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Soziologisches zu Cannabis als Medizin

3. Oktober 2022 2 Kommentare

Die Soziologin Frau Prof. Dr. habil. Gundula Barsch, Hochschule Merseburg, sieht (hier) eine beklagenswerte Unterversorgung der deutschen Bevölkerung mit Cannabis. Aber sie sieht auch einen Ausweg. Wir wollen herausfinden, was es mit dieser Bestandsaufnahme, die zwei Druckseiten einer überregionalen linken Tageszeitung einnimmt, auf sich hat.

Zunächst schildert sie die aktuelle Situation. Da sei einmal die „dürftige Informationslage“: es existierten „weder verlässliche Anwendungsempfehlungen noch durch die Ärztekammern anerkannte Fortbildungsangebote.“ – niemand kann widersprechen. Die Ärzte fürchteten Regresse und den bürokratischen Aufwand. Die Kassen würden nur in gut 60% der Fälle die Anwendung genehmigen, und begründet werde die Ablehnung der Kostenübernahme häufig mit dem „pauschalen Verweis auf den ‚fehlenden Nachweis der Wirksamkeit‘ (dpa 2017) – obwohl das Gesetz den Krankenkassen eine Ablehnung eigentlich ’nur in begründeten Ausnahmefällen'“ einräume.

Hinzu kommt, dass der Einsatz insbesondere von Cannabisblüten gegenläufig zu den aktuellen Entwicklungen in der modernen naturwissenschaftlichen Biomedizin steht. Diese operiert nach den Leitideen der evidenzbasierten Medizin, die auf die Erbringung klarer Kausalitäten und standardisierter Verabreichungen möglichst über aufwändige klinische Studien bestehen. Der Cannabistherapie wird hier zum einen das im Gesundheitssystem etablierte Patentwesen, zum anderen der bürokratisch erzeugte und eingeforderte, oft sehr kostspielige Status hoher klinischer Evidenz zum Verhängnis. Dieser Status ist letztendlich auf Strukturkonservatismus und Besitzstandswahrung ausgerichtet und grenzt ernstzunehmende medizinische Erfahrungen ebenso aus wie bestens belegte, effektive Präventions- und Therapiemöglichkeiten.

Hier sind einige Klarstellungen erforderlich. Die erste Frage ist nicht die nach „verlässlichen Anwendungsempfehlungen“ (d. h. zum Wie der Verordnung), sondern die nach der Indikation (dem Warum der Verordnung). Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist der einzig sichere Weg, solche Indikationen herauszuarbeiten. Sie deckt nicht Kausalitäten auf, sondern sichert den Nutzen der fraglichen Therapie durch vergleichende Beurteilung des Therapieerfolgs unter Benutzung vordefinierter Kriterien; „Biomedizin“ ist hier nur soziologischer Slang. Barsch lässt offen, was sie mit „effektive[n] Präventions- und Therapiemöglichkeiten“ eigentlich meint. Wie könnten „beste Belege“ außerhalb der EBM aussehen (man ahnt es), und welchen Krankheiten könnte man mit Cannabis vorbeugen? Nebenbei: die Widerspenstigkeit der Kassen, dem Gesetzesgebot zu folgen und die Kostenübernahme nur im Ausnahmefall abzulehnen, ist Folge der inkonsistenten Rechtslage, die zudem nicht mit der Datenlage übereinstimmt (mehr Details hier, hier, hier). Die Erkenntnis, dass der „Strukturkonservatismus“ der EBM verhängnisvoll ist, wird von den Glaubensmedizinern jeglicher Couleur, von denen unser Wiki voll ist, beklatscht werden. Der Mangel an „Fortbildungsangeboten“ allerdings könnte dennoch behoben werden, denn einige Ärztekammern bieten weiterhin Homöopathie an. Das wäre also kein Systembruch. Und welchen „Besitz“ sollte die Medizin aufgeben? Dazu am Schluss noch eine Vermutung.

Überdies ist es irreführend, die nötige klinische Evidenz als „sehr kostspielig“ zu bezeichnen: es geht hier nur um einen organisatorischen Aufwand. Es gibt bereits viele – teils kontrollierte – Cannabis-Studien, die wissenschaftlichen Kriterien (mehr oder weniger) genügen, sowie einige Metaanalysen. Doch sind die vorliegenden Ergebnisse so wenig aufregend, dass es sich offenbar nicht lohnt, eine stringentere, aufwändigere Methodik zu bemühen. Oder anders: gewöhnlich ist ein Therapieeffekt um so beeindruckender, je laxer die Prüfungsmethode ist, und hier reicht die Schubkraft der ersten Stufe nicht hin, vom Boden abzuheben, geschweige denn eine Umlaufbahn zu erreichen.

Alles in allem unterstreichen die gegenwärtigen Entwicklungen rund um die Cannabistherapie die Dringlichkeit, dem alten medizinischen Leitprinzips »Wer heilt, hat Recht« wieder Raum zu geben – etwas, das den durchaus ehrenwerten Bestrebungen evidenzbasierter Medizin keineswegs entgegenstehen muss.

Wer heult hat recht. Das ist der Refrain der Wunderheiler und Scharlatane, darauf reimt sich alles. Es ist der „vielleicht dümmste Spruch in der Geschichte der deutschen Medizin“, sagt Edzard Ernst (hier). EBM ist „durchaus ehrenwert“, aber doch ein bisschen zurückgeblieben – auch dies keine neue Erkenntnis. Professorenkollege Walach hatte sie bereits weiter ausformuliert und angewendet, als er davon sprach, dass der Durchschnittswissenschaftler Homöopathie für Placebo halte (vgl. hier). Und was heißt „wieder“? Ist das die Gelegenheit, den Energieerhaltungssatz beiseite zu legen (vgl. hier), wie es Soziologen offenbar für möglich halten?

Kommen wir zu dem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation, den Frau Barsch für erfolgversprechend hält:

Übersehenes Erfahrungswissen […] haben sozialwissenschaftliche Forschungen seit den 1990er Jahren immer wieder Belege dafür gefunden, dass Patient*innen und Leidende den Gewinn einer Cannabistherapie beim Umgang mit ihren schwierigen Lebenssituationen für so hoch einstufen, dass sie für die Beschaffung dieses Hilfsmittels selbst Strafverfolgung, Stigmatisierung durch ihr soziales Umfeld und unberechenbare Probleme auf sich nehmen. …

… Ist das ernstgemeint, Frau Prof. Barsch? Wie steht es eigentlich mit den Forschungsergebnissen zu Opioiden? Sind diese Patient*innen nicht auch in einer schwierigen Lebenssituation, nehmen sie nicht auch Strafverfolgung, Stigmatisierung und unberechenbare Probleme auf sich?

Aber es bleibt nicht bei Allgemeinplätzen, denn die Soziologen bekommen ihr Geld nicht für Nichtstun und Schwafeln. Sie haben eine Datenbank „INDICA“ begründet, die einen „Fundus von Interviews“ liefere, der „höchst interessante Einblicke in eine zum großen Teil selbstinitiierte Behandlung mit Vollspektrum-Cannabis und CBD“ vermittle und eine „überraschende Breite an Anwendungsmöglichkeiten“ aufzeige. Doch es überrascht, dass die Forschung hier überrascht ist, denn was sollte man nicht mit Cannabis behandeln können. Es

fanden sich 21 klinisch relevante Krankheitszustände sowie darüber hinaus Leidenszustände, die noch keine medizinische Anerkennung als krankheitswertig erhalten haben (z.B. Verspannungen, Stress, Sprachstörungen), bei denen Cannabis als Hauptmedikation eingesetzt wurde.

