Das Elend der Selbsthilfeorganisationen – ein Fallbeispiel

Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfevereine genießen weitverbreitet ein hohes gesellschaftliches Ansehen; auch wenn hier und da gelegentlich unangenehme Fragen auftauchen und die Effektivität der gewährten Hilfe durchaus in Frage stehen kann. Dass die Bedenken zuweilen nicht ganz unbegründet sind, liegt zu einem guten Teil an der Kritiklosigkeit, mit der solche Organisationen ihre Hilfsangebote zusammenklauben. Hier und da wäre ein fundierter fachlicher Rat besser als der schiere gute Wille. Kehrt sich dieses Verhältnis um, rollen die redlichen Ansätze geradewegs den roten Teppich aus für die Verbreitung pseudomedizinischer Heilsversprechen, über deren Validität sich erkennbar niemand dort ein fundiertes Urteil geschaffen hat. Ein Beispiel? Bitte sehr:

Seit Mai 2012 kursiert unter dem Titel „Lebenslang durch Alkohol“ eine Broschüre des FASD Deutschland e.V., der sich der Problematik des „Fetal Alcohol Spectrum Disorder“ (FASD) gewidmet hat, also den Auswirkungen von Alkoholkonsum der Mütter während der Schwangerschaft auf die physische und psychische Verfassung ihrer Kinder. Die Broschüre wird vom BKK Bundesverband, dem Deutschen Guttempler-Orden, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und der Stiftung für das behinderte Kind gefördert, und in der Tat enthält sie zahlreiche wertvolle Informationen über die schwierige Diagnostik und den persönlichen und therapeutischen Umgang mit Betroffenen, die nicht hoch genug gewürdigt werden können.

 

Sie enthält aber auch noch etwas anderes: Empfehlungen für ausgemachte Quacksalberei, die auch hier wieder einmal den Adelsschlag hochoffizieller Promotion erhält – ein ärgerlicher Vorgang, der nicht nur die Bemühungen um eine Konzentration der vorhandenen Mittel auf evidenzbasierte Methoden konterkariert, sondern die Betroffenen selbst in trügerischen Erwartungen wiegt – und schlimmstenfalls direkt schädigt.

Die genannte Broschüre enthält auf Seite 28 einen Abschnitt mit dem Titel „Therapien bei FASD“. Ein Absatz darin zählt Hilfemethoden auf, namentlich

Logopädie, Frühförderung, … therapeutisches Reiten, … Physiotherapie, Musiktherapie…

Je nach der Ausprägung des Syndroms sind das vernünftige und im Rahmen ihrer Möglichkeiten hilfreiche Dinge, die, auch soweit sie einer isolierten und robusten Prüfung ihrer Wirksamkeit nicht unbedingt zugänglich sind, wenigstens ihren Platz im Rahmen eines multimodalen Gesamtkonzepts haben können und über die suggestive Kraft einer zusätzlichen Intervention nützlich sein können. Die an dieser Stelle noch erwähnte

Schlucktherapie

gehört für gewöhnlich ohnehin in das Leistungsangebot der Logopäden. Im selben Satz stehen aber auch bereits Empfehlungen für Methoden, die mindestens zweifelhaft bis fragwürdig sind, namentlich

 Motopädie, … Tomatis-Methode, … Päpkie usw.

Die „motopädische Arbeitsweise“ bewirbt sich selbst mit einer Ansammlung schwammiger Begrifflichkeiten, die nicht im Ansatz erkennen lassen, worin konkret der Mehrwert gegenüber einer der oben aufgezählten, validen Behandlungsmethoden liegen soll – für den Patienten, nicht für das Selbstverständnis der Behandler:

Körper, Geist und Seele als funktionale Einheit, die Beziehung zum Menschen als Grundlage, Ressourcenorientiertheit, Achtung und Einbeziehung der Emotionalität, Handlungs-, Erlebnis- und Konfliktorientiertheit, Selbstwirksamkeit, Formung eines positiven Selbstkonzeptes, Aktivierung von Selbstheilungskräften, Nutzung gruppendynamischer Prozesse, Berücksichtigung systemischer Faktoren

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremiums der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Deutschlands, hält die Methode für ein komplementäres Verfahren ohne Wirksamkeitsnachweis, das nach den Heilmittelrichtlinien deshalb nicht verordnungsfähig ist.

