In seinem Buch „Gewalt“ (welches hier sicher noch ausführlicher besprochen wird) erwähnt Steven Pinker eine witzige Methode, wie man sich in einer Notlage, historische Ereignisse vernünftig in Relation zu setzen, auch behelfen kann. Pinker vertritt in seinem Buch die These, dass Gewalt im Laufe des Zivilisationsprozesses massiv abgenommen habe. Unter vielen anderen Hinweisen und Belegen erwähnt er die Methode des Historikers Rein Taagepera, um die so genannte „historische Kurzsichtigkeit“ deutlich zu machen: Er hat einfach mit dem Lineal gemessen, wieviele cm in einem (oder auch anderen) Geschichtsalmanachen über jeweilige Zeitperioden im Vergleich geschrieben wurden. Das Ergebnis verblüfft nicht wirklich – klar, je länger eine Zeit zurück liegt, umso weniger wissen wir davon -, aber dass es so deutlich ist, wie in der Grafik zu sehen, überrascht dann doch (man beachte: es ist sogar eine logarithmische Skala; 1, 10, 100 sind optisch gleichwertig):
Was hat das jetzt mit EsoWatch zu tun? Einiges – ist doch die Frage, ob es immer mehr irrationalen Unfug gibt oder ob wir ihn nur verstärkt wahrnehmen, eigentlich die gleiche. Man muss in der Beurteilung allgemeiner Trends sehr vorsichtig sein: es lauern diverse psychologische Fallen, die ein jeder kennt, aber trotzdem nicht dagegen gefeit ist. Nachrichten sind immer Berichte über Außergewöhliches oder Unerfreuliches; dass alles normal verlaufen ist, ist keine Nachricht. Gleichzeitig werden solche Nachrichten aber immer mehr – es gibt kaum mehr Hürden für die Relevanz einer Nachricht. So kann man schnell zu der subjektiven Ansicht kommen, alles werde immer schlimmer.
Die Gefahr, welche dieses Diagramm anschaulich darstellt, ist folgende: Es erfolgt eine Verzerrung in der Wahrnehmung, sozusagen in der Schärfe der Auflösung der Ereignisse. Ist heutzutage eine Revolution in Libyen etwas, das mit Sicherheit in die Geschichte eingeht, war es ein ähnliches Ereignis vor 4000 Jahren vielleicht nicht, vielleicht gab es viel Schlimmeres, das den Fokus beanspruchte – und ohne sich dieses Problems der Wahrnehmung bewusst zu sein, kommt man leicht zu Fehlschlüssen. Z.B. dass früher alles viel friedlicher war.
Mit dem Internet stehen wir hier vor einer im Prinzip ähnlichen Problematik – ist es wirklich anders geworden, oder nehmen wir nur anders wahr? Gemeinerweise gibt es darauf keine eindeutige Antwort im Sinne von „entweder – oder“, sondern es wird immer ein „sowohl als auch“ sein. Regelkreise, die sich gegenseitig verstärken, Wahrnehmung, die dezidierter wird, und alles zusammen gibt im besten Falle eine Tendenz. Umso erfreulicher, wenn man mit einem vergleichsweise simplen Werkzeug wie einem Lineal an so eine komplexe Fragestellung heran gehen kann und dadurch an Erkenntnis gewinnt. Fehlt noch ein Lineal für das Web 😉
Bezogen auf die aktuellen Nachrichten und das Verhältnis unterschiedlicher Gefahren würde das Maßband völlig in die Irre führen. Und die Menschen werden dadurch wohl tatsächlich fehlgeleitet.
Der Sicherheitsexperte Bruce Schneier sagt sogar, dass man sich um die Gewalttaten, über die die Medien berichten, keine Sorgen machen braucht:
https://www.schneier.com/blog/archives/2007/05/rare_risk_and_o_1.html
„I tell people that if it’s in the news, don’t worry about it.“
Die „Gefahr“ durch privaten Waffenbesitz wird politisch zur Zeit viel diskutiert. Zur Einordnung habe ich diese in meinem Blog ins Verhältnis zum Mehrwertsteueraufkommen durch das Schießen gesetzt, mit dem man ja leicht andere statistische Leben retten könnte.