Hier vergeht dem Kommentator jede Ironie, und es reicht nur noch für Klartext. Die Autorin verrät sich als bestürzend ahnungslos in allen medizinischen Belangen, denn anders kann man die umgangssprachliche Verwendung dieser Begriffe nicht erklären. Für sich genommen, würde man das Fachfremden nicht vorwerfen, doch der milde Tadel, den die hartleibige „Schulmedizin“ (Originalton) hier zu hören bekommt, entwaffnet jede Verteidigung. Bereits zwei Sekunden Googelei hätten sie davon abbringen sollen, einen derartigen Unfug in die Welt zu setzen. Verspannungen sind ein schlecht definierbares Symptom, aber als solches „anerkannt“. Stress ist ein vieldeutiger Begriff, ohne nähere Charakterisierung zur Bezeichnung von genau gar nichts verwendbar. Sprachstörungen können Zeichen verschiedenster Erkrankungen sein und teilen sich ein in … doch lassen wir’s gut ein.

Es handelt sich bei „INDICA“ um ein laufendes Projekt; auf irgendwelche Publikationen, Kongressberichte o. ä. wird nicht hingewiesen. Schade. Bei genauerer Überlegung aber meint man, dass es darauf auch nicht mehr ankommt. Es muss angenommen werden, dass es sich um einen Kranz völlig unkontrollierter, ungefilterter Anekdoten aus einem hochselektionierten Patienten/Probandenkollektiv handelt. Aus solchen Berichten lassen sich keine Schlüsse zur Effektivität einer Cannabistherapie bei Erkrankungen ziehen. Bei allen nachfolgenden weitläufigen Erwägungen, welche Cannabis-Verabreichung zu welchen Wirkungen führe, kann nicht sicher zwischen Vermutung und Spekulation unterschieden werden.

Die Ahnungslosigkeit von Soziologen scheint kein Bug zu sein, sondern ein Feature; jedenfalls ist sie kein Hinderungsgrund. Zumindest nicht dafür, in Fachgremien die Bundesregierung zu beraten: Frau Barsch war Mitarbeiterin in der Nationalen Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit. Der Vorreiter für diese Art Umgang mit der Realität ist Bruno Latour, der Begründer der soziologischen Laborforschung und gewesener Präsident der „Society for Social Studies of Science“. Er hat seinen Ehrenplatz in Alan Sokals Elegantem Unsinn, dem Panoptikum der postmodernen Denker. In der zweiten Auflage 1986 von Latours bahnbrechender Studie „Laboratory Life“ heißt es stolz:

In early October 1975, one of us entered Professor Guillemin’s laboratory for a two-year study of the Salk Institute. Professor Latour’s knowledge of science was non-existent; his mastery of English was very poor; and he was completely unaware of the existence of the social studies of science.
– Latour/Woolgar: Laboratory Life. Postscript to the second edition, 1986 (S. 273)

[Bei Beginn seiner Arbeit] hatte Professor Latour keinerlei Kenntnis der Wissenschaft; seine Englischkenntnisse waren sehr mangelhaft, und er wusste nichts von der Existenz soziologischer Untersuchungen der Wissenschaften.

Am besten versteht man, wenn man nichts versteht. Übrigens hatte Sokal seinerzeit einigen Staub aufgewirbelt, und Latour hatte sich genötigt gesehen, öffentlich Stellung zu nehmen. Er meinte, der Sokal-Hoax sei das Werk „einer sehr kleinen Anzahl theoretischer Physiker, die, von den fetten Pfründen des Kalten Krieges abgeschnitten, nach neuen Bedrohungen suchten“ [1].


  1. : „In an article in the French newspaper Le Monde, Latour glibly attributed the scandal [gemeint der Sokal Hoax] to the work of ‚a very small number of theoretical physicists, deprived of their fat Cold War budgets, [who] are searching for a new threat‘ and are targeting postmodern intellectuals (in Sokal 1997).“ Homayun Sidky: Science and Anthropology in a Post-Truth World: A Critique of Unreason and Academic Nonsense, Lexington Books 2021, S. 52.

Befleckte Medizinsoziologie 1

23. September 2022 3 Kommentare

Der Anlass

Frau Doktor Dana Mahr, Medizinsoziologin in Genf, hat erneut ihre Einstellungen bzgl. der aktuellen Gender/Trans-Debatte bekannt gegeben (hier). Im Rahmen dessen erwähnt sie auch Frau Nüsslein-Volhard, die zuvor einige Dinge zurechtgerückt hatte (hier). Mahr schreibt:

Diese sehr eindeutige, sehr vereinfachende Sicht auf das menschliche Geschlecht sagt weniger über die Biologie des Menschen als über die wissenschaftliche Sozialisation von Frau Nüsslein-Volhard aus. Denn einerseits war ihre Hauptschaffensphase in den 1970er und 1980er Jahren (in der es das Feld der Systembiologie noch nicht gab), und andererseits fokussierte sich ihre Forschung auf Modellorganismen wie Zebrafische und Fruchtfliegen.

Die Nobelpreisträgerin hat die letzten 40+ Jahre ihrer Wissenschaft verpennt und hatte auch vorher schon keine Ahnung.

Aber es bleiben Unklarheiten. Als Begründer der „Systembiologie“ gelten Hodgkin und Huxley 1952. Und zuvor hatte Mahr (hier) Frau Marie-Luise Vollbrecht vorgeworfen, dass sie nicht über „gewisse Schleimarten oder Pilze gesprochen“ habe, „die in einem sehr generellen Sinn die Tendenz zur Zweigeschlechtlichkeit unterlaufen“ würden, was ein sicheres Zeichen der Transfeindlichkeit und des Rechtsextremismus gewesen sei. Es ist also nicht so, dass der Blick auf niedere Lebewesen zu verachten ist – es muss nur der richtige, nämlich der soziologische, sein.

Ein so krachendes Scheitern eines klassischen ad hominems (Sonderform des genetic fallacy, Abwehr von Sachargumenten mittels Hinweis auf ihre Herkunft) sieht man nicht häufig. Glückwunsch, Frau Mahr! Die Frage drängt sich auf, wie eine solch überragende Qualifikation erworben werden konnte, und das ist leicht zu prüfen. Eingangs des zitierten Texts wird herausgestellt, dass 2021 ihr Buch „The Knowledge of Experience. Exploring epistemic diversity in digital health, participatory medicine, and environmental research“ erschienen ist. Werfen wir einen Blick hinein. Da gibt es ein Kapitel ,,2.2 What Are Scientific Facts?“. Es handelt sich um eine mäandernde Plauderei, in der etwas Definitionsähnliches nicht zu finden ist, dafür aber der Hinweis darauf, dass wissenschaftliche Fakten ein „Amalgam von empirischen, methodischen, technologischen, sozialen, räumlichen und historischen Faktoren“ seien. Zur theoretischen „Begründung“ verweist sie ausführlich auf Ludwik Fleck, der in seinem Buch „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935 erstmals auf die soziale Seite wissenschaftlicher Fakten hingewiesen habe.

Eine andere Façette des wissenschaftlichen Outputs von Dana Mahr hatten wir in unserem Forum berührt (hier, hier). Im folgenden soll es jedoch um das Buch von Ludwik Fleck gehen, zumal sich auch der bekannte Professor Harald Walach (Ritter der Homöopathie, Entdecker der schwachen Quantentheorie, Priester des Kozyrev-Spiegels, Corona-Zweifler usw. usf.) darauf beruft.

