Lesereise 1: Das Problem

Teil 1 unserer Serie zur Philosophie Bunges

Karl Popper schreibt 1982 an Hans Albert [2]:

Andererseits fürchte ich mich davor, einfachen gläubigen Menschen (ich meine nicht Theologen(!!)) ihren Glauben zu nehmen. Was wissen wir denn über diese Dinge? Nichts. Es ist richtig, dass es keine Auferstehung gibt. Aber es ist auch richtig, dass sich die Physik der Materie, sogar in den letzten 25 Jahren, grundlegend geändert hat: wir wissen nichts, sogar über die Materie, als dass sie ganz anders sein muss als zur Zeit Einsteins, Heisenbergs, Bohrs, Schrödingers. Und die Kosmologie steht auch vor Rätseln.

Selig sind, die da arm sind im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Mit Verlaub: Hier scheint mir der große Philosoph doch ein wenig schief gewickelt. Er wird den „einfachen Leuten“ ihren Glauben ohnehin nicht so einfach nehmen können – gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Fürchten muss er sich; aber davor, dass sie ihm das Haus anzünden. Außerdem: Wer schlicht ist, der ist auch manipulierbar, und: Soll das so bleiben? Weil wir nichts über die Materie wissen? Und ist es deshalb geboten, den einfachen gläubigen Menschen ihren Glauben nicht zu nehmen? Die einfachen gläubigen Menschen könnten mit ihrem Glauben Recht haben (wenn auch nicht die intellektuellen Winkeladvokaten des Glaubens, die Theologen)?

Wissen wir wirklich nichts über die Materie? Sind wir heute wirklich nicht weiter als Kant vor 200 Jahren, als Sokrates vor 2000 Jahren?

Mag sein, dass es die Materie gibt, aber der Materialismus ist nahezu sicher falsch, sagt Thomas Nagel [3]. Es ist mir nicht gelungen, in seinem Buch etwas zu finden, das einer Materie-Definition nahekommt – aber ich gestehe, ich habe es nicht komplett gelesen. Wenn man herausfinden will, was denn eigentlich mit Materie gemeint sein könnte, dann fällt auf: Ihre Existenz wird selten ausdrücklich infrage gestellt, aber was sie näher charakterisiert, worin sie sich vom „Geist“ unterscheidet, das wird ebenso selten erörtert [4]. Seit 100 Jahren scheint sie von den Fluten der Quantentheorie verschlungen zu sein, von Schrödingers halbtoter Katze gefressen und in der Heisenbergschen Unschärferelation aufgelöst.

Früher oder später begegnet man auf der Suche nach Klarheit dem Namen „Mario Bunge“, auch wenn dem bescheinigt wird, dass er in der analytischen Philosophie (das ist diejenige Richtung, die noch am ehesten einen „Physikalismus“ akzeptiert), nur eine marginale Rolle spiele (WP). Wenn man die Tippeltappeltour der Google-Suche beginnt, dann stolpert man sogleich über einen furchtbar übelgelaunten Verriss (hier), der über die „Armseligkeit“ von dessen Philosophie unterrichtet. Bei genauerem Hinsehen stellt sich aber heraus, dass der Rezensent vor allem eine Antwort auf seine Frage „Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts?“ vermisst. Dabei wäre diese Antwort nicht weiter schwierig: Weil Gott sich, so mutterseelenallein, tödlich gelangweilt hat [5]. Wer sich also von solcherart Rätsel nicht tangiert sieht, möge sich eingeladen fühlen, mit mir auf eine Reise in den Kosmos der Bungeschen Ideen zu gehen.

Mario Bunge

Es ist mir unmöglich, auch nur die großen Linien im gewaltigen Werk des Philosophen Mario Bunge (geb. 1919) nachzuzeichnen. Ich kann nur einige unsystematische Impressionen schildern. Dabei werde ich locker assoziieren. Auf jeden Fall aber werde ich rein subjektiv und willkürlich bleiben. Mein Leitfaden wird die Nachzeichnung meiner eigenen Begegnung mit Bunges Philosophie sein, und ich werde mir auch die eine oder andere Abschweifung leisten.

Über seinen Werdegang klärt Bunge selbst in seinem Buch Between Two Worlds: Memoirs of a Philosopher-Scientist (2016) auf, das schlaglichtartig – und mit Anekdoten gepfeffert – insbesondere im zweiten Teil auch seine Philosophie beleuchtet. Hier sei nur kurz erwähnt, dass er aus Argentinien stammt, von Haus aus Physiker ist und von 1966 bis 2009 Philosophie an der McGill-Universität in Montreal gelehrt hat.

