Teil 5 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
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3. Kapitel: Über die Wassermann-Reaktion und ihre Entdeckung
Die Wassermann-Reaktion ist eine heute wegen ungenügender Spezifität verlassene Labormethode zur Diagnose der Syphilis aus dem Blutserum.
Die Reaktion hat ein fixes Schema, doch wird sie in so vielen Modifikationen ausgeführt als es ausführende Laboratorien gibt. Sie fußt auf genauen quantitativen Berechnungen, doch ist immer der klinische Blick, das »serologische Fühlen« viel wichtiger als Berechnung. (S. 73)
Die heutige Laboratoriumsdiagnostik mit ihrer automatisierten Probenverarbeitung, ihren standardisierten Reagenzien, ihren qualitätssichernden Ringversuchen usw. hat sich weit, weit davon entfernt, zumindest was die Routinediagnostik angeht. Die Wissenschaft war vergleichsweise erfolgreich darin, die Züge der Kunst, der Erfahrung abzulegen und die der Objektivität, der Unabhängigkeit vom Untersucher, anzustreben. Das „serologische Fühlen“ meint vermutlich so etwas wie zu beurteilen, ob eine schwache Färbung nun als positiver oder negativer Befund zu bewerten ist – so etwas schreit aber nicht nach Kunst, sondern nach Spektrometrie. Und was die i. e. S. klinische Erfahrung des Testers angeht: sie sollte prinzipiell nicht in die Ablesung des Ergebnisses, ob positiv oder negativ, eingehen – erst die Interpretation des Ergebnisses ist Sache des Klinikers. Ein besseres Beispiel wäre heute vielleicht das EEG, das von Berger 1928 entdeckt wurde und sich der völlig digitalen Auswertung weiterhin hartnäckig verweigert. Aber man kann bezweifeln, dass sie prinzipiell nicht automatisierbar ist.
Im folgenden gibt Fleck eine – noch heute lesenswerte – Einführungsvorlesung in die Immunologie von Julius Citron (1910) wieder, die er anschließend ausführlich kritisiert. Aber seine Kritik ist nur holistische Naturphilosophie statt empirisch fundierter Gegendarstellung. Gemessen am Ziel der Widerlegung von Citron und der „materialistische[n] Theorie“ vom Organismus als eine „in sich abgeschlossene, selbständige Einheit“ (S. 80), die dessen Darstellung zugrunde liege, ist sie ein Gish-Galopp. Fleck behauptet:
„1. Der Begriff der Infektionskrankheit“ sei nur ein Ausdruck „primitive(r) Kampfbilder“, die Vorstellung von einer „‚Ursache‘ der Krankheit“ müsse aufgegeben werden (S. 79).
„2. Folglich muß der Begriff der Immunität in jenem klassischen Sinne aufgegeben werden.“ (S. 83)
„3. […] Die Einteilung in humorale und zelluläre Faktoren (der französische Ritus schreibt den zweiten, der deutsche den ersten größeres Gewicht zu) ist nicht legitimierbar. Desgleichen der Begriff der Spezifität in diesem gebrauchten Sinne. Ein ausgesprochen mystischer Begriff!“ (S. 84).
„4. Auch eine methodische Einweihung enthält die Vorlesung von Citron […] Alle diese Vergleichungen kontrollieren den Schluß und heißen ‚Kontrollen‘. Gewiß, es ist nicht die erkenntnistheoretisch beste Methode, doch haben wir bis heute keine andere.“ (S. 84) [kursiv im Original]
Antikörper, humorale und zelluläre Faktoren und Spezifität sind die Grundbegriffe der Immunologie geblieben, so wie Kraft noch immer Masse mal Beschleunigung ist, trotz Relativitätstheorie. Kein Wunder, dass das ganze Buch nach seinem Erscheinen völlig in der Versenkung verschwunden und erst 30 Jahre später von dem Nichtmediziner Kuhn wiederentdeckt worden ist. Es hätte Kuhn Abbruch getan, wenn es sogleich in englisch verfügbar gewesen wäre (als die Übersetzung erschien, war die wissenschaftshistorische Öffentlichkeit schon im Kuhnschen Sinne paradigmatisch transformiert, so dass es ihm nicht mehr geschadet hat). Die herabsetzende Wortwahl („Ritus“, „mystisch“) deutet an: Fleck sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion. Im Gegenteil: er sucht die Gemeinsamkeit, eine prinzipielle Identität des „Denkstils“. Auch darauf werden wir kurz zurückkommen. Kontrollen sind für Fleck ein leider notwendiges Übel, erkenntnistheoretisch anrüchig. Doch wenn es keine andere Methode gibt, dann ist die vorhandene zwangsläufig die beste – das ist eine Tautologie. Die Kontrollen (Leerversuche) sind nicht das lästige aber unvermeidliche Beiwerk, sondern der Inbegriff der Wissenschaftlichkeit, der Königsweg zur Absicherung gegen Fehlschlüsse aus zufälligen Beobachtungen. Fleck hat nicht nur nachlässig formuliert, sondern eine großartige Gelegenheit verpasst, über Methodologie in der biologischen Forschung zu sprechen. Ihm muss dunkel bewusst gewesen sein, dass seine Vorstellung von Fortschritt via „Denkstil“ gewisse Mängel aufweist.