Teil 1 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 2

Editiert 24.09.2022. In der ursprünglichen Version wurden der akademische Grad von Dana Mahr und der Vornamen von Marie-Luise Vollbrecht falsch wiedergegeben. Peinlich. Wir bitten um Entschuldigung.
Editiert 28.09.2022. Wir haben noch eine Ergänzung hinzugefügt:


Ludwik Fleck – tl;dr (Einstieg für Eilige)

Diese kurze Blog-Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck wurde als „viel zu viele Worte“ in die Tonne getreten. Betrübt müssen wir das einsehen. Für einen Blog hat sie in der Tat eine ungewöhnliche Länge, und von den Kritikern darf man so viel Sitzfleisch einfach nicht erwarten. Auch der eine oder andere potentiell Interessierte wird sich fragen „was soll’s?“

Fleck ist kein Nischenprophet. „Ludwik Fleck“ hat 82.000 Googletreffer, und bei Google Scholar sind es 11.600. Das Zyklos 3 Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, 350 Seiten lang, von 2017 ist zur Hälfte ihm gewidmet. Es gibt einen „Ludwik-Fleck-Preis“ der „Gesellschaft für Sozialwissenschaften der Wissenschaft“, Symposionsbände usw., was immer das Herz begehrt.

Deshalb hier vorab ein kurz kommentierter Auszug aus Flecks „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935 mit einigen Kernthesen. Wir untersuchen nicht, was sie mit Kuhn, Feyerabend, Latour, Bourdieu gemeinsam haben, sondern wir kontrastieren sie mit der Wirklichkeit. Wir beschränken uns auf die eine oder andere krass kontrafaktische Behauptung und lassen die philosophisch windigen Folgerungen weitgehend aus (dazu mehr im Haupttext). Solche Aussagen müssen nicht von Paraphrasen umspült, sondern geprüft werden. Dann ist auch ein Urteil über die Theorien möglich, die auf ihnen aufbauen. „Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter“ (Brecht). Genug der Vorrede.

[…] daß keine sogenannten empirischen Beobachtungen den Aufbau und die Fixierung der Idee [der Grundidee der Syphidologie] durchführten (S. 6)

Die Grundidee hat sich also durch reine Gedankenarbeit, durch Wesensschau entwickelt; noch abgesehen davon, dass Beobachtungen nichts durchführen, sondern höchstens die Menschen, die sie anstellen (Platonisten werden fragen: na und?).

Der Syphiliserregergedanke führt in die Ungewißheit des bakteriologischen Artbegriffes und wird an dessen Schicksalen teilhaben. (S. 28)

Man schlage dazu ein beliebiges Lehrbuch von heute auf, das sich nur entfernt mit dem Stoff befasst, und man wird sehen, wie richtig der zweite Satzteil gewesen ist. Fleck war hier korrekt wider Willen.

Es wird sich früher oder später eine Umarbeitung des Energieerhaltungssatzes als notwendig erweisen – und dann wird man vielleicht an einem verlassenen »Irrtum« rück-anknüpfen müssen. (S. 31)

Wir irren uns voran. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass wir in die Zeit vor der Entdeckung des Energieerhaltungssatzes zurückkehren? Die Vorstellung von einer approximativen, näherungsweisen Wahrheit ist Fleck unbekannt geblieben.

[M]an darf die Syphilis nicht formulieren als »die durch Spiroch. pallida hervorgerufene Krankheit«, sondern umgekehrt, muß Spiroch. pallida als »der zur Syphilis Beziehung habende Mikroorganismus« bezeichnet werden. (S. 32)

So wie man nicht an, sondern nur mit Corona stirbt – und nicht mit, sondern nur an der Impfung.

Man kann nicht nur vollkommen andersartige Krankheitseinteilungen einführen, wie es die Geschichte lehrt, aber man kann auch überhaupt ohne den Begriff einer Krankheitseinheit auskommen. (S. 32)

Selbstverständlich kann man mit anders gelagerten, gänzlich fiktiven oder auch ohne Krankheitseinheiten auskommen – die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) führt es vor (vgl. hier). Man sollte dann nur nicht nach kausalen Therapien fragen.

Der Erregergedanke führt über die neuzeitliche ätiologische Etappe bis zur Kollektivvorstellung vom Krankheitsdämon zurück. (S. 56)

Das Treponema pallidum ist der Krankheitsdämon. Was ist über die Erfolge schamanischer Behandlungsmethoden der Syphilis bekannt geworden?

Es ist sehr schwer, wenn überhaupt möglich, die Geschichte eines Wissensgebietes richtig zu beschreiben. Sie besteht aus vielen sich überkreuzenden und wechselseitig sich beeinflussenden Entwicklungslinien der Gedanken […] (S. 23)

Ja, schwer, aber doch nicht unmöglich. Man kann sich dem Thema nähern wie Lynn Thorndike, der den Fortschritt in Magie ertränken will, oder wie George Sarton, der ihn in den entlegensten Autoren aufspürt.

Der Satz »Schaudinn hat Spir. pallida als den Erreger der Syphilis erkannt« entbehrt ohne weiteren Zusatz eindeutigen Sinnes, denn »Syphilis an sich« existiert nicht. (S. 55)

Das ist ein klarer Fall von Tuberkelbazillus, „das vor Koch keine wirkliche Existenz“ hatte (dies war die Antwort von Bruno Latour auf die Frage, ob Ramses II an Tuberkulose gestorben ist).

Der Sinn und der Wahrheitswert der Schaudinnschen Erkenntnis [vom Syphiliserreger] liegt also in der Gemeinschaft der Menschen, die in gedanklicher Wechselwirkung stehend und gemeinsamer gedanklicher Vergangenheit entstammend, seine Tat ermöglichten und dann aufnahmen. (S. 56)

Der Sinn und Wahrheitswert der Schaudinnschen Erkenntnis liegt in seiner Übereinstimmung mit der Realität. Fleck vertritt hier eine Konsensvorstellung von Wahrheit, die dem ältesten Begriff von ihr entspricht und von der sich selbst Habermas wieder verabschiedet hat.

Aber sie [die philosophierenden Naturforscher] begehen ihrerseits den Fehler, allzugroßen Respekt vor Logik, eine Art religiöser Hochachtung vor logischem Schließen zu haben. (S. 69)

Die Naturforscher sollten auf die Hochachtung vor logischem Schließen verzichten – will offenbar heißen, nicht nur der Korrespondenzbegriff der Wahrheit (der bei Fleck nicht vorkommt), sondern auch ihr Kohärenzbegriff wird überbewertet (mehr zu diesem Thema hier). Eine solche Kühnheit vernimmt man nicht alle Tage.

Die [Wassermann]-Reaktion […] fußt auf genauen quantitativen Berechnungen, doch ist immer der klinische Blick, das »serologische Fühlen« viel wichtiger als Berechnung. (S. 73)

Dieser goldene Satz ist der Generalschlüssel, um mit allen unbequemen oder unpassenden Ergebnissen fertig zu werden (was dazu zu sagen wäre, findet sich in Teil 5).

„1. Der Begriff der Infektionskrankheit“ sei nur ein Ausdruck „primitive(r) Kampfbilder“, die Vorstellung von einer „‚Ursache‘ der Krankheit“ müsse aufgegeben werden (S. 79).
„2. Folglich muß der Begriff der Immunität in jenem klassischen Sinne aufgegeben werden.“ (S. 83)
Viele klassische Begriffe der Immunitätslehre entstammen der Epoche des chemischen Wahnes […] (S. 83)
Die Einteilung in humorale und zelluläre Faktoren (der französische Ritus schreibt den zweiten, der deutsche den ersten größeres Gewicht zu) ist nicht legitimierbar. (S. 84)

Antikörper, humorale und zelluläre Faktoren und Spezifität sind die Grundbegriffe der Immunologie geblieben, so wie Kraft noch immer Masse mal Beschleunigung ist, trotz Relativitätstheorie. Vom Wahn der Toxine, der Rezeptoren, des Komplements hat sich die Medizin noch immer nicht verabschiedet.