Das Gleiche gilt für die ebenfalls aufgezählte  „die Tomatis-Methode“ oder Tomatis-Therapie, eine auf den französischen Arzt Alfred A. Tomatis zurückgehende „Horchtherapie“ mit speziell aufbereiteter Musik und Stimme, die von einschlägig kompetenten Fachinstitutionen gundsätzlich verworfen wird, weil sie „auf wissenschaftlich nicht haltbaren Vorstellungen“ und mystisch überhöhter Begriffe der Hörwahrnehmung beruhe („HÖRTRAINING“ NACH TOMATIS UND „KLANGTHERAPIE“, Gemeinsame Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie, der ADANO* der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, D. Karch e.a. 1998).

„Päpkie“ bezieht sich offenbar auf die mit einem Markenschutzzeichen versehene PäPKi®,

die „Pädagogische Praxis für Kindesentwicklung“, die ihr besonderes Augenmerk auf

Aufrichtungsdefizite“,

insbesondere „krumme und unruhige Sitzpositionen“ richtet, denen mit gymnastischen Bodenübungen begegnet werden soll.

Der unmittelbar nachfolgende Absatz enthält dann eine Aufzählung angeblich „ganzheitlicher Therapien“, an denen bereits die Behauptung der „Ganzheitlichkeit“ beleidigend wirkt:

Homöopahie , Kinesiologie, z.B. EDU-Kinestetik, Psychologische Kinesiologie, NLP, Biofeedback, Osteopathie, Cranio-Sacraltherapie, Bachblütentherapie, Bioresonanz.

…gefolgt von einem hiernach wie ein Scherz klingenden Satz:

Insgesamt ist es wichtig, darauf zu achten, dass ein Kind nicht „übertherapiert“ wird.

 

Bachblütentropfen – nur echt mit 27 Vol.% Alkohol

Man mag es sich nicht ausdenken: die „Therapie“ eines FASD-geschädigten Kindes mit Bachblüten. Es ist nicht vorstellbar, dass solchen Empfehlungen irgendeine valide Expertise zu Grunde gelegen hat – die Basis waren allenfalls Anekdoten, belastet mit jedem erdenklichen Bias – und schlimmstenfalls aus unreflektierten Internet-Quellen angelesene Heilsversprechen. Keine einzige der aufgezählten „ganzheitlichen“ Methoden hat jemals einen tragfähigen Beleg ihrer Wirksamkeit, für welche Indikation auch immer, führen können.

 

Ein herzliches Dankeschön also an die Verfasser und Förderer dieser Broschüre – sie haben der alternativen Realität der Pseudomedizin einen großen Dienst erwiesen. Die Betroffenen, denen nahegelegt wird, auf den Segen von Placebos zu setzen, gehören zu den Nutznießern jedenfalls nicht.

 

7 Gedanken zu „Das Elend der Selbsthilfeorganisationen – ein Fallbeispiel“

  1. Als ich mit 16 Jahren an einem Wochende an Salmonellen erkrankt bin, hatte ein Homöopathie-Spinner bei uns im Landkreis Notdienst.

    Und der hat mir wirklich 2 Tage lang so Zuckerkügelchen gegeben. Irre.

    Ich habe links meine ausführliche Erzählung verlinkt (auf meinen Namen klicken).

    Antworten
  2. Hmm, Schlaf Gut tropfen. Bei mir heißen die Hopfenblüten-Therapie und sind selbst als herzhaft trappistisches Triple-Bier nicht so alkoholisch.

    Ich kann mich bei Hilfsorganisationen ja über so einiges empören, aber das soll ein anderes Thema sein. Die Sache hier ist aber auch die, dass so ein Flugblatt den aktuellen Stand der Behandlung abbildet und nicht zwingend den aktuellen Stand des Wissens. Somit lässt das wesentlich tiefer blicken als nur in mitunter Recherche- und Ahnungsbefreite Selbsthilfeverbände, nämlich bis hinein in die Niederungen der Praxis. Man kann nur hoffen, am Ende bei den richtigen zu landen.

    Mir zog es auch die Schuhe aus, was für ein Scheiß einem anempfohlen wird, wenn man zum Thema hoher Blutdruck recherchiert. Da muss man gefühlt zwei Seiten Google-Suchergebnisse überblättern um einen Link zu finden, der ohne Scharlatanerie und Fress-Esoterik auskommt. Am Ende hilft: Wenig Alkohol, weniger Fleisch, viel Gemüse, regelmäßig Sport, kein Rauchen. Wer hätte das gedacht…

