Der fröhliche Bischof Virgil reitet auf der Erdkugel in die Neuzeit

Von mancherlay gestaltnus der menschen schreiben Plinius: Augustinus vnd ysidorus die hernachgemelten ding. Doch ist als Augustinus schreibt nit zuglawben das ettliche menschen an dem ort der erden gegen vns da die sunn auff geet. so sie wider nider geet die versen gegent vnsern fueßen keren. [Weltchronik des Hartmann Schedel, 1493 f. 12 recto]

Kürzlich erwähnten wir die merkwürdige aber vielfältig verwendbare Ansicht von der Erde als einer Scheibe: die Eintagsfliege Scaramucci hatte versucht, mit ihr die Wissenschaft lächerlich zu machen (hier). Die kryptosatirische Flat Earth Society vertritt sie, aber das Mem begegnet uns auch in anderen Zusammenhängen, die man sorgfältig von dieser Skurrilität unterscheiden sollte. So heißt es vielfach, insbesondere die amerikanischen Autoren des 19. Jhd. Irving, Draper und White hätten in ihren antichristlichen Polemiken die Idee propagiert, Kolumbus habe gegen die mittelalterliche Vorstellung von einer flachen Erde ankämpfen müssen. Sie wollten die Religion anschwärzen. Dazu wäre einiges zu sagen, aber wir wollen uns hier auf ein Detail beschränken.

In Deutschland sollte das ja nun schon länger kein Thema mehr sein (Gerhard Prause, Niemand hat Kolumbus ausgelacht, 1966). Ist es aber, wir kommen darauf zu sprechen. Der international erfolgreiche Debunker dieses Mythos, d. h. der These, das Mittelalter habe an eine flache Erde geglaubt, ist Jeffrey Burton Russell [1] (es besteht keine Gefahr, ihn mit Bertrand Russell zu verwechseln). Für Russell dient die völlige Überzeichnung der Flacherde-Geschichte dazu, sie als erlogenen Keim und Kern der Auffassung von der Inkompatibilität von Religion und Wissenschaft hinzustellen, und so bemüht er sich, die Aufklärung gleich mit im Klo runterzuspülen. Voltaire war ein „großer Satiriker“, Hobbes hat „geprahlt“; Condorcet, Diderot, Benjamin Franklin, Edward Gibbon, Hume „waren unermüdlich in ihrer Verachtung für das Christentum und besonders für das Mittelalter“, und Thomas Paine war „zügellos“ [unbridled] (S. 61). Verweilen wir ein wenig bei letztgenanntem.

Womit hat er sich dieses schmückende Beiwort verdient? Er wird mit folgendem Satz zitiert:

„Vigilius [Virgil von Salzburg] wurde für die Behauptung, es gäbe Antipoden, oder mit anderen Worten, die Erde wäre eine Kugel, zur Verbrennung verurteilt [!]“ (S. 61) [2]

Andernorts (S. 20) erwähnt Russell noch, diese Meinung werde auch von „einigen späteren Historikern“ vertreten, aber er nennt keine Namen; sicherlich aus Höflichkeit. Im Satz zuvor geht es Paine um Galilei, danach kommen allgemeine Erwägungen. Wenn „Vigilius“ nicht nur ein Druckfehler ist, dann ist das ein Hinweis darauf, dass Paine aus dem Gedächtnis wiedergibt und einer ungenauen Erinnerung, vielleicht einer Kontaminierung mit Cecco d’Ascoli oder Pietro d’Abano, unterliegt. Überhaupt könnte er mit seinen Ansichten über die Bibel heute Erzbischof werden, meinte Bertrand Russell [3]. Das macht aber nichts; die Geschichte ist ausbaufähig. Reinhard Krüger sagt, nachdem er eben den Fehler Paines zitiert hat [4]:

Schließlich können wir noch den deutschen Bischof Bonifatius (etwa 672 bis etwa 754) nennen, der im 8. Jahrhundert den irischen Missionar Feirgil von Aghaboc [sic] (700 bis 784) bei Papst Zacharias dafür denunziert, dass der Ire die These von der Erdkugel vertreten habe, die auch von Antipoden bewohnt sei. Der Brief des bischöflichen Denunzianten ist nicht erhalten, wohl aber die Antwort des Papstes: Bonifatius solle sich in dieser Angelegenheit darauf verlassen, dass der Papst schon wisse, wie so etwas zu regeln sei. So schickt der Papst den Bonifatius auf die Friesenmission, auf der er von den Friesen bei Dokkum (in der heute niederländischen Provinz Fryslân) wohl im Jahre 754 erschlagen werden wird. Feirgil von Aghaboc wird noch zu Lebzeiten des Bonifatius zum Bischof von Salzburg erhoben und überlebt dort, fröhlich seiner Vorliebe für antikes Wissen frönend, als Virgil von Salzburg bis ins hohe Alter seinen Widersacher Bonifatius um mehr als 30 Jahre.

