Hanau, 19. Februar 2020, der Herr Professor Doktor Ohnemichel, und was man dazu wohl auch noch sagen darf

Nach den Mordtaten vom vergangenen Mittwoch ist die Bitte an Psiram herangetragen worden, wir möchten hierzu doch etwas schreiben. Dem kommen wir gerne nach. Und zwar mit ein paar Anmerkungen unter dem gemeinsamen Motto: Das wird man wohl noch sagen dürfen.

Das Blut der Opfer war noch nicht trocken, als die Apologeten bereits wussten, wo der Hase läuft: Ein „wirrer Einzeltäter“ habe gewütet. Wie wirr der Mordbube von Hanau tatsächlich war, wie individuell und unorganisiert er handelte, ist bis zu dieser Stunde nicht bekannt, vielleicht wird man es nie vollständig aufklären können; man kann ihn ja nicht mehr fragen. Auch wenn es starke Anzeichen für eine ernsthafte psychische Störung gibt: Das alles ist eine Frage der Auswertung von Indizien – schriftliche und mündlich überlieferte Äußerungen, Zeugnisse des Abgleitens in parallele Vorstellungswelten; das wird man sich genau ansehen und die gebotenen Schlüsse ziehen müssen. Nur: Am frühesten Morgen des Folgetages, um sage und schreibe 00:38 Uhr, als der Herr Prof. Dr. rer. pol. Jörg M. seine Diagnose meinte stellen zu müssen,

konnte darüber genau nichts bekannt sein. Was lehrt uns das? Der Herr Prof.Dr.rer pol., promovierter und habilitierter Volkswirt, im derzeitigen Hauptberuf Bundesvorsitzender einer Partei, die sich „Alternative“ nennt, hat eine knappe Stunde nach Vollendung der Tatenserie wie in einem Pawlowschen Reflex eine bei solchen Anlässen beliebig wiederholbare – und in der Vergangenheit gut bewährte – Phrase herausgehauen: Uns geht das doch nichts an!

Ein erstes, was man hierzu wohl noch sagen darf: Herr Professor Doktor Ohnemichel, so ein Geschwafel kotzt uns an. Wirklich, es kotzt.

Gesetzt einmal den Fall, der Mordbube (wie die anderen Mordbuben, von denen noch zu sprechen sein wird) wäre wirklich schuldunfähig gestört gewesen: Wie kommt es, dass der Wahn, die Errichtung von geschlossenen, manchmal sogar schlüssigen Gedankengebäuden auf völlig absurden Prämissen, sich mit Hass bis zur Bereitschaft zum Massenmord auflädt? Wie kommt es, dass dieser Tobias R. seinen Wahn mit genau diesen Inhalten füllte, die seit den bewussten Tabubrüchen der politischen Rechten die Echokammern der geschlossenen rechtsradikalen Weltanschauungen fluten? Naheliegend oder gar selbstverständlich ist die Aufladung eines Wahns mit Extinktionsphantasien nicht. Dazu bedarf es einer „bereitliegenden kulturellen Matrix, die von einem psychisch schwer kranken Menschen aufgegriffen und mit seiner biografischen Problematik verwoben wird“, wie Prof. Dr. Thomas Stompe, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, in einem Interview in der Frankfurter Rundschau vom 22./23.02.2020 deutlich machte. Die verantwortungslosen Brandreden des Björn Höcke, die hemmungslosen Tweets der Parteigänger dieser seltsamen „Alternative“ – sie sind der Stoff, aus dem so eine Matrix gefertigt wird.

Was wäre die angemessene, gesellschaftlich und politisch gebotene Reaktion hierauf gewesen? Man hätte in einem öffentlichen Statement kundgeben können: Alle, die meinen, sich auf uns berufen zu können, liegen falsch, hört auf mit dem Unsinn! Legt die Waffen nieder und kommt zur Raison! Dazu hätte es allerdings einer Eigenschaft bedurft, die man „Haltung“ nennen kann, oder populärer: Hintern in der Hose. Wie lautete die Reaktion stattdessen? Ein larmoyantes „Gemeinheit, uns dafür anzugehen!“ Bis heute hört man von dort bloß beleidigtes Gekeife, das nur zwei Erklärungsansätze offenlässt: Entweder besteht ein stilles Einverständnis oder aber die opportunistische Furcht, den Zuspruch vom äußerst rechten Rand zu verlieren; wie die anderen („etablierten“) als Weicheier dastehen und auf diese Stimmprozente verzichten – nein, das möchte man nicht. Abgesehen davon, dass auch der saubere Herr Prof.Dr.Ohnemichel womöglich bald erkennen wird, dass man das Rattenrennen nach rechts gegen die noch größeren Radikalinskis immer nur verlieren kann: Das eine wie das andere ist ziemlich widerwärtig.