Alle diese Vergleichungen kontrollieren den Schluß und heißen »Kontrollen«. Gewiß, es ist nicht die erkenntnistheoretisch beste Methode, doch haben wir bis heute keine andere. (S. 84)

Wenn es keine andere Methode gibt, dann ist die vorhandene Methode zwangsläufig die Beste – das ist eine Tautologie. Das ist nicht nur nachlässig formuliert; Fleck hat hier eine großartige Gelegenheit verpasst, über Wissenschaftlichkeit in der biologischen Forschung zu sprechen. (Mehr dazu wieder Teil 5.)

Wir können vorläufig die wissenschaftliche Tatsache definieren als eine denkstilgemäße Begriffsrelation, die zwar von geschichtlichen, individuell- und kollektiv-psychologischen Standpunkten aus untersuchbar, aber nie ohne weiteres aus diesen Standpunkten inhaltlich vollständig konstruierbar ist. (S. 110)

Wenn das zutrifft, dann auch auf die Auferstehung Christi. Sie ist zweifellos denkstilgemäß, und sie ist eine Begriffsrelation (Relation i. S. von Erzählung, nicht von Beziehung). Sie ist individuell- und kollektivpsychologisch untersuchbar, aber inhaltlich nicht komplett begreifbar. Eine mehr als vorläufige Definition sucht man in dem Buch übrigens vergebens.

Auch im weiteren Text müht sich Fleck redlich, Glauben und Wissenschaft zu vereinen (mehr Einzelheiten dazu Teil 6). Doch was unterscheidet den Denkstil der Astrologen von dem der Astronomen, was macht die „Inkommensurabilität“ aus? Dazu hält er sich eigentümlich bedeckt. Der Denkzwang schlechthin kann nicht geringer gewesen sein. Wir brechen aber hier ab, um nicht wieder zu weitschweifig zu werden. Als erster Eindruck mag dies genügen.

Was lehrt uns das alles über die „Science & Technology Studies“, die sich auf Fleck berufen, und die uns zur Andacht dringend empfohlen werden?

Befleckte Medizinsoziologie 2

23. September 2022 Keine Kommentare

Teil 2 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
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Historisches und Grundsätzliches

Ludwik Fleck (1896-1961) war ein polnischer Mikrobiologe und Immunologe. Sein Buch „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ ist 1935 erschienen. Es hatte einige zeitgenössische Rezensionen in der Fachpresse, aber es wurden nur etwa 200 Exemplare verkauft.[1] Man könnte auch sagen, er sei seiner Zeit voraus gewesen, denn 1962 schrieb Thomas S. Kuhn im Vorwort seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, dass Fleck viele seiner eigenen Gedanken vorweggenommen habe; er hatte den Literaturhinweis aus einer Fußnote bei Hans Reichenbach 1938 aufgelesen. Der Erfolg von Kuhn leitete eine Fleck-Renaissance ein, und 1979 erschien eine englische Übersetzung. Inzwischen gab es Symposien zu Fleck, und er gilt in der Wikipedia als „Vordenker der Historischen Epistemologie“.

Wie ist es dazu gekommen? Fleck schreibt (S. 40):

Nicht um bloße Trägheit handelt es sich oder Vorsicht vor Neuerungen, sondern um eine aktive Vorgehensweise, die in einige Grade zerfällt:

  1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.
  2. Was in das System nicht hineinpaßt, bleibt ungesehen, oder
  3. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
  4. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
  5. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.

Das ist die vollständige Wissenschaftsphilosophie Kuhns mit Paradigmenwechsel usw. in ihrer Keimform, und Kuhn hätte das mehr wert gewesen sein müssen als eine ehrende aber beiläufige Erwähnung in seinem Vorwort. Kuhns eigener – nahezu beispielloser – Erfolg „stammt aus einer Vermengung des Deskriptiven mit dem Präskriptiven: aus der beständigen Weigerung, zwischen der Geschichte oder Soziologie der Wissenschaft und der Logik oder der Philosophie der Wissenschaft zu unterscheiden.“[2] Der Erfolg dieser Wissenschaftstheorie war nicht zwangsläufig, denn auch sie hatte mit der Verstocktheit der Ewiggestrigen zu kämpfen. Der Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939) hatte den Widerstand gegen das Neue in der Wissenschaft zuvor ein wenig prosaischer und gewitzter geschildert:

Bei der Ablehnung neuer Ideen macht natürlich die Bequemlichkeit nicht wenig aus. Man muß wieder umdenken, alles in neue Zusammenhänge bringen, ev. neue Behandlungsmethoden erlernen, die man nicht gleich in ihrer ganzen Bedeutung erfassen kann. Das Neue hat eben immer einen gewissen unangenehmen Beiklang, wenn man wenigstens nicht mit dem Alten ganz unzufrieden gewesen ist. So kann es kommen, daß die Spitzen des Gesundheitswesens eines großen, erleuchteten Staates auf offizielle Anfrage hin einige Zeit nach Entdeckung der Röntgenstrahlen erklärten, diese haben keine besondere Bedeutung für die Militärsanität. Das ist der Misoneismus [Hass gegen das Neue] des Philisters.

Und weitere soziale Aspekte unterschlägt er nicht. Anlässlich von Semmelweis meint er:

Für den, der sich mit oder ohne Grund zu den Führenden zählt, ist es aber auch nicht angenehm zu konstatieren, daß ein anderer der Gescheitere war; ja darin, daß man sich mit den gegenwärtigen Zuständen zufrieden gegeben hatte, liegt ein Vorwurf gegen sich selber. [3]

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  1. : Jürgen Mittelstraß (hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Metzler, 2005, Bd. 2 S. 512f
  2. : „this irrationalism stems from the conflation […] of the descriptive with the prescriptive: from his steady refusal to distinguish the history or sociology of science from the logic or philosophy of science.“ (David Stove: Popper And After, Pergamon Press 1982, S. 4)
  3. : Eugen Bleuler: Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Berlin, 2. Aufl. 1921, S. 43

Befleckte Medizinsoziologie 3

23. September 2022 Keine Kommentare

Teil 3 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
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Einige Details

Flecks Buch ist nicht umfangreich. Es umfasst 190 Seiten und ist in vier Kapitel gegliedert, aus denen wir eine Blütenlese charakteristischer Behauptungen untersuchen wollen. Wir benutzen die 9. Auflage 2012 (erste Auflage 1980) der bei Suhrkamp in Frankfurt/M. erschienenen Ausgabe, die zur Erstausgabe 1935 textidentisch ist. Die ersten Worte sind:

Was ist eine Tatsache?
Man stellt sie als Feststehendes, Bleibendes, vom subjektiven Meinen des Forschers Unabhängiges den vergänglichen Theorien gegenüber.

Schon dieser Satz, so global und unschuldig wie er klingt, ist zweifelhaft. Tatsachen müssen nicht feststehend oder bleibend sein; wenn es zutrifft, dann für Naturgesetzlichkeiten – schon für ihre Repräsentation, ihre wissenschaftliche Formulierung, gilt das nicht mehr, aber warum sollten selbst letztere nicht objektiv sein können. Es ist ein Fakt, dass ein Glas auf dem Tisch steht – solange, bis ich es in die Küche bringe. Vergänglichkeit ist nicht dasselbe wie „subjektives Meinen“. Tatsachen wie diejenige, dass der Mensch zwei Augen hat, nennt Fleck „passiv“, man wisse nicht mehr, wie man zu dieser Ansicht gekommen sei, und solche Tatsachen würden einen Zwang ausüben (S. 1). – In der Psychiatrie bedeutet „Zwanghaftigkeit“ ein Festhalten an Gedanken/Handlungen wider besseres Wissen; weiß der Mensch, dass er nicht zwei Augen hat? Solche terminologischen Unbestimmtheiten ziehen sich durch den gesamten Text.

