Befleckte Medizinsoziologie 4

Teil 4 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
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2. Kapitel: Erkenntnistheoretische Folgerungen aus der vorgebrachten Geschichte eines Begriffes

[M]an darf die Syphilis nicht formulieren als »die durch Spiroch. pallida hervorgerufene Krankheit«, sondern umgekehrt, muß Spiroch. pallida als »der zur Syphilis Beziehung habende Mikroorganismus« bezeichnet werden. Eine andere Definition dieses Mikroben ist aussichtslos und außerdem könnte die Krankheit dadurch nicht eindeutig definiert werden […] Auch der heutige Begriff der Krankheitseinheit z. B. ist Entwicklungsergebnis und nicht die logisch einzige Möglichkeit. Man kann nicht nur vollkommen andersartige Krankheitseinteilungen einführen, wie es die Geschichte lehrt, aber man kann auch überhaupt ohne den Begriff einer Krankheitseinheit auskommen. (S. 32)

Wenn das die Kernannahme ist: sie ist disqualifizierend. Fleck spricht von den „verschiedenen Stadien“ wie auch den „verschiedenen Kranken“, die „immer anders“ zu behandeln seien, und das sei „nicht impraktisch“ (S. 32); aber wir reden – speziell hier – von einer bakteriellen Infektionskrankheit. Der ätiologische, d. h. an der Krankheitsursache und den Pathomechanismen orientierte, Krankheitsbegriff ist nicht wahlfrei und dem symptomatischen qualitativ gleichwertig. Der „tiefere Sinn des symptomatischen Krankheitsbegriffs“ wäre die Rückkehr zum Mystizismus.

Die numerische Methode, die quantitative, vergleichende Erfassung des Behandlungserfolgs (eingeführt von P. C. A. Louis, 1787–1872), lässt sich nicht mit dem zwangsläufigen Voluntarismus einer solchen „individuellen“ Medizin vereinbaren, und sie war damals schon einhundert Jahre alt (wenn auch noch nicht überall akzeptiert). Diese Methode ist die Hauptstraße zum Fortschritt in der klinischen Medizin. Dagegen entspräche eine Klassifikation wie „Krankheiten, die zu Hautausschlag führen“ usw. im Kern einer Einteilung der Tiere in welche, die fliegen, welche, die schwimmen u.ä. Selbstverständlich kann man mit ähnlich gelagerten oder gänzlich fiktiven Krankheitseinheiten auskommen – die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) führt es vor. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun.

„Der Begriff der Syphilis muß wie ein denkhistorisches Ereignis, wie ein Ergebnis der Entwicklung und des Zusammentreffens einiger kollektiver Denklinien untersucht werden“, sagt Fleck (S. 34). – Mag sein. Es gibt andere kollektive Denklinien. In manchen Kulturkreisen ist man der Ansicht, dass westliche Ärzte handwerklich ganz brauchbar sein mögen, aber die wirklichen Probleme nicht lösen könnten, denn sie wüssten nicht, wie man Geister vertreibt (Sidky, Shamanism). Hat man den Begriff der Syphilis als reine Gedankenarbeit, Wesensschau entwickelt, oder haben sich die Gedanken auf empirische Untersuchungen gestützt? „[D]ie Bezeichnung ‚Existenz'“ der Syphilis dürfe man „nur als denktechnisches Hilfsmittel, als bequeme Abkürzung zu gebrauchen“ (S. 34). Aber wofür steht diese Abkürzung, die man nur in Gänsefüßchen setzen darf?

Der Begriff der Syphilis lasse sich auf eine „Uridee“ zurückführen. „Auch andere Lehren, wie […] der Satz von der Kugelgestalt der Erde und das heliozentrische System, entwickelten sich historisch aus mehr oder weniger unklaren Urideen“ (S. 36). Aber man kann sicher sein, dass noch eine Unzahl mehr Urideen z. B. zur Erdgestalt gewabert haben, vgl. etwa das Schachteluniversum des Kosmas Indikopleustes. Im weiteren (S. 38 u. ö.) wird deutlich, dass Fleck die Vorstellung von einer approximativen, näherungsweisen Wahrheit unbekannt geblieben ist. Fleck hält die Kochschen Postulate (zur Identifizierung eines Krankheitserregers) als Ausdruck einer Spezifitätslehre für veraltet und meint, es werde sich zeigen, „daß die klassische Infektion, d. h. die Invasion eines Erregers, ein Ausnahmefall des Mechanismus der Entstehung einer Infektion ist“ (S. 43). Das ist schlicht falsch. Natürlich ist die Infektiologie inzwischen komplizierter als zu Kochs Zeiten, aber seine Postulate sind modifiziert weiterhin grundlegend [WP]. Der Infektiologe Mark Crislip von SBM beschreibt seine Tätigkeit so: “Me find bug. Me kill bug. Me go home.”

