zählen 😉

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  6. @pelacani, was sind das für „geschlechtsangleichende“ Behandlungen? Ein neuer Haarschnitt und Stimmtraining ist ja etwas anderes als eine kosmetische OP.

    Sei nicht so faul. Ich hatte gesagt, „(Leitlinienentwurf S. 120 ff, explizit Punkt 6.3, S. 163ff)“, und der ist im 2. Absatz des Haupttextes verlinkt (nochmal: hier).

    das mit dem Drittel kannte ich nicht, welche Studie gibts da zB?

    Haupttext, die dicke Tabelle im Mittelteil, nicht zu übersehen, und vgl auch #105, Link eingeführt von Ulrich Berger, mit exklusivem Zitat unten.

    Gibt es etwas, das gegen Erforschung spricht?

    Ja, der Leitlinienentwurf, denn der sieht da keinen Bedarf. Dagegen ist der Cass-Review mit Dir (und mir) ganz einer Meinung: Einsatz nur im Rahmen von Studien.

    Außerdem kenne ich keine Quellen zur „epidemischen Zunahme“.

    Bachmann et al, verlinkt über der Tabelle (nochmal: hier)
    Auch im Cass-Review, verlinkt im 2. Absatz des Haupttexts (nochmal: hier), S. 24, S. 72.

    historisch wegdefiniert

    Soll ich da auch nochmal den Haupttext zitieren, oder findest Du die Stelle selbst?

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