Zacharias hat also Bonifaz gesagt, er solle sich mal um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, den Apostel der Deutschen auf Himmelfahrtskommando geschickt und den Bescholtenen befördert. Halten wir zunächst fest, dass man mit solchen Meinungen immerhin denunziert werden konnte. Zacharias war das geistige Oberhaupt der Welt, und er war kein Dummkopf. Bonifaz war auch nicht irgendwer. Aber was hat der Papst nun wirklich geantwortet? Er befahl ggf. die Verurteilung des Virgilius:

Die Entscheidung von Papst Zacharias war in diesem Fall, dass „wenn es sich klar bestätigt, dass er seinen Glauben an eine andere Welt und an andere Menschen bekennt, die unter der Erde existieren, oder an eine andere Sonne und Mond dort, so sollst Du ein Konzil abhalten, ihn seiner kirchlichen Würden entkleiden und aus der Kirche ausstoßen.“ [5]

Mehr ist über die ganze Angelegenheit nicht dokumentiert. Die Behauptung von Antipoden war seit Augustinus eine Ketzerei, nicht nur im Frühmittelalter; zumindest hier wurde also eine antike Tradition nicht tradiert. „In den acht Jahrhunderten, die die patristischen Apologeten vom Aufstieg der Scholastik trennen, ist er [Virgil] offenbar einzigartig in seiner Befürwortung einer bewohnten südlichen Hemisphäre“ [6]. Als Feirgil zum Bischof ernannt wurde, war Zacharias wahrscheinlich tot. Auch schließt Zacharias die Sonne und den Mond ausdrücklich in seinen Befehl ein, was wohl darauf hindeutet, dass ihm das Konzept einer Erdkugel, so wie wir sie heute verstehen, nicht geläufig war. „War das nicht eine erschreckende Unwissenheit? War das nicht ein maßloser Missbrauch der Schlüsselgewalt?“, fragt Pierre Bayle [7].

Wie die Sache ausging, ist nicht bekannt. Bayle zitiert einige Verteidiger des Papsttums, die in diese Lücke springen. Vielleicht sei Bonifazius über die Ansichten Virgils getäuscht worden, die Zuhörer hätten ihn nicht richtig verstanden, vielleicht habe sich Virgil brieflich bei einem Papstbesuch erklären können, vielleicht sei die Intrige aufgedeckt worden usw. In der nächsten Generation der Apologeten werden dann solche Vermutungen zu leibhaftigen Wahrheiten.

Diese eifrige Reinwaschung der beiden Heiligen hat in jüngster Zeit noch einen erheblichen Aufschwung genommen. „Die Inquisition“ hat es ohnehin nicht gegeben (Russell, S. 76). Es ist dann wohl nur eine Frage der Zeit, bis man entdeckt, dass es keine Ketzerverbrennungen (und um den Protestanten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen) auch keinen Hexenwahn gegeben hat. Man wird für alles eine Erklärung finden, die mit dem Glauben nichts zu tun hat, und was man so nicht kognitiv umstrukturieren kann, kann man immer noch völlig abstreiten. White, „der seine religiöse Schule hasste“ und einen „grimmigen Sermon lieferte“ (S. 42), schildert die Geschichte übrigens offenbar korrekt (hier).

Das Mittelalter kann nicht als einfarbige, schwarze Nacht verstanden werden, in der sich außer dem Aberglauben nichts bewegt hätte. Die Welt im Jahr 500 ist völlig verschieden von der im Jahr 1300 (analoges gilt übrigens auch vom Römischen Reich): es schnurrt nur aus unserer Perspektive zusammen. Aber verglichen mit der Zeit der Antike und der Zeit später war es eben doch dunkel – auch wenn man sich die Übergänge nicht harmonisch wie Sonnenauf- und untergänge vorstellen sollte. Der eben erwähnte Hexenwahn hatte seinen größten Auslauf in der frühen Neuzeit. Das Mittelalter war vor allem nicht die Gute Alte Zeit [GAZ], in der der Mensch mit seinem Glauben im Einklang mit Gott und dem Universum lebte.

Übrigens hat die These, das Mittelalter habe an die Flache Erde geglaubt, auch heute einen ebenso prominenten wie unerschrockenen Verfechter: den Kirchenhistoriker und ehemaligen Präsidenten des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft, den Kardinal der römisch-katholischen Kirche Walter Brandmüller. Ludwig Neidhard hat das aufgespießt (hier). Die historische Wahrheit ist noch immer nahe der Zusammenfassung zu vermuten, die Alexander von Humboldt 1836 veröffentlichte [8]:

Die Ideen [von der Kugelgestalt der Erde], deren Ursprung und Ausbildung wir soeben angedeutet haben, erhielten sich, und pflanzten sich durch eine lange Reihe von Männern tieferer Einsicht und gründlicherer Geistesbildung durch das ganze Mittelalter bis zu den Zeiten des Columbus fort. Es ist allerdings wahr, dass die theologischen Bedenken des Lactantius, des Heil. Chrysostomus und einiger anderen Kirchenväter, dazu beitrugen, dem menschlichen Geiste eine rückgängige Bewegung zu geben. Man wiederholte die Einwürfe und lächerlichen Spitzfindigkeiten, deren sich die Epikuräer zur Bekämpfung der pythagorischen Lehre von der Kugelgestalt der Erde bedient hatten. Glücklicher Weise fanden diese Träumereien keine allgemeine Zustimmung.