1. Kapitel: Wie der heutige Syphilisbegriff entstand

Fleck schildert die historische Entwicklung, die allmähliche Differenzierung der vorwissenschaftlichen Ansichten von der Lustseuche. Ihre „sozialpsychische und geschichtliche Begründung war so stark, daß es vierhundert Jahre brauchte,“ bis die moderne wissenschaftliche Auffassung von dieser erregerbedingten Krankheitseinheit entstand (dies ist nicht die Ausdrucksweise Flecks, wir kürzen hier nur ab). „Diese Beharrungstendenz beweist, daß keine sogenannten empirischen Beobachtungen den Aufbau und die Fixierung der Idee durchführten, sondern daß spezielle, tief aus dem Psychischen und der Tradition kommende Faktoren mitspielten.“ (S. 6, kursiv vom Verf.) – Die Rolle empirischer Faktoren bei der Erarbeitung eines wissenschaftlichen Konzepts wird systematisch teils ignoriert, teils abgewertet, und auch diese Tendenz zieht sich durch den Text.

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Befleckte Medizinsoziologie 4

23. September 2022 Keine Kommentare

Teil 4 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
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2. Kapitel: Erkenntnistheoretische Folgerungen aus der vorgebrachten Geschichte eines Begriffes

[M]an darf die Syphilis nicht formulieren als »die durch Spiroch. pallida hervorgerufene Krankheit«, sondern umgekehrt, muß Spiroch. pallida als »der zur Syphilis Beziehung habende Mikroorganismus« bezeichnet werden. Eine andere Definition dieses Mikroben ist aussichtslos und außerdem könnte die Krankheit dadurch nicht eindeutig definiert werden […] Auch der heutige Begriff der Krankheitseinheit z. B. ist Entwicklungsergebnis und nicht die logisch einzige Möglichkeit. Man kann nicht nur vollkommen andersartige Krankheitseinteilungen einführen, wie es die Geschichte lehrt, aber man kann auch überhaupt ohne den Begriff einer Krankheitseinheit auskommen. (S. 32)

Wenn das die Kernannahme ist: sie ist disqualifizierend. Fleck spricht von den „verschiedenen Stadien“ wie auch den „verschiedenen Kranken“, die „immer anders“ zu behandeln seien, und das sei „nicht impraktisch“ (S. 32); aber wir reden – speziell hier – von einer bakteriellen Infektionskrankheit. Der ätiologische, d. h. an der Krankheitsursache und den Pathomechanismen orientierte, Krankheitsbegriff ist nicht wahlfrei und dem symptomatischen qualitativ gleichwertig. Der „tiefere Sinn des symptomatischen Krankheitsbegriffs“ wäre die Rückkehr zum Mystizismus.

Die numerische Methode, die quantitative, vergleichende Erfassung des Behandlungserfolgs (eingeführt von P. C. A. Louis, 1787–1872), lässt sich nicht mit dem zwangsläufigen Voluntarismus einer solchen „individuellen“ Medizin vereinbaren, und sie war damals schon einhundert Jahre alt (wenn auch noch nicht überall akzeptiert). Diese Methode ist die Hauptstraße zum Fortschritt in der klinischen Medizin. Dagegen entspräche eine Klassifikation wie „Krankheiten, die zu Hautausschlag führen“ usw. im Kern einer Einteilung der Tiere in welche, die fliegen, welche, die schwimmen u.ä. Selbstverständlich kann man mit ähnlich gelagerten oder gänzlich fiktiven Krankheitseinheiten auskommen – die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) führt es vor. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun.

„Der Begriff der Syphilis muß wie ein denkhistorisches Ereignis, wie ein Ergebnis der Entwicklung und des Zusammentreffens einiger kollektiver Denklinien untersucht werden“, sagt Fleck (S. 34). – Mag sein. Es gibt andere kollektive Denklinien. In manchen Kulturkreisen ist man der Ansicht, dass westliche Ärzte handwerklich ganz brauchbar sein mögen, aber die wirklichen Probleme nicht lösen könnten, denn sie wüssten nicht, wie man Geister vertreibt (Sidky, Shamanism). Hat man den Begriff der Syphilis als reine Gedankenarbeit, Wesensschau entwickelt, oder haben sich die Gedanken auf empirische Untersuchungen gestützt? „[D]ie Bezeichnung ‚Existenz'“ der Syphilis dürfe man „nur als denktechnisches Hilfsmittel, als bequeme Abkürzung zu gebrauchen“ (S. 34). Aber wofür steht diese Abkürzung, die man nur in Gänsefüßchen setzen darf?

Der Begriff der Syphilis lasse sich auf eine „Uridee“ zurückführen. „Auch andere Lehren, wie […] der Satz von der Kugelgestalt der Erde und das heliozentrische System, entwickelten sich historisch aus mehr oder weniger unklaren Urideen“ (S. 36). Aber man kann sicher sein, dass noch eine Unzahl mehr Urideen z. B. zur Erdgestalt gewabert haben, vgl. etwa das Schachteluniversum des Kosmas Indikopleustes. Im weiteren (S. 38 u. ö.) wird deutlich, dass Fleck die Vorstellung von einer approximativen, näherungsweisen Wahrheit unbekannt geblieben ist. Fleck hält die Kochschen Postulate (zur Identifizierung eines Krankheitserregers) als Ausdruck einer Spezifitätslehre für veraltet und meint, es werde sich zeigen, „daß die klassische Infektion, d. h. die Invasion eines Erregers, ein Ausnahmefall des Mechanismus der Entstehung einer Infektion ist“ (S. 43). Das ist schlicht falsch. Natürlich ist die Infektiologie inzwischen komplizierter als zu Kochs Zeiten, aber seine Postulate sind modifiziert weiterhin grundlegend [WP]. Der Infektiologe Mark Crislip von SBM beschreibt seine Tätigkeit so: “Me find bug. Me kill bug. Me go home.”

In Abschnitt 3 des Kapitels zitiert Fleck ausführlich Paracelsus, der uns heute unverständlich sei, aber einen in sich geschlossenen „Denkstil“ repräsentiere (S. 45f). Die Kuhnsche „Inkommensurabilität“ hat hier ihr Samenkorn, sogar der Terminus geht auf Fleck zurück (s. 83). Was aber diesen Denkstil als zeitgenössische Wissenschaft ausgezeichnet hat oder haben soll, und was ihn von späterer Wissenschaft unterscheidet, das wird nicht erörtert. Auch in anatomischen Werken sieht er fiktive Strukturen, die er auf überkommene Konzepte zurückführt (S. 47f). – Doch es ist letztlich banal, dass es auch nach Vesal in der Anatomie noch „theoriegeleitete“ Irrtümer gegeben hat, der Autorität der Überlieferung geschuldet. Sie kommen nicht aus zu viel, sondern aus zu wenig Wissenschaftlichkeit. In einer Fleck näheren Sprache: das ist kein Geburtsfehler des wissenschaftlichen Denkstils, sondern, im Gegenteil, Folge mangelner empirischer Kontrolle. Wir kommen noch einmal darauf zurück. Fleck dagegen meint, folgernd aus einer Darstellung der weiblichen Genitalien, die auch in heutigen Atlanten idealisiert sei:

Doch der Weg von der Sektion bis zur formulierten Lehre ist so verwickelt, so wenig unmittelbar, so sehr kulturbedingt. Je eindringlicher wir ihn uns vergegenwärtigen, um so zahlreichere denkgeschichtliche, psychologische und zu den Autoren führende Beziehungen treten uns entgegen. In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.