    Antworten
  3. Verschiedentlich wurden wir auf den Beitrag „Das Elend der Selbsthilfeorganisationen“ der anonym agierenden Plattform „psiram“ hingewiesen.
    Grundsätzlich sind wir offen für eine kritische Betrachtung unserer Publikationen und dankbar für konstruktive Hinweise, die zur Verbesserung unserer ehrenamtlichen Arbeit beitragen.
    Wir werden deshalb auch die benannten Textstellen einer eingehenden Prüfung unterziehen und gegebenenfalls entsprechend verändern.
    Andererseits hat uns der reißerische Titel des Beitrages „Das Elend der Selbsthilfeorganisationen“ doch etwas irritiert. In Bildzeitungsmentalität wird bereits in der Überschrift das Engagement in der Selbsthilfe „per se“ verrissen, auch wenn die Schärfe der Aussage im weiteren Text etwas relativiert wird.
    Die Erarbeitung unseres Infomaterials und speziell der kritisierten Broschüre erfolgte u.a. auch auf der Grundlage der individuellen Erfahrungen unserer Mitglieder und erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch.
    Es ist durchaus ehrenwert, sich öffentlich kritisch mit pseudowissenschaftlichen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen. Es erschließt sich für uns aber nicht, warum der Verfasser des Beitrages den Selbsthilfeorganisationen pauschal Kritiklosigkeit und ein Zusammenklauben der Hilfsangebote unterstellt.
    Die Anmerkung des fehlenden fundierten Urteils im Text von „psiram“ geben wir deshalb gern zurück.

    Antworten
  4. Verschiedentlich wurden wir auf den Beitrag „Das Elend der Selbsthilfeorganisationen“ der anonym agierenden Plattform „psiram“ hingewiesen.
    Grundsätzlich sind wir offen für eine kritische Betrachtung unserer Publikationen und dankbar für konstruktive Hinweise, die zur Verbesserung unserer ehrenamtlichen Arbeit beitragen.
    Wir werden deshalb auch die benannten Textstellen einer eingehenden Prüfung unterziehen und gegebenenfalls entsprechend verändern.
    Andererseits hat uns der reißerische Titel des Beitrages „Das Elend der Selbsthilfeorganisationen“ doch etwas irritiert. In Bildzeitungsmentalität wird bereits in der Überschrift das Engagement in der Selbsthilfe „per se“ verrissen, auch wenn die Schärfe der Aussage im weiteren Text etwas relativiert wird.
    Die Erarbeitung unseres Infomaterials und speziell der kritisierten Broschüre erfolgte u.a. auch auf der Grundlage der individuellen Erfahrungen unserer Mitglieder und erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch.
    Es ist durchaus ehrenwert, sich öffentlich kritisch mit pseudowissenschaftlichen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen. Es erschließt sich für uns aber nicht, warum der Verfasser des Beitrages den Selbsthilfeorganisationen pauschal Kritiklosigkeit und ein Zusammenklauben der Hilfsangebote unterstellt.
    Die Anmerkung des fehlenden fundierten Urteils im Text von „psiram“ geben wir deshalb gern zurück.

    Antworten
  5. Liebe Sinapsis, lieber Verein,

    danke zuerst einmal für Ihre Reaktion, immerhin kommen wir so zu einem Gedankenaustausch, der etwas erfreulicher verlaufen könnte, als der mit den üblichen Verdächtigen, die hier aufschlagen.

    Um es ganz klar zu machen: Sie sind für uns nicht der Feind, Sie leisten wertvolle und wichtige Arbeit, was wir in dem Artikel ja auch problemlos anerkennen. Sie haben sich an einer Stelle, die wir aufgespießt haben, aber schlicht verlaufen. Sehen Sie: wenn Sie konkrete Behandlungsvorschläge – wenigstens – zur Linderung der FADS-Symptomatik unterbreiten und sich dazu auch noch auf die Fürsprache bedeutender öffentlicher Einrichtungen stützen, dann bewachen Sie eines der Tore, die ins Hokuspokusland führen. Wer im Ernst Bachblüten für oder gegen irgendetwas empfiehlt, kann von Energie-Pendeln, Engel-Essenzen oder Aurachirurgie nicht mehr abraten.

    Es ist eine Sache, den Postfaktizismus unserer Zeit zu bejammern, und es ist eine andere Sache, die Sorgfalt walten zu lassen, post- oder kontrafaktische Positionen selbst zu vermeiden. Das ist gemeint, wenn von der Verantwortung auch gemeinnütziger Organisationen die Rede ist. Dazu einige Tipps: verlässliche Informationen über die Validität von Heilbehandlungsmethoden richten sich nicht nach der Rangfolge, in der Google die Internetauftritte der Anbieter wiedergibt. Nehmen Sie das Psiram-Wiki als erste Schaltstelle für einen Überblick und vertiefte unabhängige Quellen in Anspruch; auch die GWUP hilft schon über deren Homepage weiter. Und: Meiden Sie generell Methoden, die mit einem markenrechtlichen Schutzzeichen ® versehen sind: das sind keine Qualitäts-Siegel, damit werden Lizenzgebühren generiert.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

css.php