Es hat immer Leute gegeben, die an der Kugelgestalt festgehalten haben – und insbesondere im frühen Mittelalter reichlich Verwirrung.


  1. : Russell JB: Inventing the Flat Earth: Columbus and Modern Historians, Westport, 1991. Die Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch. Alle Übersetzungen aus dem Englischen im Folgetext von mir.
  2. : Der Satz geht vollständig so: „And, prior to that time, Vigilius was condemned to be burned for asserting the antipodes, or in other words that the earth was a globe, and habitable in every part where there was land; yet the truth of this is now too well known even to be told.“ Paine, Thomas: The Age of Reason; online hier. Den Part mit der „bewohnbaren Welt“ hat Russell weggelassen.
  3. : Russell, B: The Fate of Thomas Paine. In: Why I Am Not a Christian, New York 1957, S. 147
  4. : Krüger R: Ein Versuch über die Archäologie der Globalisierung – Die Kugelgestalt der Erde und die globale Konzeption des Erdraumes im Mittelalter. in: Wechselwirkungen, Jahrbuch aus Lehre und Forschung der Universität Stuttgart (2007), S. 29-52 (online hier)
  5. : „Pope Zachary’s decision in this case was that ‚if it shall be clearly established that he professes belief in another world and other people existing beneath the earth, or in [another] sun and moon there, thou art to hold a council, and deprive him of his sacerdotal rank, and expel him from the church.'[6]“ [WP]
  6. : „in the eight centuries which separate the patristic apologists from the rise of Scholasticism, he [Virgil] is virtually unique in his advocacy of an inhabited southern hemisphere“. Carey J: Ireland and the Antipodes: The Heterodoxy of Virgil of Salzburg. Speculum, Vol. 64, No. 1 (Jan., 1989), pp. 1-10
  7. : Bayle P: Historisches und kritisches Wörterbuch, Artikel VIRGIL (Bischof von Salzburg). „Schlüsselgewalt“ meint die Schlüssel Petri.
  8. : Humboldt A v: Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert. Bd. I, S. 56.

2 Gedanken zu „Der fröhliche Bischof Virgil reitet auf der Erdkugel in die Neuzeit“

  1. slb :

    Hä?

    Ja, ich gebe zu, das ist für denjenigen, an dem dieses Thema bisher vorbeigegangen ist (und das sind sicher 99,99% der Leser) ein wenig zu … hermetisch. Vielleicht sollten wir das Ding zurückziehen und mit ein paar allgemeinverständlichen Zwischensentenzen lesbar machen, aber nu isses dafür zu spät. ´Tschuldigung.

    In diesen Zwischentexten hätte etwa Folgendes stehen müssen: Der katholische Apologet J. B. Russell hat 1991 ein Buch veröffentlicht, in dem er teils nachweist, teils „nachweist“, dass niemals jemand an die Flache Erde geglaubt habe. Das werde dem Mittelalter nur unterstellt, um der Religion eins auszuwischen. Russell war und ist sehr erfolgreich mit dieser Entlarvung, und die meisten der Texte (bis hin zur WP), die ich dazu kenne, reproduzieren seine Argumentation in teils vergröberter Form; häufig sogar ohne ihn zu nennen. Irving, Draper und White sind die Bösewichter, die das Flacherde-Mittelalter erfunden haben.

    Aber um für den Gutwilligsten, Leidensfähigsten zu retten, was noch zu retten ist: bevor man eine Zeile unseres Blogbeitrags liest, sollte man diesen Text kennen, auf den der Blog bei der Virgil-Geschichte Bezug nimmt:
    http://docplayer.org/13018115-Ein-versuch-ueber-die-archaeologie-der-globalisierung.html
    und in dem noch allerlei sonstige Merkwürdigkeiten versteckt, oder vielmehr ausgebreitet, sind. Krüger erwähnt übrigens Russell nicht, obwohl er ihn nur ausschmückt und völlig von ihm abhängig ist: die imposante Bibliographie seiner Fußnote (35) z. B. mit mehreren vielbändigen Werken ist die gleiche wie die bei J. B. Russell, Inventing the Flat Earth, Fußnoten 169-174; lediglich 172, die sich auf ein anderes Thema bezieht, ist weggelassen und Beazley (bei Russell Nr. 44 und 164) hinzugefügt. Nicht einmal die Reihenfolge ist verändert. Die Zwischenstücke in der Fußnote (35) sind Paraphrasen auf den Haupttext Russells (S. 58ff). Na und so weiter.

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