Ich war der Mathematiker des Kaisers

Beim folgenden Text handelt es sich um ein winziges Sommerrätsel. Es ist für ein Rätsel natürlich viel zu leicht, macht aber vielleicht Lust sich mit der dargestellten Person zu beschäftigen, auch über den beschriebenen Zeitraum hinaus.


Seit ich geboren und gestorben bin, sind Jahrhunderte ins Land gezogen. Die Welt hat sich mannigfaltig verändert, sie ist aber auch gleich geblieben. Der Aberglaube, den ich betrieben habe und der Aberglaube, den ich bekämpft habe, sind beide noch da. Oh, sie haben sich etwas verändert, aber es ist alles noch vorhanden.

Aber ich glaube dennoch, in der Welt, oder zumindest Europa, ist es besser geworden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Von meinen elf[1] Kindern haben nur drei das Erwachsenenalter erreicht.

Vielleicht wird diese kleine Erzählung etwas Interesse an meinem Leben, meinem Wirken und auch meiner Arbeit wecken. Immerhin gelte ich heute als so relevant, dass sogar meine Mutter (eine Wirtstochter) einen Wikipedia-Eintrag in sieben Sprachen hat. Ich habe den Riesen erkannt, der die Meere aufschaukelt, die Pfade der Wanderer in Gesetze gegossen, die Position von mehr als tausend Sternen zu Papier gebracht, die Netzhaut entdeckt und in einer utopischen Erzählung[2] von einer Reise auf den Mond geträumt (zwar mittels Hexerei, aber Raketen? Jahrhunderte später, noch 1920 verhöhnte die New York Times einen Raketenpionier, der solcherlei Ideen hatte[3]). Ich war meiner Zeit voraus, manche meinen sogar: Zu weit voraus.

Meine Jugend
Aber beginnen wir am Anfang, in meiner Geburtsstadt. Ich werde in eine religiöse Minderheit geboren, meine Geburtsstadt ist katholisch dominiert. Ein eigenwilliges Völkchen allerdings, das ihrem Pfarrer Möchel sogar die Hochzeit mit seiner langjährigen Geliebten ausrichtet. Der Ärger des Bischofs ist ihnen herzlich egal.

Ein Sieben-Monats-Kind von schwacher Konstitution bin ich, kurzsichtig, kämpfe mit Fieberanfällen und Kopfschmerzen. Ich starb fast an den Pocken, hatte Hautkrankheiten und chronisch faulende Wunden an den Füßen, ein Geschwür an der linken Hand und wurde von der Räude befallen[4]. Meine Familie gehörte zwar zu einer finanzkräftigen Oberschicht, aber mein Vater macht alles zunichte. Er ist ein gewalttätiger Mann, treibt sich herum und verdingt sich schließlich als Söldner und Landsknecht. Meine schwangere Mutter ist entsetzt, gelten diese doch als Plünderer, Vergewaltiger, Betrüger und Hurenböcke.

Mein kleiner Bruder, ein Epileptiker, läuft irgendwann von zu Hause weg, die Prügel werden zuviel und Vater hatte ihm auch angedroht, ihn zu verkaufen. Obwohl mein Vater zwischendurch dem Galgen entwischt, kehrt er irgendwann aus den zahlreichen Kriegen, die das Land erschüttern, nicht zurück. Ein Umstand, der meiner Mutter später im Hexenprozess ebenfalls angelastet wird. Sie hat ihn „ohn zweiffenlich mit Unholdenwrkh“ in den Tod getrieben.

Zu meinem Glück unterliege ich der Schulpflicht[5] und darf bzw. muss daher eine Schule besuchen. Ich brauche zwar wegen der Feldarbeit ein paar Jahre länger, doch schließlich studiere ich Theologie. Ich will Pfarrer werden und bleibe auch mein Leben lang ein gläubiger Mann. Als ich später exkommuniziert werde, trifft mich das schwer.

Der renitente, streitbare junge Mann, der ich bin, wird statt zu predigen als Mathematiklehrer in ein kleines Städtchen geschickt. Man nahm an, dass ich ein schlechter Pfarrer, aber ein guter Lehrer sein würde. Das war ich zwar wohl nicht, aber dennoch fand ich in Graz meine Berufung: Die Gesetze des Universums, die Gedanken Gottes, zu ergründen.

