„MECFS“ – kann das psychisch sein?

Nachdem wir uns in Teil 1 mit der Problematik der Namensgebung befasst haben, kommen wir nun sogleich zu einer Kernfrage. Wir konzentrieren uns hier auf die negative Seite: die Einwände gegen die Annahme einer psychischen (Mit-)Verursachung von „MECFS“, wie sie vom Team um Carmen Scheibenbogen und Leonard Jason zusammengetragen werden.

Frau Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen, Institut für Medizinische Immunologie der Charité, ist eine der „renommiertesten Forscherinnen zu Long Covid und ME/CFS“ (DER SPIEGEL), und für Leonard A. Jason, Ph.D., DePaul University (Chicago), gilt dies mindestens im gleichen Ausmaß. In einem Text von Thoma et. al. [1] begründen sie ihre Meinung ausführlich. Sie gliedern ihre Ansicht in Themenkreise: 1) auch in der Vergangenheit seien organische Krankheiten fälschlich für psychosomatisch gehalten worden, 2) psychosomatische Modellvorstellungen widersprächen den Befunden, den Expertenmeinungen und der gelebten Erfahrung der Patienten, 3) die Forschung sehe „MECFS“ ganz überwiegend als organisch bedingt, und 4) bei allen chronischen Erkrankungen komme es zu psychischen Veränderungen. Ich werde auf zwei der mitgeteilten Aspekte genauer eingehen, bei den anderen werden kurze Anmerkungen genügen müssen.

Königlich frei: neurologisch oder hysterisch

Wie bereits in Teil 1 angedeutet, lautete der Krankheitsname einst „benigne myalgische Enzephalopathie“. (McEvedy 1970). Er wurde auf einen Fall von Massenerkrankung im Royal-Free-Hospital in London 1955 angewendet, über dessen Natur Uneinigkeit aufgekommen war: die Annahme einer infektiösen Ursache konkurrierte mit der einer vorwiegend psychischen (in damaliger Terminologie: hysterischen) Genese. Es scheint, dass sich letztere Ansicht in der Fachliteratur durchgesetzt hatte.

Thoma et al., die Arbeitsgruppe um Scheibenbogen und Jason [1], sagen dazu:

„In einer Veröffentlichung im British Medical Journal hatten McEvedy und Beard [56] ME/CFS als epidemische Hysterie angesehen, weil, – u. a. – vorwiegend Frauen (einschließlich von Krankenschwestern) betroffen waren. Dagegen zeigte eine kürzliche Reanalyse, dass das Auftreten der ME/CFS dem Muster bei Infektionskrankheiten gefolgt war [57].“

McEvedy und Beard hatten retrospektiv über den Royal-Free-Ausbruch vor mittlerweile einem Menschenalter berichtet. Gegen solche allein historisch interessanten Berichte anzukämpfen, deren Extrakt längst in den Kanon der Medizin übergegangen ist, hat a priori den Stich ins Lächerliche und bedürfte einer besonderen Begründung. Die Reanalyse von Waters et al. (die Quelle [57] in dem Zitat, [5]) benutzt ein mathematisches Modell zur Kalkulierung von Erkrankungszahlen bei kontagiösen Erkrankungen, adaptiert es, variiert zwei Parameter in dem Modell, lässt diese 3-6 Millionen Mal durchlaufen (,,We repeat steps 1–3 above for 3–6 million different values of Beta and Gamma“) und findet, dass es dann auf den Royal-Free-,,Ausbruch“ passt – alles klar, eine Infektionskrankheit. Dann nehmen sie die Inzidenzen einer Massenhysterie in Äthiopien mit 50 Fällen, und siehe, da passt es nicht, das Modell. Doch ist das SIR-Modell für die Feststellung, ob es sich bei diesen Inzidenzen um Infektionen handelt, weder konzipiert noch validiert, und einen Epidemiologen haben sich die Autoren, von denen keiner auf eine medizinische Qualifikation verweist, nicht ins Boot geholt. Über die Ursache (Ätiologie) von Erkrankungen muss man sich in anderer Weise Klarheit verschaffen (mehr Details dazu s. #181). Wie ist es den international angesehenen Fachexperten um Scheibenbogen und Jason gelungen, sich von Sinn und Aussagekraft dieser Reanalyse zu überzeugen?