Doing Science

Meine eigene Bekanntschaft begann mit Doing Science in the Light of Philosophy (2017). Ich dachte mir: er ist ein höchstbetagter Mann, der in seinem Leben viel geschrieben hat. Da ist es unausweichlich, dass er seine Ansichten vielfach revidiert, verfeinert, ausgebaut hat; dies ist sein bisher letztes Werk und wird es vielleicht bleiben. Sicher werde ich darin gültige Formulierungen finden. Und, Bingo!, schon in der Einführung heißt es:

Was den Zusammenhang von Wissenschaft und Philosophie angeht, denke man beispielsweise an die Untersuchung der qualia oder sekundären Eigenschaften, wie Farbe, Geschmack und Geruch. Als ich in den 1930er Jahren die Oberschule besuchte, musste man sich im Chemie-Unterricht die organoleptischen Eigenschaften der verschiedenen Substanzen einprägen, über die wir in den Büchern lasen, mit denen wir aber nie umgingen. Beispielsweise lernten wir, dass Chlor gelbgrün aussieht, beißend schmeckt und stechend riecht. All dies war richtig und im Labor nützlich, aber es trug nicht mehr dazu bei, Chemie zu verstehen, als zu lernen, wie man Flecken vom Laborkittel entfernt. [6]

Natürlich ist es möglich, diese Überlegung in eine philosophischere Sprache zu übertragen [7]. Gemeint ist: qualia entstehen (emergieren) in Nervensystemen, gewöhnlich auf äußeren Reiz hin, und sind damit Untersuchungsgegenstand der Psychologie oder Psychophysik, aber nicht der Chemie oder der Physik oder einer aprioristischen Philosophie.

In Kürze: während Phänomene nur in Gehirnen vorkommen, kommen Fakten überall im Universum vor. Noch kürzer: Phänomene ⊂ [Teilmenge von] Fakten. [8]

Jedenfalls machte das Mut weiterzulesen. Für diejenigen, die schon hier angefüttert sind und sich fragen, wie es weitergeht: Er wird schon auch noch deutlich weniger plaudernd, aber der ätzende, bisweilen lustvoll verkürzende Sarkasmus verliert sich nicht. Was mich jedoch am meisten beeindruckt hat: Als das Buch 2017 erschienen ist, war Bunge 98 Jahre alt, aber die Literaturliste umfasst Quellen bis 2016 – und nicht nur so nebenbei, angepappt, sondern ernsthaft rezipiert und integriert.

Teil 2 unserer Serie zur Philosophie Bunges folgt


  1. : Morgenstern M, R Zimmer (hg.): Hans Albert Karl Popper Briefwechsel 1958-1994 Frankfurt/M 2005, S. 249.
  2. : Nagel, Th: Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False, Oxford University Press 2012
  3. : Beispielsweise gibt es in dem Buch Görnitz Th, B Görnitz: Von der Quantenphysik zum Bewusstsein. Kosmos, Geist und Materie (2016), das den Begriff schon im Titel führt, zwar ein Kapitel „Was ist ‚Materie‘?“, aber nicht einmal ansatzweise den Versuch, diese Frage zu klären. Das Buch hatte eine enthusiastische Rezeption (wenn auch in der Laienpresse, d. h. dem Deutschen Ärzteblatt). Die Erörterung des philosophischen Materiebegriffs in der deutschen Wikipedia endet mit dem dialektischen Materialismus; der Artikel in der englischen kann bestenfalls als „stub“ durchgehen. Popper kommt ganz ohne aus (in Logik der Forschung), und auch sonst sind „Essentialismus“ oder „Ontologie“ für ihn entbehrlich. Wer das Problem hat, die äußere Welt bezeichnen zu müssen, aber der Anrüchigkeit entgehen möchte, greife zu dem geläufigeren Begriff „Naturalismus“; wer ein wenig mehr auf Krawall gebürstet ist, verwende „Physikalismus“.
  4. : Die Langfassung dieser Antwort kann der Rezensent inzwischen bei Bunge, Doing Science in the Light of Philosophy, New Jersey 1017, S. 18 finden.
  5. : Doing Science, Introduction
  6. : Ausführlich zu qualia z. B. in Bunge M: Chasing Reality: Strife over Realism, Toronto 2006, Kapitel 4, oder in Matter and Mind. A Philosophical Inquiry, Dordrecht 2010, Kap. 9.6.
  7. : Doing Science, Kap. 8.6.

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