Die Astrologie
Zuerst ist da aber noch eine Sache, die ich erwähnen muss: Meine Pflicht als Mathematiker und Astronom war es auch, einen astrologischen Kalender mit Vorhersagen zu erstellen. Ich habe zahlreiche Horoskope, auch für mich und meine Familie, erstellt. Waren sie nicht nur einfach unter einem schlechten Stern geboren? Ich selbst charakterisierte mich als einen Hund.

Dem heutigen Betrachter mag es abstrus erscheinen, dass ich die Astrologie mein Leben lang betrieb. Aber ich glaubte wirklich daran, dass sie zu etwas nutze sei. Ich verachtete den meisten „sternguckerischen Aberglauben“, nahm sie auf der anderen Seite auch in Schutz. Und natürlich lebte ich davon.

Es ist wol diese Astrologia ein närrisches Töchterlein … aber lieber Gott / wo wolt jhr Mutter die hochvernünftige Astronomia bleiben / wann sie diese närrische Tochter nit hette […] daß die Mutter gewißlich Hunger leiden müsste, wenn die Tochter nichts erwürbe.

Dazu kam: ich hatte bei der Ausübung recht viel Glück, mein erster Kalender war ein „Volltreffer“. Im Gegensatz z.B. zu Galileo Galilei, dessen Stern sank, als er einem Großherzog ein langes Leben voraussagte und dieser drei Wochen später verstarb.

Carl Sagan nannte mich später den „letzten wissenschaftlichen Astrologen“ und den „ersten Astrophysiker“.[6]

Im Zentrum die Sonne
Jedenfalls versuchte ich in Graz, die Geheimnisse des Kosmos aufzudecken. Gott hatte, meiner Meinung nach, die Welt nach rationalen Kriterien strukturiert und dem Menschen die Fähigkeit gegeben, die Schöpfung zu verstehen.

Ich fragte mich, warum gibt es genau sechs Planeten? Warum in diesen Abständen und Umlaufbahnen?

Mir kommt der Gedanke: es gibt fünf Platonische Körper (Dodekaeder, Tetraeder, Hexaeder, Ikosaeder und Oktaeder). Könnten diese die Sphären aufspannen, die die Planeten tragen?

Ich entwickelte aus dieser Idee ein durchaus kreatives mathematisches Modell:

Im Zentrum logischerweise die Sonne, zwischen den sechs Planeten lagerte ich die fünf Platonischen Körper so ein, dass jeder der fünf Körper von je zwei benachbarten Planetensphären berührt wird.

Keplers erstes Modell eines Sonnensystems
Mein Sonnensystem

Nach der Veröffentlichung schrieb mir ein gewisser Galileo Galilei, auch ein Anhänger des Kopernikus, einen freundlichen Brief. Leider war meine überschwängliche Antwort an Ungeschicklichkeit kaum zu überbieten. Die nächsten 13 Jahre höre ich nichts mehr von ihm.

Der große Tycho Brahe kritisierte vor allem, dass ich nur die alten Daten von Kopernikus nahm, er habe da wesentlich genauere. Seine Einladung zu ihm kommt ganz passend; als man mich kurz darauf wegen meiner Religion aus Graz vertreibt, werde ich der Assistent des Mannes mit der Goldenen Nase. Er hofft natürlich, dass ich sein Weltbild untermauere.[7]

Mathematiker des Kaisers

Nach Tychos Tod kurz darauf trete ich in seine Fußstapfen und nehme die Last der gewaltigen Datenmengen, die er zeitlebens gesammelt hat, auf meine Schultern. Ich setze die Arbeit an den vom Kaiser in Auftrag gegebenen Sternenkarten fort, aber es dauert noch 26 Jahre, bis die Rudolfinischen Tafeln, unser Erbe, veröffentlicht werden. Ein Schatz, von dem Astronomen mehr als ein Jahrhundert zehren werden.

Der Kaiser ist schwierig, man vermutet nach heutigem Erkenntnisstand massive psychische Probleme. Er ist okkult sehr interessiert, Alchemie und Astrologie begeistern ihn.

Mein Gehalt zahlt er allerdings nur gelegentlich. Am Ende meiner Lebens wird der Kaiser mir 11.817 Gulden schulden. Ein Arzt verdient zu der Zeit etwa 100 Gulden im Jahr, eine Magd 6 Gulden.

Der einfache Weg oder der steinige Weg der Wissenschaft?

