Wie robust sind die Zitate der Pharma-„Kritiker“?

Dr Johnson liest die erschütternde Neuigkeit (adaptiert von Wikipedia)
Wenn man wünscht, sein allgemeines Unbehagen über Medikamente, die Machenschaften der Pharma- und Impfmafia usw. mit anschaulichen Beispielen auszustaffieren, ist man bei Professor Harald Walach an der richtigen Adresse. Sein ganzes Berufsleben lang war dies einer seiner Schwerpunkte, was uns schon manche Glosse wert gewesen ist.

Vor nicht langer Zeit hat er uns erneut einen kurzen Text zu diesem Thema ins Stammbuch geschrieben. Nachdem er die initial überschätzte Wirksamkeit des Grippemittels Tamiflu anreißt, fährt er fort mit Exempeln aus einem Buch von Peter C. Gøtzsche. Gøtzsche war Mitbegründer des Nordic Cochrane Center, einem renommierten Forschungsnetzwerk zur evidenzbasierten Bewertung klinischer Studien. 2018 wurde er wegen möglicher Rufschädigung ausgeschlossen (hier, hier). In unserem Blog (hier) wie auch in unserem Forum (hier, hier) war gelegentlich von ihm die Rede. Walach referiert:

Peter C. Gøtzsche beschreibt in seinem neuen Buch „Mental Health Survival Kit and Withdrawal From Psychiatric Drugs“, das ich an dieser Stelle gerne weiterempfehle (siehe Link oben) einige weitere drastische Beispiele:

Lamotrigine

Für das Antiepileptikum Lamotrigine gibt es nur 2 publizierte positive Studien in der Literatur; 7 große negative Studien wurden nicht publiziert. Gøtzsche schreibt dazu: „Two positive trials are all it takes for FDA approval […]“ [7] (Dieses Literaturzitat hat mir Peter C. Gøtzsche am 25.6.2020 per E-Mail geschickt, er verwendet es auch in seinem Buch.)

Der Fachkundige hat keine Möglichkeit, davon unberührt zu bleiben. Lamotrigin (so die deutsche Fassung des generischen Namens) ist ein seit Mitte der 90er Jahre zugelassenes Antiepileptikum; an seiner Wirksamkeit hat kein Kliniker Zweifel. Wenn es langsam aufdosiert wird, ist es nebenwirkungsarm. Es hat kein teratogenes Potential und ist deshalb Mittel der Wahl zur Behandlung der Epilepsie in der Schwangerschaft. Pubmed listet (Stand August 2022) 314 randomisierte kontrollierte Studien auf; die Zahl aller dort erfassten Fachartikel beläuft sich auf 6263. Es wäre schon erschütternd, wenn das alles gelogen wäre.

Das ist Grund genug, dringend nach dem Originalzusammenhang zu suchen. Gøtzsche schreibt (hier):

Psychiater nennen diese schrecklichen Drogen „Stimmungsstabilisierer“, was nicht das ist, was sie bewirken […] Ich habe nach Stimmungsstabilisierern gegoogelt und gefunden: „Stimmungsstabilisierer sind psychiatrische Medikamente, die Stimmungsschwankungen zwischen Depression und Manie dämpfen […]“.

Mir sind oft Patienten begegnet, die das Antiepileptikum Lamotrigin nehmen. Nur zwei positive Studien sind für dieses Medikament publiziert worden, während sieben große, negative Studien unpubliziert sind [127]. Zwei positive Studien waren alles, was für die FDA[1]-Zulassung nötig war, und die Agentur sieht die anderen Studien als gescheitert, selbst wenn wir sehen, dass das Medikament gescheitert ist. […]

Wenn Du nicht gerade eine Epilepsie hast, dann vergiss diese Medikamente, und wenn Du sie einnimmst, dann suche Dir Hilfe dabei, wie Du sie so schnell wie möglich los wirst.