Was hat Citron wirklich gesagt? Beispielsweise dies:
Die chemische Natur der Antikörper ist unbekannt. Wir wissen nicht einmal, ob das, was wir Antikörper nennen, überhaupt selbständige chemische Gebilde darstellen. Wir kennen nur Serumwirkungen. Die in Gedanken vollzogene Materialisierung dieser Serumwirkungen stellen die Antikörper dar.
Eine funktionelle Definition des Antikörpers, die völlig kompatibel ist mit der Strukturaufklärung heute. Oder dies:
Ich selbst habe es mir zur Regel gemacht, und ich empfehle Ihnen das gleiche, bei der Lektüre neuer wissenschaftlicher Mitteilungen aus dem Gebiet der Serodiagnostik zuerst auf die angeführten Kontrollen zu sehen. Sind diese ungenügend, dann ist der Wert der Arbeit, mag darin was immer enthalten sein, zunächst ein sehr geringer, denn alle Angaben können zwar, müssen aber nicht richtig sein.
Eine Regel, die hundert Jahre später noch immer uneingeschränkt empfohlen werden kann. Wie vielversprechend auch der Titel einer wissenschaftlichen Arbeit sein mag: Man lese zuerst Material & Methode, und wenn interessant sein könnte, was man auf diese Weise herausfinden kann, dann ist es eine genaue Lektüre wert.
Im Folgenden stellt Fleck ausführlich die Geschichte der Unterstützung Wassermanns durch die preußischen Behörden dar, sowie als deren soziales Motiv, als eigentliche Triebkraft der Entwicklung, die nationale Konkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland (S. 90). Sicher. Wenn die Forscher nicht das Geld für die Reagenzien gehabt hätten, wäre es nichts mit der Entdeckung der Wassermann-Reaktion geworden. Und sie mussten vom Ministerium die Idee empfangen, so wie dem Denkkollektiv der TCM-Protagonisten die Richtung vom Großen Führer Mao gewiesen worden ist. Aber abgesehen davon, dass Röntgen mit der behördlichen Rückendeckung offenbar weniger glücklich gewesen ist (s. v.): so ganz hinreichend kann die staatlich gelenkte Erleuchtung nicht sein, denn sonst würden wir alle heute Lyssenko als größten Biologen des 20. Jhd. verehren. Man muss da gar nicht auf die mittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Alchimisten verweisen, die alle Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen haben, um Stroh zu Gold zu spinnen.
Die einzig mögliche Folgerung aus dieser Geschichte der Wassermann-Reaktion ist: Extrinsische Motivation kann helfen, aber sie ersetzt keine wissenschaftliche Neugier, und sie ist nicht einmal eine zusätzliche Bedingung, ohne die nichts geht. Möglich, dass es nie eine Wassermann-Reaktion gegeben hätte (sie ist wegen ihrer nicht ausreichenden Spezifität wieder aufgegeben worden), doch wäre es auch ohne Ermutigung durch die preußische Bürokratie zur Entwicklung der modernen Immunologie gekommen, wenn auch vielleicht später oder anders. Die Proteinstruktur des Antikörpers, die Funktion der Lymphozyten entzieht sich ihrem Einfluss. „Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden“ (Brecht).