Es ist jedoch aus anderen Gründen lehrreich, einen Augenblick bei McEvedy und Beard zu verbleiben. Ihr Report war nicht erst posthum angegriffen worden, sondern schon zur Zeit seines Erscheinens – von den Fachkollegen, die seinerzeit den ursprünglichen Bericht über den Royal-Free-Ausbruch publiziert hatten. Ramsay et al meinten damals: „Zur Zeit des Ausbruchs war die Diagnose einer Hysterie ernsthaft erwogen worden, aber das Vorkommen von Fieber in 89%, von Lymphknotenschwellungen in 79%, von Augenmuskellähmungen in 43% und von Gesichtslähmungen in 19% machte sie unhaltbar“ [2]. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder die Gruppe um Ramsay hatte nicht die Fertigkeit, neurologisch zu untersuchen (wie man auf diese Idee kommen könnte, dazu s. #154, #159), und es ist eine Hysterie, oder aber Ramsay und seine Mitarbeiter haben Recht – dann hat die Royal-Free-Krankheit aber keinerlei Ähnlichkeit mit „MECFS“, wie es sich heute präsentiert, und in beiden Fällen bleibt unklar, welche Schlüsse Thoma, Scheibenbogen und Jason ableiten wollen (mehr Details zu diesem Komplex noch s. #153).

Die gezeigte Evidenz

Empirische Belege für die Abwesenheit psychischer Faktoren in der Verursachung der Erkrankung sind schon aus methodischen Gründen selten – die Nicht-Existenz von etwas ist nun einmal schwer zu beweisen. Doch es gäbe solche Hinweise, meinen Thoma et al.[1]. Sie formulieren:

„In krassem Gegensatz zu diesem weitverbreiteten Glauben [„MECFS“ als psychosomatische Krankheit] spricht die Evidenz nicht für eine psychosomatische Verursachung von ME/CFS [41].“

[41] ist eine prospektive Kohortenuntersuchung (von Jason himself und Kollegen) über die Häufigkeit von „MECFS“ nach Infektionen mit infektiöser Mononukleose [3]. Dort wurden einige Basis-Fragebögen psychischer Natur von 4500 Studenten ausgefüllt. Sie ziehen den Schluss, dass dienigen, die ein „MECFS“ entwickelt haben, mehr körperliche Symptome und immunologische Auffälligkeiten hatten, aber nicht mehr psychische Symptome als die Vergleichsgruppe. Dagegen hält das begleitende Editorial des Fachjournals fest, dass diejenigen, die nach der infektiösen Mononukleose eine chronische Schwäche entwickelt haben, schon schwach gewesen waren, bevor sie die Infektion hatten [4]. Die Ausgangslage (baseline) war also in gewisser Weise gar nicht prämorbide; und als empirischer Beleg für die vertretene These ist das Studienergebnis wohl überinterpretiert (mehr Details dazu s. #80, #82).

Sonstige Punkte

Zu 1) auch in der Vergangenheit seien organische Krankheiten fälschlich für psychosomatisch gehalten worden. Das ist zweifellos korrekt. Das Problem ist nur, dass das Magengeschwür (Ulcus duodeni) schon vor der Entdeckung des auslösenden Bakteriums Helicobacter pylori sein pathologisches Substrat, d. h. seinen Biomarker, hatte, während ein solches vom Hirnnebel bisher nicht aufzudecken gewesen ist. Es handelt sich bei der Mehrzahl der Symptome des „MECFS“ eben um psychische Symptome (vgl. #119); die Fatigue-Schwäche bei „MECFS“ ist nicht das, was der Neurologe unter Lähmung (Parese) versteht. Die Meinung, dass so gut wie alle Krankheiten einst für psychosomatisch gehalten worden seien („Several, if not all, organic diseases known today have, at some point in history, been attributed to psychosomatic factors“), ist jedoch eine krasse, das Absurde streifende Überzeichnung. Ihre voreilige Verinnerlichung mag vielleicht als Erklärung für die verunglückten aber unverdrossenen Versuche herhalten, Parallelen zur Multiplen Sklerose zu finden (vgl. #42, #88, #91; auch Böhmermann hatte sich damit hervorgetan) oder gar zum Morbus Parkinson (vgl. #366).