Hier fällt zunächst ein salopper, publikumswirksamer Stil im Dienst eines gewissen missionarischen Eifers auf. Für jemanden, der es sich zum Ziel setzt, mit wissenschaftlichen Mitteln gegen das Pharma-Establishment anzukämpfen, ist „I googled it“ schon eine reichlich nachlässige Art der Recherche – oder vielleicht, die Zielgruppe des Buches ist nicht mehr das Fachpublikum. Als nächstes scheint sich anzudeuten, dass es um die Indikation von Lamotrigin als Stimmungsstabilisierer und nicht als Antiepileptikum geht. Der Neurologe wird sich erleichtert zurücklehnen – aber auch der Leser? Walach hat diesen wichtigen Unterschied mindestens generös unter den Tisch fallen lassen, wenn er ihn nicht geradezu verschleiert hat. Und selbst in einer solchen psychiatrischen, die Epilepsie nicht betreffenden Indikation gibt es nicht „nur 2 positive […] und … 7 negative Studien in der Literatur“ (O-Ton Walach), sondern (wieder Stand August 2022) insgesamt 73 (hier). Es hätte den Leser verwirrt, noch weitere Studien als nur die für die Zulassung nötigen zu berücksichtigen – oder hätte es die message verdunkelt?

Gøtzsches Quelle [127] ist ein Artikel von Nassir Ghaemi (Volltext hier). Er berichtet, dass er einer der Studienleiter [a principal investigator] für die Erhaltungstherapie bei bipolaren Störungen gewesen ist und dass das Medikament sich in dieser Indikation als wirksam erwiesen hat. Die sieben negativen Studien hatten die Effektivität in der Akuttherapie von Depressionen und beim Rapid Cycling (eine Sonderform der bipolaren Störung mit schnellen Stimmungswechseln) geprüft:

Die klinische Relevanz der Lamotrigin-Studien ist bemerkenswert: wenn man die negativen Ergebnisse in Betracht zieht, kann man heute sagen, dass es sicher wirksam [reasonably effective] in der Erhaltungstherapie bei der bipolaren Störung ist, insbesondere bei der Verhütung der Depression. Es ist erwiesenermaßen unwirksam in der akuten Manie, beim Rapid Cycling und in der akuten bipolaren Depression.

Dr. Johnson ist durch mit Gøtzsche und Walach (adaptiert von Wikipedia)
Das ist das genaue Gegenteil von dem, was Gøtzsche aus diesem Text herausgelesen hat. Die Erhaltungstherapie (d. h. die Rezidivprophylaxe) der bipolaren Störung ist es, die mit dem Begriff „Stimmungsstabilisierung“ umschrieben wird, und Gøtzsche hätte seine Google-Bemühungen nicht vorschnell aufgeben sollen. Von Walach müssen wir nicht weiter reden. Allenfalls könnte man noch anmerken, dass in seiner plattgedrückten Wiedergabe der Text von Ghaemi als Quelle [7] brav aufgelistet ist. Entweder hat er ihn nicht gelesen oder er hat ihn falsch interpretiert, was hier auf dasselbe hinausläuft. Auch ist die von Walach angeführte Passage kein wörtliches „Literaturzitat“ Gøtzsches. Aber wer wird schon so kleinlich sein.

Zu dem Buch von Gøtzsche sei noch eine kurze Rezension von Mira de Vries (hier) erwähnt, in der sich treffende Bemerkungen mit völligem Unverstand zu einer seltenen Melange vereinigen. Schließlich sollte nicht untergehen, dass die Stellungnahme Ghaemis – off topic – unbedingt lesenswert ist.

(Übersetzungen durch Verf.)


  1. FDA: U.S. Food and Drug Administration, die amerikanische Zulassungsbehörde für Arzneimittel

1 Gedanke zu „Wie robust sind die Zitate der Pharma-„Kritiker“?“

  1. Walach ist mir in der Tat auch gleichgültig, allerdings glaube ich langsam nicht mehr, daß er heutzutage noch absichtlich Quellen nicht oder falsch liest, sondern, daß er mental einfach nicht mehr auf der Höhe ist. Und dagegen gibt es leider keine Pille.

    Aber um Gøtzsche tut es mir ehrlich leid: Es zeigt sich, daß sein Rauswurf beim Cochrane Center offenbar doch gute Gründe gehabt hat – er driftet ja völlig ab.
    Daß er dann von einer Antipsychiatrie-Initiative Beifall erhält, die wirklich gar keine fachliche Ahnung zu haben scheint, ist ja nur folgerichtig.

    Andererseits: Wenn das Zitat auf deren Website stimmen sollte, und Gøtzsche ernsthaft die heutige Psychiatrie mit GuLag und KZ gleichsetzt, dann ist dies unentschuldbar!

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