Doch auch dem Weltgeheimnis bleibe ich auf der Spur. Ich ringe mit dem Kriegsgott über viele Jahre, um festzustellen: Mir fehlen lächerliche 8 Winkelminuten (Dem Leser zur Vorstellung: Der Vollmond am Himmel hat etwa 30 Winkelminuten Durchmesser). Ich weiß, die Bahnen der Planeten sind perfekte Kreise. Wie könnte es anders sein, nur der Kreis ist ein Symbol der perfekten Harmonie.

Ich rechne, ich rechne, ich rechne, manche Rechnungen hunderte Male.

Wie leicht wäre es, einen kleinen Messfehler anzunehmen. Eine kleine Ungenauigkeit und die Welt wäre in Ordnung. Eine kleine Sünde nur. Wenn die Realität nicht passt, wird sie einfach passend gemacht, nicht wahr?

Ich widerstehe der Versuchung.

Dies ist vielleicht eine meiner größten Stärken: Wenn ich einen Fehler gemacht habe, habe ich ihn immer eingestanden. Ich bin ein Wissenschaftler.

Hier musste ich erkennen: Mein Weltbild ist falsch. Meine Idee mit den Platonischen Körpern, die perfekten Kreise des Kopernikus – alles falsch. Oh, andere ringen noch damit, die Erde überhaupt als Trabanten der Sonne zu sehen. Ich bin schon einen Irrtum, eine Erkenntnis weiter.

Ich tue, was nötig ist, ändere meine Meinung, passe sie an die Fakten an und erkenne:

Es sind Ellipsen. Die Planeten bewegen sich in Ellipsen um die Sonne.

Darum gelte ich heute als einer der Großen meiner Zeit.

Mein wichtigstes, aber sperriges Werk Astronomia Nova, in dem meine zwei ersten Gesetze veröffentlicht wurden, stieß zumindest beim Kaiser auf wenig Interesse. Gerade war sein Sohn verstorben und man munkelte, dass sich der Kaiser des unliebsamen Nachkommen entledigt habe. Er hatte ihn weggesperrt, nachdem er seine Geliebte bestialisch ermordet und zerstückelt hatte. Dazu kam die schwierige politische Situation – der Bruder, der ihm an die Gurgel ging.

Auch sonst war das Echo aus der Fachwelt, nun ja: gering. Ellipsen und ein heliozentrisches Weltbild?

Man bedenke den Zeitgeist:
Erst in sieben Jahren wird die Kirche das Hauptwerk des Kopernikus der Zensur unterwerfen und der Prozess gegen Galileo Galilei durch die Inquisition wird erst in 24 Jahren stattfinden.

Und ich rede von Ellipsen. Ich war meiner Zeit zu weit voraus.


1 Die Angabe in der Wikipedia dazu ist falsch. In erster Ehe: Heinrich und Susanna (beide früh gestorben), dann Susanna, Friedrich und Ludwig.
2 Keplers Traum vom Mond, kommentiert von Ludwig Günther, Leipzig 1898
3 New York Times to NASA: You’re Right, Rockets DO Work in Space
4 Die Nachtwandler, Arthur Koestler, Wilhelm Michael Treichlinger
5Die „Große Kirchenordnung“ von 1559 legte in Württemberg eine Schulpflicht fest. Der Herzog hatte sich weiters verpflichtet, ständig 200 Stipendiaten bis zum Schulabschluss zu fördern.
6 Carl Sagan’s Cosmos: Episode 3, “The Harmony of the Worlds”
7 An Tycho Brahes Weltbild, bei dem Erde und Sonne fix stehen und sich alle anderen Planeten um die Sonne drehen, werden sich Kepler und Galileo die Zähne ausbeissen. Es ist zu der Zeit unmöglich zu widerlegen. Der Beweis, dass es falsch ist, wird erst 200 Jahre später geführt werden können.

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6 Gedanken zu „Ich war der Mathematiker des Kaisers“

  1. Das Rätsel ist mir zu schwer. Ich gebe auf!
    Stattdessen werde ich mir jetzt mal die ganzen Quellenangaben über Kepler durchlesen…

  2. Vom Tycho blieb mir vor Allem sein Tod, bzw die Todesursache in Erinnerung.
    Seitdem habe ich eine gute Ausrede, gelegentlich dem Ernst-August zu huldigen. *g*

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