Zu 2) psychosomatische Modellvorstellungen widersprächen den Befunden, den Expertenmeinungen und der gelebten Erfahrung der Patienten. Zu den Befunden bezüglich des „PEM“, dem Kernsymptom des „MECFS“, und der Biomarker wird eine ausführlichere Erörterung vonnöten sein. Was die Expertenmeinungen angeht, so stellen sie a priori die unterste Ebene der Evidenzhierarchie dar und können nicht als Beweis gelten. Überdies lässt sich ihre Einmütigkeit nur um den Preis hochselektiver Wahrnehmung feststellen. Und die gelebte Erfahrung der Patienten ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal für das „MECFS“. Die durchaus gewöhnliche, verbreitete Antwort von Patienten auf die Andeutung psychischer Hintergründe bei gleich welcher Störung ist: „ich bilde mir meine Krankheit doch nicht ein!“

Zu 3) die Forschung sehe „MECFS“ ganz überwiegend als organisch bedingt. Hier wird zunächst auf die kürzliche Revision der „MECSF“-Verkennung als hysterisch hingewiesen, die wir oben ausführlicher kommentiert haben. Ganz allgemein ist zu vermerken, dass diese Charakterisierung für zahlreiche andere Erkrankungen mit unsicherem nosologischen Status genauso gegolten hat, so zum Beispiel für die vegetative Dystonie, von der heute niemand mehr spricht, oder für das Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Selbst die Hysterie hatte das einst für sich in Anspruch nehmen können.

Zu 4) schließlich, bei allen chronischen Erkrankungen komme es zu psychischen Veränderungen. Das ist natürlich richtig, aber auch trivial. „Zwei Dinge trüben sich beim Kranken, a) der Urin, b) die Gedanken“, sagt Eugen Roth (1895-1976). Allein interessant wäre, ob es psychische Veränderungen gibt, die der Erkrankung vorauslaufen; eine Frage, die gewöhnlich von den Experten nicht gestreift wird, und Verf. wäre für den Hinweis auf ein Papier von Frau Prof. Scheibenbogen dankbar, in dem sie beleuchtet wird.

Schlussfolgerungen

Thoma et al. [1] folgern, dass noch einige Bildungsarbeit zu leisten sei, um der Anerkennung von „MECFS“ als organische Krankheit zum Durchbruch zu verhelfen. Mit der hier referierten Argumentation stehen sie sich dabei jedoch selbst im Wege. Das Ziel, die Inkonsistenz des psychosomatischen Ansatzes zu zeigen, ist jedenfalls weit verfehlt worden.


  1. : Thoma et al: Why the Psychosomatic View on Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome Is Inconsistent with Current Evidence and Harmful to Patients, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38256344/ Alle Übersetzungen durch Verf.
  2. : „‘while a diagnosis of hysteria had been seriously considered at the time of the outbreak, the occurrence of fever in 89%, of lymphadenopathy in 79%, of ocular palsy in 43% and of facial palsy in 19% rendered it quite untenable’.“ Compston et al 1970, zit. n. Ramsay A: Postviral Fatigue Syndrome: The saga of Royal Free disease (Gower Medical Publishing, London for the Myalgic Encephalomyelitis Association, 1986), S. 32f.
  3. : Jason et al. https://academic.oup.com/cid/article/73/11/e3740/6048942
  4. : Feder HM, GP Wormser: https://academic.oup.com/cid/article/73/11/e3747/6122681
  5. : Waters FG et al, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/21641846.2020.1793058

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