Ein Geschichtsalmanach bezieht sich doch immer auf die Geschichte der Menschheit. Und die Menge an produzierter Geschichte pro Zeit (also die Menge an Informationen über die aufzeichnungswürdigen Ereignisse, die pro Zeit entsteht) nimmt sicherlich mit der Bevölkerungszahl zu. Möglicherweise linear (proportional zur von Menschen erlebten Zeit), möglicherweise quadratisch (proportional zur Zahl potentieller Kontakte) oder auch weniger stark als linear (wenn Menschen sich in großen Gruppen zusammenfinden (wie etwa Nationalstaaten) und nur die Geschichte dieser Gruppen aufgezeichnet werden muss).
Jedenfalls finde ich, dass im Diagramm zur historischen Kurzsichtigkeit die Bevölkerungszahl als weitere Kurve eingefügt werden sollte.
@Thomas Leske
Wie bringst du die unendlichen Terrabyte in ein metrisches Längenmaß?
Sind dann Daten aus der Vergangenheit noch mit denen von heute vergleichbar?
Bruce Schneider kann ich da nur zustimmen, daher sind auch die Kriegsberichterstatter der Antike mit Vorsicht zu genießen, die heutigen sowieso.
@quantumzero
Es geht mir nur um die Gewichtung verschiedener Gefahren in der heutigen Zeit. Für die gibt es keinen Almanach in einheitlicher Schriftgröße und klarer Ordnung von meinetwegen einem Abschnitt über Autounfälle gefolgt von einem über Flugzeugunglücke.
Die Metrik macht wahrscheinlich keinen großen Unterschied (bedruckte Fläche Papier oder einfach Anzahl gedruckter Artikel).
Ich frage mich auch, wieviele Seiten der Almanach wohl den Millionen Hungertoten unter Stalin witmet. Stalin wusste: „Der Tod eines Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik.“
Lineal fürs Web: Google hits?
xkcd macht da manchmal (scherzhafte) „Statistiken“ zu bestimmten Suchbegriffen!
zb.: http://xkcd.com/715/
Schade, dass er nicht weiter gegangen ist. Ich glaube vor allem für das Neolithikum wird es eine ziemliche Achterbahn für die Zeiten, über die wir viel wissen und über welche nur wenig bekannt ist.
Hehe.. schaut euch mal die Abstände von 1-10 und dann von 10-100 an. Identisch;) Ein netter Trick.Ich bin auch der Meinung, das sich der Mensch in den letzten 1000 Jahren evolutionär nicht wirklich weiterentwickelt hat.
Ähm, das ist kein netter Trick, sondern eine logarithmische Skala, wie explizit darauf hingewiesen …
In den letzten 1000 Jahren nicht, aber in den letzten 10’000 Jahren entwickelten wir Glutenabbau (via Umwege, eigentlich ein biologischer Beschiss) und Laktoseverträglichkeit im Erwachsenenalter. Insofern können auch wir uns immer noch ganz plötzlich anpassen.
Zum Thema: Es gibt Stämme der Khoisan, die keinen Krieg führen. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie sich peinlich an die Belastbarkeit ihrer Umwelt orientieren. Es gibt sogar die These, dass (grösstenteils) Sammler und Jäger eigentlich keine Kriege führen, da sie zu energieaufwändig sind. Erst Besitztum von Boden und Erblinien zusammen mit massiven Überschüssen aus der Landwirtschaft verleiten zu Überfällen von anderen oder anders organisierten. Möglicherweise liefert die Entwicklung der Landwirtschaft und die Verwertung fossiler Brennstoffe uns heute genügend Energie, dass wir in zivilen Zeiten und in Städten friedlicher werden.
Wehe uns, wenn die Kohle ausgeht…
Das stimmt. Soziologisch betrachtet kann man in afrikanischen Ländern beobachten, das in Regionen mit starkem Handel die ersten Häuser mit Zäunen zu sehen waren. Mein Fazit: Wer kein Eigentum hat, der lebt sicherer;)