Darin ist nur ein Körnchen Wahrheit: ein ungeleiteter Blick wird nichts erkennen. In der Tat gibt es von Frau zu Frau auch noch unübersehbar viele individuelle Varianten in Lage und Form der Genitalien. Ist das ein Argument gegen die Annahme, dass Uterus, Ovarien, Tuben unabhängig von der Wissbegier der Anatomen existieren, dass sie gemeinsame Charakteristika haben, und dass diese Charakteristika von Vesal besser als von Galen erfasst worden sind? Die Kultur hat Vesal in die Lage versetzt, sie zu beschreiben, – indem sie es ihm z. B. (mehr oder weniger) gestattete, Menschen zu sezieren statt Tiere – aber sie hat Vesal nicht seine Erkenntnisse diktiert. Theoriegeleitet ist eine Beobachtung immer, aber es kommt darauf an, worauf sich die Theorie stützt.

Der Satz »Schaudinn hat Spir. pallida als den Erreger der Syphilis erkannt« entbehrt ohne weiteren Zusatz eindeutigen Sinnes, denn »Syphilis an sich« existiert nicht. (S. 55)

Das ist ein klarer Fall von Tuberkelbazillus, „das vor Koch keine wirkliche Existenz“ hatte (dies war die Antwort von Bruno Latour auf die Frage, ob Ramses II an Tuberkulose gestorben ist). Den Werdegang der Akzeptanz Schaudinns stellt Fleck wissenschaftshistorisch falsch dar.[4] Am Erkennen seien „drei Faktoren“ beteiligt, „und zwar das Individuum, das Kollektiv und die objektive Wirklichkeit“ und es ließen sich ein „oder vielleicht auch zwei Faktoren“ aus dem Erkenntnisprozess eliminieren (S. 57) – Und so gelingt es Fleck, die objektive Wirklichkeit rückstandsfrei aufzulösen.

Es folgen noch zahlreiche weitere philosophisch fragwürdige Thesen. Ich greife hier nur noch ein Beispiel heraus:

Nach einer Reihe Rundgänge innerhalb der Gemeinschaft, kehrt oft eine Erkenntnis wesentlich verändert zum ersten Verfasser zurück – und auch er sieht sie schon ganz anders an, erkennt sie nicht als seine eigene oder (ein häufiges Geschehen) glaubt sie ursprünglich in der jetzigen Gestalt gesehen zu haben. (S. 58f)

Dafür gibt es plastische und literaturnotorische Beispiele: Lukian hatte die Geschichte der Himmelfahrt des Peregrinus Proteus erfunden (§§ 39, 40) und Yossarian diejenige von dem Lepage-Geschütz, das ganze Bomberverbände in der Luft zusammengeleimte – nur dass Lukian nicht wie Yossarian erbleichte, sondern sich belustigte, als er sie wieder hörte. Aber Yossarian war betrunken.

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  1. : Jean Lindenmann: Siegel, Schaudinn, Fleck and the Etiology
    of Syphilis
    . Stud. Hist. Phil. Biol. & Biomed. Sci., Vol. 32, No. 3, pp. 435–455, 2001

Befleckte Medizinsoziologie 5

23. September 2022 Keine Kommentare

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3. Kapitel: Über die Wassermann-Reaktion und ihre Entdeckung

Die Wassermann-Reaktion ist eine heute wegen ungenügender Spezifität verlassene Labormethode zur Diagnose der Syphilis aus dem Blutserum.

Die Reaktion hat ein fixes Schema, doch wird sie in so vielen Modifikationen ausgeführt als es ausführende Laboratorien gibt. Sie fußt auf genauen quantitativen Berechnungen, doch ist immer der klinische Blick, das »serologische Fühlen« viel wichtiger als Berechnung. (S. 73)

Die heutige Laboratoriumsdiagnostik mit ihrer automatisierten Probenverarbeitung, ihren standardisierten Reagenzien, ihren qualitätssichernden Ringversuchen usw. hat sich weit, weit davon entfernt, zumindest was die Routinediagnostik angeht. Die Wissenschaft war vergleichsweise erfolgreich darin, die Züge der Kunst, der Erfahrung abzulegen und die der Objektivität, der Unabhängigkeit vom Untersucher, anzustreben. Das „serologische Fühlen“ meint vermutlich so etwas wie zu beurteilen, ob eine schwache Färbung nun als positiver oder negativer Befund zu bewerten ist – so etwas schreit aber nicht nach Kunst, sondern nach Spektrometrie. Und was die i. e. S. klinische Erfahrung des Testers angeht: sie sollte prinzipiell nicht in die Ablesung des Ergebnisses, ob positiv oder negativ, eingehen – erst die Interpretation des Ergebnisses ist Sache des Klinikers. Ein besseres Beispiel wäre heute vielleicht das EEG, das von Berger 1928 entdeckt wurde und sich der völlig digitalen Auswertung weiterhin hartnäckig verweigert. Aber man kann bezweifeln, dass sie prinzipiell nicht automatisierbar ist.

Im folgenden gibt Fleck eine – noch heute lesenswerte – Einführungsvorlesung in die Immunologie von Julius Citron (1910) wieder, die er anschließend ausführlich kritisiert. Aber seine Kritik ist nur holistische Naturphilosophie statt empirisch fundierter Gegendarstellung. Gemessen am Ziel der Widerlegung von Citron und der „materialistische[n] Theorie“ vom Organismus als eine „in sich abgeschlossene, selbständige Einheit“ (S. 80), die dessen Darstellung zugrunde liege, ist sie ein Gish-Galopp. Fleck behauptet:

„1. Der Begriff der Infektionskrankheit“ sei nur ein Ausdruck „primitive(r) Kampfbilder“, die Vorstellung von einer „‚Ursache‘ der Krankheit“ müsse aufgegeben werden (S. 79).
„2. Folglich muß der Begriff der Immunität in jenem klassischen Sinne aufgegeben werden.“ (S. 83)
„3. […] Die Einteilung in humorale und zelluläre Faktoren (der französische Ritus schreibt den zweiten, der deutsche den ersten größeres Gewicht zu) ist nicht legitimierbar. Desgleichen der Begriff der Spezifität in diesem gebrauchten Sinne. Ein ausgesprochen mystischer Begriff!“ (S. 84).
„4. Auch eine methodische Einweihung enthält die Vorlesung von Citron […] Alle diese Vergleichungen kontrollieren den Schluß und heißen ‚Kontrollen‘. Gewiß, es ist nicht die erkenntnistheoretisch beste Methode, doch haben wir bis heute keine andere.“ (S. 84) [kursiv im Original]

Antikörper, humorale und zelluläre Faktoren und Spezifität sind die Grundbegriffe der Immunologie geblieben, so wie Kraft noch immer Masse mal Beschleunigung ist, trotz Relativitätstheorie. Kein Wunder, dass das ganze Buch nach seinem Erscheinen völlig in der Versenkung verschwunden und erst 30 Jahre später von dem Nichtmediziner Kuhn wiederentdeckt worden ist. Es hätte Kuhn Abbruch getan, wenn es sogleich in englisch verfügbar gewesen wäre (als die Übersetzung erschien, war die wissenschaftshistorische Öffentlichkeit schon im Kuhnschen Sinne paradigmatisch transformiert, so dass es ihm nicht mehr geschadet hat). Die herabsetzende Wortwahl („Ritus“, „mystisch“) deutet an: Fleck sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion. Im Gegenteil: er sucht die Gemeinsamkeit, eine prinzipielle Identität des „Denkstils“. Auch darauf werden wir kurz zurückkommen. Kontrollen sind für Fleck ein leider notwendiges Übel, erkenntnistheoretisch anrüchig. Doch wenn es keine andere Methode gibt, dann ist die vorhandene zwangsläufig die beste – das ist eine Tautologie. Die Kontrollen (Leerversuche) sind nicht das lästige aber unvermeidliche Beiwerk, sondern der Inbegriff der Wissenschaftlichkeit, der Königsweg zur Absicherung gegen Fehlschlüsse aus zufälligen Beobachtungen. Fleck hat nicht nur nachlässig formuliert, sondern eine großartige Gelegenheit verpasst, über Methodologie in der biologischen Forschung zu sprechen. Ihm muss dunkel bewusst gewesen sein, dass seine Vorstellung von Fortschritt via „Denkstil“ gewisse Mängel aufweist.