In Abschnitt 3 des Kapitels zitiert Fleck ausführlich Paracelsus, der uns heute unverständlich sei, aber einen in sich geschlossenen „Denkstil“ repräsentiere (S. 45f). Die Kuhnsche „Inkommensurabilität“ hat hier ihr Samenkorn, sogar der Terminus geht auf Fleck zurück (s. 83). Was aber diesen Denkstil als zeitgenössische Wissenschaft ausgezeichnet hat oder haben soll, und was ihn von späterer Wissenschaft unterscheidet, das wird nicht erörtert. Auch in anatomischen Werken sieht er fiktive Strukturen, die er auf überkommene Konzepte zurückführt (S. 47f). – Doch es ist letztlich banal, dass es auch nach Vesal in der Anatomie noch „theoriegeleitete“ Irrtümer gegeben hat, der Autorität der Überlieferung geschuldet. Sie kommen nicht aus zu viel, sondern aus zu wenig Wissenschaftlichkeit. In einer Fleck näheren Sprache: das ist kein Geburtsfehler des wissenschaftlichen Denkstils, sondern, im Gegenteil, Folge mangelner empirischer Kontrolle. Wir kommen noch einmal darauf zurück. Fleck dagegen meint, folgernd aus einer Darstellung der weiblichen Genitalien, die auch in heutigen Atlanten idealisiert sei:

Doch der Weg von der Sektion bis zur formulierten Lehre ist so verwickelt, so wenig unmittelbar, so sehr kulturbedingt. Je eindringlicher wir ihn uns vergegenwärtigen, um so zahlreichere denkgeschichtliche, psychologische und zu den Autoren führende Beziehungen treten uns entgegen. In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.

Darin ist nur ein Körnchen Wahrheit: ein ungeleiteter Blick wird nichts erkennen. In der Tat gibt es von Frau zu Frau auch noch unübersehbar viele individuelle Varianten in Lage und Form der Genitalien. Ist das ein Argument gegen die Annahme, dass Uterus, Ovarien, Tuben unabhängig von der Wissbegier der Anatomen existieren, dass sie gemeinsame Charakteristika haben, und dass diese Charakteristika von Vesal besser als von Galen erfasst worden sind? Die Kultur hat Vesal in die Lage versetzt, sie zu beschreiben, – indem sie es ihm z. B. (mehr oder weniger) gestattete, Menschen zu sezieren statt Tiere – aber sie hat Vesal nicht seine Erkenntnisse diktiert. Theoriegeleitet ist eine Beobachtung immer, aber es kommt darauf an, worauf sich die Theorie stützt.

Der Satz »Schaudinn hat Spir. pallida als den Erreger der Syphilis erkannt« entbehrt ohne weiteren Zusatz eindeutigen Sinnes, denn »Syphilis an sich« existiert nicht. (S. 55)

Das ist ein klarer Fall von Tuberkelbazillus, „das vor Koch keine wirkliche Existenz“ hatte (dies war die Antwort von Bruno Latour auf die Frage, ob Ramses II an Tuberkulose gestorben ist). Den Werdegang der Akzeptanz Schaudinns stellt Fleck wissenschaftshistorisch falsch dar.[4] Am Erkennen seien „drei Faktoren“ beteiligt, „und zwar das Individuum, das Kollektiv und die objektive Wirklichkeit“ und es ließen sich ein „oder vielleicht auch zwei Faktoren“ aus dem Erkenntnisprozess eliminieren (S. 57) – Und so gelingt es Fleck, die objektive Wirklichkeit rückstandsfrei aufzulösen.

Es folgen noch zahlreiche weitere philosophisch fragwürdige Thesen. Ich greife hier nur noch ein Beispiel heraus:

Nach einer Reihe Rundgänge innerhalb der Gemeinschaft, kehrt oft eine Erkenntnis wesentlich verändert zum ersten Verfasser zurück – und auch er sieht sie schon ganz anders an, erkennt sie nicht als seine eigene oder (ein häufiges Geschehen) glaubt sie ursprünglich in der jetzigen Gestalt gesehen zu haben. (S. 58f)

Dafür gibt es plastische und literaturnotorische Beispiele: Lukian hatte die Geschichte der Himmelfahrt des Peregrinus Proteus erfunden (§§ 39, 40) und Yossarian diejenige von dem Lepage-Geschütz, das ganze Bomberverbände in der Luft zusammengeleimte – nur dass Lukian nicht wie Yossarian erbleichte, sondern sich belustigte, als er sie wieder hörte. Aber Yossarian war betrunken.

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  1. : Jean Lindenmann: Siegel, Schaudinn, Fleck and the Etiology
    of Syphilis
    . Stud. Hist. Phil. Biol. & Biomed. Sci., Vol. 32, No. 3, pp. 435–455, 2001

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