Und auch das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Noch etwas: Die demonstrativ zur Schau getragene Gewissheit irritiert, wonach die Mordbuben, die sich für rechtsgerichtete rassistische Agenden hervortun, stets „wirre Einzeltäter“ seien. Mit diesem Patentrezept sind der Herr Prof. Dr. Ohnemichel und sein unmittelbares Gefolge keineswegs allein: Auch das Very Stable Genius, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ist sich nach jeder Greueltat von Suprematisten, die sich von ihm die Zügel gelockert wissen, schon Minuten nach Abgabe des letzten Schusses völlig sicher: Das war ein einsamer wirrer Psycho, was sonst.

Tobias R.; die Schreckensgestalten des NSU, die beliebige fremdländisch wirkende Menschen niederschossen; Stephan Balliet, der den Anschlag auf die Synagoge in Halle unternahm; die vier Brandstifter von Solingen; der Mörder des Landrats Walter Lübcke; der Bombenleger des Oktoberfestanschlags; Anders Brejvik; Brenton Tarrant, der Attentäter von Christchurch;  die unzähligen Massenmörder in den USA, die sich dem Gedanken einer White Supremacy zugehörig fühlen: geeint im Gedankengut, aber „nur“ individuell verwirrt? Irgendetwas stimmt in dieser so bequem zurechtgelegten Fabel nicht. Hat es am Ende doch etwas mit dem Propagieren inhumaner Agenden zu tun? Produziert man nicht selbst erst den gefährlichen Fusel, der sich in die Schläuche des individuellen Wahns füllt? Und weiter: Wenn das alles wirre Einzeltäter sein sollten – wieso zieht nur die Rechte diese gefährlichen Wirrköpfe so unwiderstehlich an? Sollte es vielleicht doch etwas mit dem zivilisationsfeindlichen Kern rechter Ideologien zu tun haben?

Der Historiker Volker Weiß hat im Spiegel präzise beschrieben, wie das Befeuern der Vorstellungswelt prekärer Persönlichkeiten heute in der Praxis abläuft:

Die Rechtsextremismusforschung weiß, dass rassistischer Terror nicht mehr zwangsläufig organisierter Strukturen bedarf…….Dieser Tätertyp muss nur ausführen, was bereits formuliert ist. Er findet das „Wissen“, die Atmosphäre, die Weltanschauung, die er braucht, bereits vor. Sogar die Tatmanifeste sind längst geschrieben, die kriminalistische Authentifizierung des Bekennerschreibens, zu Zeiten der RAF-Fahndung einstmals schon fast ein ritueller Akt, ist fast überflüssig geworden. Bereits der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik musste sich nur mit Copy&Paste durchs Internet pflügen, um sein Tatmanifest anzufertigen.

Mit anderen Worten: Die Vorbereitung solcher Verbrechen benötigt keine festgefügten Vereinigungen oder Verabredungen mehr – sie findet in der Welt der Sprache, ihrer Radikalisierung und Brutalisierung statt. Welche Konsequenzen für das eigene Auftreten daraus zu ziehen sind, wird die „Alternative“, die sich hinter dem Professor Doktor Ohnemichel sammelt, sicher überfordern. Auch dazu sei angemerkt: Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass es uns ankotzt.

 

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9 Gedanken zu „Hanau, 19. Februar 2020, der Herr Professor Doktor Ohnemichel, und was man dazu wohl auch noch sagen darf“

  1. Interessante Wende: die AfD-Chefs Chrupalla und Meuthen verfassten zusammen einen offenen Brief an die AfD-Mitglieder. Darin schreiben sie selbst daß die Tat ein „rassistisches Verbrechen“, mit „Ausländerhass“ als Motiv sei.

    Damit bleiben sie sogar hinter der Bild Zeitung zurück, die sinngemäß beim Anschlag von Hanau von der Tat eines Verrückten sprach.

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  2. Ich sehe das Verhalten von Chrupalla und Meuthen als taktisches Spielchen an. Die Beinahe-Blamage von Hamburg dürfte dazu den Ausschlag gegeben haben und nicht die heftigen Reaktionen aus Bevölkerung und Parteien auf die mehr als lauwarmen Reaktionen der Braunblauen kurz nach dem Anschlag.

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  3. Ja, wenn die eigenen Gesinnungsgenossen Menschen verletzen und töten, dann handelt es sich natürlich um wirre Einzeltäter, in allen anderen Fällen beweist – ebenso natürlich – bereits die Tat unwiderlegbar die Gefährlichkeit der zugrunde liegenden Ideologie und bereits die Spekulation über eine mögliche psychische Störung kann nichts anderes sein, als eine Ausrede!
    Wenn es nicht so zum Kotzen wäre, man könnte sich köstlichst amüsieren!