Was hat Citron wirklich gesagt? Beispielsweise dies:

Die chemische Natur der Antikörper ist unbekannt. Wir wissen nicht einmal, ob das, was wir Antikörper nennen, überhaupt selbständige chemische Gebilde darstellen. Wir kennen nur Serumwirkungen. Die in Gedanken vollzogene Materialisierung dieser Serumwirkungen stellen die Antikörper dar.

Eine funktionelle Definition des Antikörpers, die völlig kompatibel ist mit der Strukturaufklärung heute. Oder dies:

Ich selbst habe es mir zur Regel gemacht, und ich empfehle Ihnen das gleiche, bei der Lektüre neuer wissenschaftlicher Mitteilungen aus dem Gebiet der Serodiagnostik zuerst auf die angeführten Kontrollen zu sehen. Sind diese ungenügend, dann ist der Wert der Arbeit, mag darin was immer enthalten sein, zunächst ein sehr geringer, denn alle Angaben können zwar, müssen aber nicht richtig sein.

Eine Regel, die hundert Jahre später noch immer uneingeschränkt empfohlen werden kann. Wie vielversprechend auch der Titel einer wissenschaftlichen Arbeit sein mag: Man lese zuerst Material & Methode, und wenn interessant sein könnte, was man auf diese Weise herausfinden kann, dann ist es eine genaue Lektüre wert.

Im Folgenden stellt Fleck ausführlich die Geschichte der Unterstützung Wassermanns durch die preußischen Behörden dar, sowie als deren soziales Motiv, als eigentliche Triebkraft der Entwicklung, die nationale Konkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland (S. 90). Sicher. Wenn die Forscher nicht das Geld für die Reagenzien gehabt hätten, wäre es nichts mit der Entdeckung der Wassermann-Reaktion geworden. Und sie mussten vom Ministerium die Idee empfangen, so wie dem Denkkollektiv der TCM-Protagonisten die Richtung vom Großen Führer Mao gewiesen worden ist. Aber abgesehen davon, dass Röntgen mit der behördlichen Rückendeckung offenbar weniger glücklich gewesen ist (s. v.): so ganz hinreichend kann die staatlich gelenkte Erleuchtung nicht sein, denn sonst würden wir alle heute Lyssenko als größten Biologen des 20. Jhd. verehren. Man muss da gar nicht auf die mittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Alchimisten verweisen, die alle Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen haben, um Stroh zu Gold zu spinnen.

Die einzig mögliche Folgerung aus dieser Geschichte der Wassermann-Reaktion ist: Extrinsische Motivation kann helfen, aber sie ersetzt keine wissenschaftliche Neugier, und sie ist nicht einmal eine zusätzliche Bedingung, ohne die nichts geht. Möglich, dass es nie eine Wassermann-Reaktion gegeben hätte (sie ist wegen ihrer nicht ausreichenden Spezifität wieder aufgegeben worden), doch wäre es auch ohne Ermutigung durch die preußische Bürokratie zur Entwicklung der modernen Immunologie gekommen, wenn auch vielleicht später oder anders. Die Proteinstruktur des Antikörpers, die Funktion der Lymphozyten entzieht sich ihrem Einfluss. „Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden“ (Brecht).

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Befleckte Medizinsoziologie 6

23. September 2022 Keine Kommentare

Teil 6 unserer Serie zur Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck
Teil 5

4. Kapitel: Erkenntnistheoretisches zur Geschichte der Wassermann-Reaktion

Wir können vorläufig die wissenschaftliche Tatsache definieren als eine denkstilgemäße Begriffsrelation, die zwar von geschichtlichen, individuell- und kollektiv-psychologischen Standpunkten aus untersuchbar, aber nie ohne weiteres aus diesen Standpunkten inhaltlich vollständig konstruierbar ist. (S. 110, kursiv im Original)

Wenn das zutrifft, dann ist auch die Auferstehung Christi eine wissenschaftliche Tatsache. Sie ist zweifellos denkstilgemäß, und sie ist eine Begriffsrelation (Relation i. S. von Erzählung, nicht von Beziehung). Sie ist individuell- und kollektivpsychologisch untersuchbar, aber inhaltlich nicht komplett begreifbar.

Daran an schließt der sympathischste Zug des ganzen Werkes: die Schilderung, wie Wassermann aus seinen ersten tastenden Versuchen, die rückblickend nicht mehr reproduzierbar gewesen sind, zu einer haltbaren Lösung gelangt ist.

„Es ist auch klar, daß Wassermann aus diesen verworrenen Tönen jene Melodie heraushörte, die in seinem Innern summte, für Unbeteiligte aber unhörbar war.¹ Er und seine Mitarbeiter horchten und drehten an ihren Apparaten so lange, bis diese selektiv wurden und die Melodie auch den Unbeteiligten (Unvoreingenommenen) vernehmbar wurde“ (S. 113).

Treffende Beobachtungen. Das grundlegende Problem dieser Darstellung ist nicht, dass sie nicht die Realität der Forschung abbildet, sondern dass sie willkürliche Schlüsse nahelegt, weil sie auf einer insuffizienten Philosophie beruht. Für „innere Harmonie des Denkstils“ (S. 114) könnte man auch Kohärenz der Wissenschaft sagen, das wäre präziser und würde die Religion ausschließen. Rudolf Carnap rät er, „er möge die soziale Bedingtheit des Denkens endlich entdecken“ (S. 121). „So entsteht die Tatsache: zuerst ein Widerstandsaviso im chaotischen anfänglichen Denken, darin ein bestimmter Denkzwang, schließlich eine unmittelbar wahrzunehmende Gestalt“ (S. 124, kursiv im Original). – So entsteht sie nicht, sondern so wird sie allenfalls erkannt, und der abwertende Tonfall lässt auf ein leises Bedauern schließen, dass der ungezügelte Denkstil zu nichts führt.

„Den gemeinschaftlichen Träger des Denkstiles nennen wir das Denkkollektiv. […] Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“ (S. 135) – Es ist also ein undefinierter, inhaltsleerer Begriff, denn es gibt kein Nicht-Denk-Kollektiv. Es gäbe „momentane“ und „stabile“ Denkkollektive. Doch auch nichtwissenschaftliche Denkkollektive haben eine formale Struktur, mit einem „gewissen disziplinierten, gleichmäßigen, diskreten Niveau“, denn das gilt schon für Familien, Sippen und erst recht für Kirchen … und genau darauf kommt es Fleck an: Statt den Unterschied zur Unwissenschaftlichkeit herauszuarbeiten, betont er die Gemeinsamkeiten. Ein Lehrbuch der Astronomie ist nichts anderes als ein Katechismus, ein Ordensgelübde nichts als ein Staatsexamens-Diplom: „Die Einweihung in einen Denkstil, also auch die Einführung in eine Wissenschaft sind erkenntnistheoretisch jenen Einweihungen analog, die wir aus der Ethnologie und Kulturgeschichte kennen. Sie wirken nicht nur formell: der heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar“ (S. 137) – auch hier nimmt er Kuhn vorweg, der nur ein wenig vorsichtiger mit seinen Formulierungen gewesen ist. Worin unterscheidet sich die Bibel von der Entstehung der Arten? Zustimmend wird Uexküll zitiert: „Die Physik hat sich mit ihrem Glauben an die absolute Existenz einer objektiven Welt vollkommen festgefahren.“ (S. 138) Aber was das wissenschaftliche Denkkollektiv nun wirklich vom Kardinalskollegium trennt, das bleibt der Elefant im Raum: der kritische, auf Fehlerquellen abklopfende Umgang mit der Erfassung der in ihrer Existenz unbezweifelten Realität, der Korrespondenzbegriff der Wahrheit.

