Befleckte Medizinsoziologie 6

Teil 6 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 5

4. Kapitel: Erkenntnistheoretisches zur Geschichte der Wassermann-Reaktion

Wir können vorläufig die wissenschaftliche Tatsache definieren als eine denkstilgemäße Begriffsrelation, die zwar von geschichtlichen, individuell- und kollektiv-psychologischen Standpunkten aus untersuchbar, aber nie ohne weiteres aus diesen Standpunkten inhaltlich vollständig konstruierbar ist. (S. 110, kursiv im Original)

Wenn das zutrifft, dann ist auch die Auferstehung Christi eine wissenschaftliche Tatsache. Sie ist zweifellos denkstilgemäß, und sie ist eine Begriffsrelation (Relation i. S. von Erzählung, nicht von Beziehung). Sie ist individuell- und kollektivpsychologisch untersuchbar, aber inhaltlich nicht komplett begreifbar.

Daran an schließt der sympathischste Zug des ganzen Werkes: die Schilderung, wie Wassermann aus seinen ersten tastenden Versuchen, die rückblickend nicht mehr reproduzierbar gewesen sind, zu einer haltbaren Lösung gelangt ist.

„Es ist auch klar, daß Wassermann aus diesen verworrenen Tönen jene Melodie heraushörte, die in seinem Innern summte, für Unbeteiligte aber unhörbar war.¹ Er und seine Mitarbeiter horchten und drehten an ihren Apparaten so lange, bis diese selektiv wurden und die Melodie auch den Unbeteiligten (Unvoreingenommenen) vernehmbar wurde“ (S. 113).

Treffende Beobachtungen. Das grundlegende Problem dieser Darstellung ist nicht, dass sie nicht die Realität der Forschung abbildet, sondern dass sie willkürliche Schlüsse nahelegt, weil sie auf einer insuffizienten Philosophie beruht. Für „innere Harmonie des Denkstils“ (S. 114) könnte man auch Kohärenz der Wissenschaft sagen, das wäre präziser und würde die Religion ausschließen. Rudolf Carnap rät er, „er möge die soziale Bedingtheit des Denkens endlich entdecken“ (S. 121). „So entsteht die Tatsache: zuerst ein Widerstandsaviso im chaotischen anfänglichen Denken, darin ein bestimmter Denkzwang, schließlich eine unmittelbar wahrzunehmende Gestalt“ (S. 124, kursiv im Original). – So entsteht sie nicht, sondern so wird sie allenfalls erkannt, und der abwertende Tonfall lässt auf ein leises Bedauern schließen, dass der ungezügelte Denkstil zu nichts führt.

„Den gemeinschaftlichen Träger des Denkstiles nennen wir das Denkkollektiv. […] Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“ (S. 135) – Es ist also ein undefinierter, inhaltsleerer Begriff, denn es gibt kein Nicht-Denk-Kollektiv. Es gäbe „momentane“ und „stabile“ Denkkollektive. Doch auch nichtwissenschaftliche Denkkollektive haben eine formale Struktur, mit einem „gewissen disziplinierten, gleichmäßigen, diskreten Niveau“, denn das gilt schon für Familien, Sippen und erst recht für Kirchen … und genau darauf kommt es Fleck an: Statt den Unterschied zur Unwissenschaftlichkeit herauszuarbeiten, betont er die Gemeinsamkeiten. Ein Lehrbuch der Astronomie ist nichts anderes als ein Katechismus, ein Ordensgelübde nichts als ein Staatsexamens-Diplom: „Die Einweihung in einen Denkstil, also auch die Einführung in eine Wissenschaft sind erkenntnistheoretisch jenen Einweihungen analog, die wir aus der Ethnologie und Kulturgeschichte kennen. Sie wirken nicht nur formell: der heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar“ (S. 137) – auch hier nimmt er Kuhn vorweg, der nur ein wenig vorsichtiger mit seinen Formulierungen gewesen ist. Worin unterscheidet sich die Bibel von der Entstehung der Arten? Zustimmend wird Uexküll zitiert: „Die Physik hat sich mit ihrem Glauben an die absolute Existenz einer objektiven Welt vollkommen festgefahren.“ (S. 138) Aber was das wissenschaftliche Denkkollektiv nun wirklich vom Kardinalskollegium trennt, das bleibt der Elefant im Raum: der kritische, auf Fehlerquellen abklopfende Umgang mit der Erfassung der in ihrer Existenz unbezweifelten Realität, der Korrespondenzbegriff der Wahrheit.

Anschließend rezipiert Fleck mittelalterliche Signaturenlehren und ausführlichst frühneuzeitliche medizinische Traktate, die schon zur Zeit ihrer Entstehung Fringe gewesen sein müssen [5]. Dieser Denkstil hat bereits einen einprägsamen, kurzen Namen, der jedermann geläufig ist: man nennt ihn Magie, oder heute, Esoterik. Mit ebenso großer Liebe zum Detail zitiert er aus einer Epitome aus Vesals Anatomie 1642. Er stellt fest, dass die Beschreibungen z. B. der Knochen um vieles umfangreicher sind als in heutigen Anatomie-Atlanten, denn sie enthalten ganze Abhandlungen z. B. zur Etymologie. Fleck spekuliert wortreich darüber, was die Namen für eine tiefe Bedeutung hatten. – Doch das war 1642 keine medizinische Forschung, sondern die Reproduktion von Bekanntem. Anatomie hatte eine viel geringere praktische Bedeutung, denn jegliche ernsthafte Chirurgie scheiterte an fehlender Beherrschung der Wundinfektion und fehlender Schmerzstillung, und man überließ sie den Barbieren (der Rechtgläubige durfte kein Blut vergießen). Auch die Erfolge der Inneren Medizin basierten nahezu völlig auf dem Placebo-Effekt, und dafür konnte salbungsvolles gelehrtes Gelaber über Etymologie nur hilfreich sein. Sie wussten nur Zugpflaster, Aderlasse und Einläufe, so dass die Homöopathie einen Fortschritt bedeutete, weil sie wenigstens den natürlichen Verlauf nicht verkomplizierte. Pierre Bayle hatte ganz recht daran getan, sich die Ärzte vom Leibe zu halten. Das 18. Jhd. war der Nadir der Medizin. Dr. John Coakley Lettsome (1744–1815) wird folgender Vers zugeschrieben:

I, John Lettsome,
Blisters, bleeds and sweats ‚em.
If, after that, they please to die,
I, John Lettsome.