    Bemerkenswert auch die nach solchen Taten immer wieder ebenso reflexhaft wie weinerlich vorgetragene Beschwerde, die Tat solle vom pöhsen politischen Gegner instrumentalisiert werden, während man selbst bei Anschlägen mit anderem ideologischen Hintergrund, umgehend versucht, politisches Kapital aus der Tat zu schlagen, diese also zu instrumentalisieren.

    Wer solche offensichtlichen Lügner wählt, muss entweder sehr verzweifelt, besonders verblendet oder extrem dumm sein. Und das wird man ja schließlich noch sagen dürfen!

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  4. @Mephisto
    Ausrede gehört ist bei diesen Herren und Damen zur Grundausstattung. Das war bei dem Wessie, der nach Thüringen auswanderte, um dort zu reüssieren, nach seinem „Denkmal der Schande“ genauso wie bei dem Hundekrawattenträger nach seinem „Vogelschiss“.

    Was ich wirklich nicht verstehe bei diesem Rumgewiesel: Es handelt sich bei dem einen um einen studierten Historiker, bei dem anderen um einen Juristen, Publizisten und Zeitungsherausgeber. Alles Professionen, bei denen Sprache elementarstes Handwerkzeug ist. Aber Beiden lässt man ihr geheultes „Oh-wir-haben-das-doch-gar-nicht-so-gemeint“ durchgehen! Eingedenk ihrer Ausbildung und Tätigkeiten ist das genau so, als würde man einem Arzt einen Salbenverband um die Hand als Therapie für einen gebrochenen Fuß nachsehen („Ach, da hab ich nicht aufgepasst“),

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  5. Auf „Geschichte der Gegenwart“ ist ein Beitrag mit weitgehend konformen Aussagen erschienen:
    „Für diesen vermu­teten Wirkungs­zu­sam­men­hang von behaup­teter Gefahr und impli­ziter Gewalt­le­gi­ti­ma­tion gibt es in der Gewalt­for­schung einen Namen. Er nennt sich „gefähr­liche Rede“ und steht bisher im Schatten des Begriffs der „Hass­rede“, der häufig ange­führt wird, wenn es um rechte Rhetorik und Gewalt geht. Dabei ist die gefähr­liche Rede, auch wenn sie auf Gewalt­rhe­torik verzichtet, wohl entschei­dender für rechten Terror als unver­blümte Hetze. Wie die Sozi­al­wis­sen­schaft­lerin Susan Benesch sagt, ist es gerade das Gerede von einer „tödli­chen Bedro­hung durch eine verhasste … Gruppe, das Gewalt nicht nur ange­messen, sondern notwendig erscheinen lässt.““

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  6. @Skepsis
    Ich fürchte, da es hier gar nicht um Fakten, sondern um „gefühlte Wahrheiten“ geht, wird der Hintergrund dieser Herren von ihren Anhängern schlicht ignoriert und jeder Hinweis darauf wird als persönlicher Angriff zurückgewiesen. Warum sollte ich solche Überlegungen auch in Betracht ziehen, wenn es um jemanden geht, der genau das sagt, was ich denke?

    Was diese AfD-Granden selbst angeht, zeigt sich da für mich der Spagat zwischen Extremismus und Ak­zep­ta­bi­li­tät für bürgerliche Kreise, den die AfD hinbekommen muss, wenn sie erfolgreich sein will: Man sagt etwas das radikalen Anhängern ein Bestätigung ihrer Überzeugungen liefert und wenn dann von bürgerlicher Seite Kritik kommt, rudert man mit einem „ups“ (scheinbar) zurück. Die Aussage an sich lässt sich aber nicht mehr ungesagt machen und während die bürgerlichen Anhänger nur zu gern glauben wollen, dass es sich nur um ein Versehen gehandelt hat (siehe oben), sehen die radikalen ein Meinungsdiktat dessentwegen die jeweilige – aus ihrer Sicht ja wahre – Aussage zurückgezogen werden musste, womit sie sich auch gleich noch ein weiteres Mal bestätigt sehen, diesmal in der Auffassung, dass ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt sei.
    Letztlich also ein geschicktes Ausnutzen des Bestätigungsfehlers.

    Leider ist dagegen kurzfristig sehr schwer anzukommen, langfristig habe ich aber die Hoffnung, dass dadurch irgendwann die Doppelzüngigkeit von Höcke & Co. dermaßen offensichtlich wird, dass sie weder von bürgerlicher, noch von radikaler Seite mehr als akzeptabel angesehen werden.

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  7. Eieiei. Ich bin ja seit Jahrzehnten Nutzer und Leser von Esowatch/Psiram. Aber beim AfD-Bashing scheint ihr eure übliche Skeptiker-Sorgfalt über Bord zu werfen. Wie ist das zu erklären? Kognitive Dissonanz?

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