Anschließend rezipiert Fleck mittelalterliche Signaturenlehren und ausführlichst frühneuzeitliche medizinische Traktate, die schon zur Zeit ihrer Entstehung Fringe gewesen sein müssen [5]. Dieser Denkstil hat bereits einen einprägsamen, kurzen Namen, der jedermann geläufig ist: man nennt ihn Magie, oder heute, Esoterik. Mit ebenso großer Liebe zum Detail zitiert er aus einer Epitome aus Vesals Anatomie 1642. Er stellt fest, dass die Beschreibungen z. B. der Knochen um vieles umfangreicher sind als in heutigen Anatomie-Atlanten, denn sie enthalten ganze Abhandlungen z. B. zur Etymologie. Fleck spekuliert wortreich darüber, was die Namen für eine tiefe Bedeutung hatten. – Doch das war 1642 keine medizinische Forschung, sondern die Reproduktion von Bekanntem. Anatomie hatte eine viel geringere praktische Bedeutung, denn jegliche ernsthafte Chirurgie scheiterte an fehlender Beherrschung der Wundinfektion und fehlender Schmerzstillung, und man überließ sie den Barbieren (der Rechtgläubige durfte kein Blut vergießen). Auch die Erfolge der Inneren Medizin basierten nahezu völlig auf dem Placebo-Effekt, und dafür konnte salbungsvolles gelehrtes Gelaber über Etymologie nur hilfreich sein. Sie wussten nur Zugpflaster, Aderlasse und Einläufe, so dass die Homöopathie einen Fortschritt bedeutete, weil sie wenigstens den natürlichen Verlauf nicht verkomplizierte. Pierre Bayle hatte ganz recht daran getan, sich die Ärzte vom Leibe zu halten. Das 18. Jhd. war der Nadir der Medizin. Dr. John Coakley Lettsome (1744–1815) wird folgender Vers zugeschrieben:

I, John Lettsome,
Blisters, bleeds and sweats ‚em.
If, after that, they please to die,
I, John Lettsome.

Ich, John Lettsome,
Verpasse Zugpflaster, Aderlässe, Schwitzbäder,
Wenn sie dann zu sterben belieben,
Ich, John, lasse welche/sie. [let some oder let them]

Da muss man gar nicht so viel über Denkstile philosophieren.

Fleck wird nicht müde in dem Bestreben, Glauben und Wissenschaft zu vereinen. Die Spezifik des wissenschaftlichen Denkens bestehe in seiner Stimmung. „Sie findet den Ausdruck als gemeinsame Verehrung eines Ideals, des Ideals objektiver Wahrheit, Klarheit und Genauigkeit. Sie besteht aus dem Glauben, daß Verehrtes erst in weiter, vielleicht unendlich weiter Zukunft erreichbar sei. Aus der Lobpreisung sich seinem Dienste aufzuopfern. Aus einem bestimmten Heroenkult und einer bestimmten Tradition.“ (S. 187f, kursiv im Original).

Schluss

Fleck hält die „lebensfremde Sprache“ für das eigentliche Signum wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie sorge für die „fixe Bedeutung der Begriffe“ und mache sie „entwicklungslos, absolut“. Hierzu trete „die spezifische Verehrung der Zahl und der Form“ (S. 189) – aber das sollte dann auch pythagoreische Zahlenmystik zur Wissenschaft machen. Was der eigentliche Inhalt der Objektivierung ist, das zu erfassen ist seiner Philosophie verwehrt. Fleck kann sich nur bei Formalien aufhalten. Überdies ist es Unfug, denn natürlich ändert sich auch die Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe – im Gegensatz zu dem proklamierten Aeternismus religiöser Begriffe. Die „Verehrung der Zahl“ stammt nicht aus dem Pythagoreismus, sondern aus der Bemühung um Vergleichbarkeit, Reproduzierbarkeit. Und der Maßstab der Wissenschaft ist nicht das „Maximum gegenseitiger Beziehungen“ (S. 189), sondern die Nähe zur Wirklichkeit, welche unauslotbar komplex ist – kein Grund, sie nicht anzustreben.

Summa summarum: das Buch ist enttäuschend, gemessen an der Bugwelle, die es macht, und es ist erstaunlich, wieviel Weitschweifigkeit Fleck in dessem geringen Umfang unterzubringen in der Lage war (boring repetitions, sagt Bunge [6]). Dies ist der Leitstern nicht nur der medizinischen Soziologie des 21. Jahrhunderts. Es sollte zurück in das behagliche Asyl, das es die ersten Jahrzehnte seiner Existenz bewohnt hat. Frau Doktor Dana Mahr – und mit ihr alle Fleck-Verehrer in Soziologie und Wissenschaftsphilosophie -: zurück auf die Schulbank!

Wilhelm Busch: Der Katzenjammer am Neujahrsmorgen

Der Dichter und Zeichner Robert Gernhardt (Vom Wettlauf zwischen Hase Hochkunst und Igel Karikatur) stellt fest, dass Wilhelm Busch hier den Konstruktivismus vorweggenommen hat.

Teil 5


  1. : „Odilon Schreger: Studiosus jovialis, Pedeponti, 1755“: Es ist nicht plausibel, dass das um die Mitte des 18. Jahrhunderts Spitzenwissenschaft (oder überhaupt Wissenschaft) gewesen ist. Galilei, Boyle und Newton waren lange tot; das war die Zeit Buffons und Reimarus‘, der Encyclopedie, Holbachs und Diderots. Odilon Schreger kommt in den Lexika nicht vor, und älteren medizinhistorischen Übersichten ist er nicht einmal eine Fußnote wert. Er hat kaum Google-Treffer, und 3/4 von ihnen gehen auf Fleck zurück. Es wäre kein Problem, auch heutige Esoterik gleicher Qualität aufzutreiben, denken wir nur an Steiner. – „Joseph Löw: Über den Urin, Landhut 1815“: Fleck glaubt zu wissen, dass dieser seine verstiegene Metaphorik für „einfache Naturbetrachtung“ gehalten habe, „genau wie heute viele Naturforscher die ihrige.“ – Das muss man keineswegs für ausgemacht halten. Er könnte auch nur alte Schwarten abgekupfert und ein bisschen mit Neologismen aufgehübscht haben, um die Leser mit seiner Beobachtungskunst und Gelehrsamkeit zu beeindrucken. Ein wenig Übertreibung wird doch wohl erlaubt sein. Hat er denn keine medizinischen Autoritäten, von Galen angefangen, zitiert?
  2. : Mario Bunge: „Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact. Edited by T. J. Trenn & R. K. Merton. Translated by F. Bradley & T. J. Trenn. Foreword by T. S. Kuhn. Chicago: The University of Chicago Press, 1979, 203 pp.“ Behavioral Science, 26(2) 1981, 178–180. doi:10.1002/bs.3830260211
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