Ich, John Lettsome,
Verpasse Zugpflaster, Aderlässe, Schwitzbäder,
Wenn sie dann zu sterben belieben,
Ich, John, lasse welche/sie. [let some oder let them]

Da muss man gar nicht so viel über Denkstile philosophieren.

Fleck wird nicht müde in dem Bestreben, Glauben und Wissenschaft zu vereinen. Die Spezifik des wissenschaftlichen Denkens bestehe in seiner Stimmung. „Sie findet den Ausdruck als gemeinsame Verehrung eines Ideals, des Ideals objektiver Wahrheit, Klarheit und Genauigkeit. Sie besteht aus dem Glauben, daß Verehrtes erst in weiter, vielleicht unendlich weiter Zukunft erreichbar sei. Aus der Lobpreisung sich seinem Dienste aufzuopfern. Aus einem bestimmten Heroenkult und einer bestimmten Tradition.“ (S. 187f, kursiv im Original).

Schluss

Fleck hält die „lebensfremde Sprache“ für das eigentliche Signum wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie sorge für die „fixe Bedeutung der Begriffe“ und mache sie „entwicklungslos, absolut“. Hierzu trete „die spezifische Verehrung der Zahl und der Form“ (S. 189) – aber das sollte dann auch pythagoreische Zahlenmystik zur Wissenschaft machen. Was der eigentliche Inhalt der Objektivierung ist, das zu erfassen ist seiner Philosophie verwehrt. Fleck kann sich nur bei Formalien aufhalten. Überdies ist es Unfug, denn natürlich ändert sich auch die Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe – im Gegensatz zu dem proklamierten Aeternismus religiöser Begriffe. Die „Verehrung der Zahl“ stammt nicht aus dem Pythagoreismus, sondern aus der Bemühung um Vergleichbarkeit, Reproduzierbarkeit. Und der Maßstab der Wissenschaft ist nicht das „Maximum gegenseitiger Beziehungen“ (S. 189), sondern die Nähe zur Wirklichkeit, welche unauslotbar komplex ist – kein Grund, sie nicht anzustreben.

Summa summarum: das Buch ist enttäuschend, gemessen an der Bugwelle, die es macht, und es ist erstaunlich, wieviel Weitschweifigkeit Fleck in dessem geringen Umfang unterzubringen in der Lage war (boring repetitions, sagt Bunge [6]). Dies ist der Leitstern nicht nur der medizinischen Soziologie des 21. Jahrhunderts. Es sollte zurück in das behagliche Asyl, das es die ersten Jahrzehnte seiner Existenz bewohnt hat. Frau Doktor Dana Mahr – und mit ihr alle Fleck-Verehrer in Soziologie und Wissenschaftsphilosophie -: zurück auf die Schulbank!

Wilhelm Busch: Der Katzenjammer am Neujahrsmorgen

Der Dichter und Zeichner Robert Gernhardt (Vom Wettlauf zwischen Hase Hochkunst und Igel Karikatur) stellt fest, dass Wilhelm Busch hier den Konstruktivismus vorweggenommen hat.

Teil 5


  1. : „Odilon Schreger: Studiosus jovialis, Pedeponti, 1755“: Es ist nicht plausibel, dass das um die Mitte des 18. Jahrhunderts Spitzenwissenschaft (oder überhaupt Wissenschaft) gewesen ist. Galilei, Boyle und Newton waren lange tot; das war die Zeit Buffons und Reimarus‘, der Encyclopedie, Holbachs und Diderots. Odilon Schreger kommt in den Lexika nicht vor, und älteren medizinhistorischen Übersichten ist er nicht einmal eine Fußnote wert. Er hat kaum Google-Treffer, und 3/4 von ihnen gehen auf Fleck zurück. Es wäre kein Problem, auch heutige Esoterik gleicher Qualität aufzutreiben, denken wir nur an Steiner. – „Joseph Löw: Über den Urin, Landhut 1815“: Fleck glaubt zu wissen, dass dieser seine verstiegene Metaphorik für „einfache Naturbetrachtung“ gehalten habe, „genau wie heute viele Naturforscher die ihrige.“ – Das muss man keineswegs für ausgemacht halten. Er könnte auch nur alte Schwarten abgekupfert und ein bisschen mit Neologismen aufgehübscht haben, um die Leser mit seiner Beobachtungskunst und Gelehrsamkeit zu beeindrucken. Ein wenig Übertreibung wird doch wohl erlaubt sein. Hat er denn keine medizinischen Autoritäten, von Galen angefangen, zitiert?
  2. : Mario Bunge: „Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact. Edited by T. J. Trenn & R. K. Merton. Translated by F. Bradley & T. J. Trenn. Foreword by T. S. Kuhn. Chicago: The University of Chicago Press, 1979, 203 pp.“ Behavioral Science, 26(2) 1981, 178–180. doi:10.1002/bs.3830260211

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