Mittelalter-Flacherde reloaded

A Newtonian might put it this way:
for every myth there is an equal and opposite myth.
– Noah J. Efron

Kürzlich haben wir im Blog versucht, über die Entlarvung des Mythos, das Mittelalter habe an die Erde als eine Scheibe geglaubt, zu berichten (hier). Wir hatten einen einzigen Kommentar:

Hä?

Da sind wir ein wenig in uns gegangen und zu dem Schluss gekommen, dass wir wohl etwas zu komprimiert und sprunghaft in unserem Text gewesen sind. Diejenigen, die mit der Materie bisher nicht so befasst waren (sicher 99,9% unserer Leser; so wichtig ist die Angelegenheit schließlich nicht), lässt unser Blogbeitrag ratlos zurück. Wir wollen deshalb noch ein wenig Kontext liefern, einen etwas größeren Rahmen aufspannen und bei dieser Gelegenheit einige weitere, charakteristische Details beitragen.

Man weiß, dass Galilei von der katholischen Kirche verurteilt wurde, weil er die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums geworfen hatte [1]. Man weiß: Kolumbus hat mit seiner Entdeckung Amerikas bewiesen, dass die Erde rund ist. So steht es in den Schulbüchern; auch jetzt noch [2]. Letztere Behauptung ist jedoch so unzulässig verkürzt, dass sie geradezu falsch ist, was eigentlich seit längerem [3] klargestellt sein sollte. Im 15. Jahrhundert war die Erde längst rund; theologische Bedenken über die Gestalt der Erde spielten bei der Reise des Kolumbus nur eine untergeordnete Rolle, wenn es auch plausibel ist, dass sie eine Rolle spielten [4].

Auftritt Jeffrey Burton Russell

J. B. Russell ist ein amerikanischer Historiker und Religionswissenschaftler. Er hat es sich angelegen sein lassen, der Sache auf den Grund zu gehen und zurückzuverfolgen, wer diesen Mythos vom Glauben an die Flacherde in die Welt gesetzt hat. Das Ergebnis war sein Buch: Inventing the Flat Earth: Columbus and Modern Historians, 1991. Seine Diagnose: der Erfinder dieser „Flacherde-Lüge“ (flat-earth lie) sei der französische Gelehrte Jean-Antoine Letronne im frühen 19. Jhd. gewesen, und die amerikanischen Publizisten Washington Irving [5], John William Draper [6] und Andrew Dickson White [7] hätten sie aufgegriffen und popularisiert. Eine Kurzfassung der Thesen Russells findet sich hier.

Die Darstellung Russells ist überaus erfolgreich. Die Rezensenten in den Fachzeitschriften waren beeindruckt, und in zahlreichen wissenschaftshistorischen und populärwissenschaftlichen Büchern, Artikeln, Zeitungsmagazinen und Blogbeiträgen wird sie als grundlegend teils zitiert, teils referiert; mit Namensnennung oder ohne – kaum je aber kritisiert.

Das ist eine schmerzliche Lücke in der öffentlichen Wahrnehmung, scheint uns. Anstelle eines Berichts, der die großen Argumentationslinien nachzieht, sei hier anhand von wenigen Beispielen versucht, das Vorgehen Russells zu erläutern und einige Bruchstellen zu zeigen. Nachdem er in Kapitel 2 seines Buches scheinbar wasserdicht belegt [8], dass es einen Glauben an eine Flache Erde nie gegeben hat, wendet er sich in Kapitel 3 der Erschaffung des Mythos zu, wobei er einer umgekehrt chronologischen Ordnung folgt. Diese sei hier durchbrochen; wir steigen bei seiner Auseinandersetzung mit Washington Irving ein. In seiner Kolumbus-Biographie von 1828 hatte Irving versucht, sich die Begegnung des Kolumbus mit der „Kommission“ [9] auszumalen, die über das Schicksal seiner Indienreise zu befinden hatte. Russell zitiert Sätze aus diesem Kapitel, in dem Kolumbus (Irving zufolge) Bibelstellen und Kirchenväter, v. a. Laktanz [10], um die Ohren gehauen werden, aber eine direkte, umfassende Kritik des Irving-Kapitels umgeht er eher [11], als dass er sie leistet. Statt dessen widmet er lange Seiten seines Buches dem Bemühen, Irving allgemein als despektierlich zu erweisen (wie auch die Reputation von Letronne, Draper und White zu beschädigen) [12]. Um unsererseits die bewährte Methode des selektiven Zitierens zu bemühen, sei hier ein Abschnitt aus dem bewussten Kapitel der Kolumbus-Biografie Irvings nachgetragen, der der Russellschen Analyse eher entgangen ist:

Die aus Lactantius zitierte Passage zur Widerlegung Kolumbus‘ ist eine Kette grober Lächerlichkeiten, eines so ernsthaften Theologen unwürdig … Ernsthaftere Einwände stützten sich auf die Autorität des Hl. Augustinus. Er erklärt die Lehre von den Antipoden für unvereinbar mit den historischen Grundlagen unseres Glaubens … Andere, in den Wissenschaften Beschlagenere, räumten die Kugelform der Erde ein sowie die Möglichkeit einer gegenüberliegenden und unbewohnbaren Hemisphäre; aber sie bemühten die Chimäre der Antike und behaupteten, dass es wegen der unerträglichen Hitze der heißen Zone unmöglich sei, dorthin zu gelangen. Zugestanden selbst, diese Zone sei passierbar, merkten sie an, der Umfang der Erde sei so groß, dass eine Reise drei Jahre dauern würde, und dass die Seefahrer verhungern und verdursten würden, weil es unmöglich sei, so viel Proviant mitzunehmen. Kolumbus wurde, auf die Autorität Epikurs hin, bedeutet, dass nur die nördliche Hemisphäre der Erdkugel bewohnbar sei … und dass die gegenüberliegende Halbkugel ein Chaos, ein Abgrund oder eine bloße Wassermenge sei. Der Einwand, dass ein nach Indien fahrendes Schiff nicht zurückkommen könne, weil die Rundheit der Erdkugel eine Art Berg sei und es keinen günstigen Wind für die Rückfahrt gebe, war nicht der absurdeste … Das sind Beispiele für die Irrtümer und Vorurteile, die Ignoranz und Gelehrsamkeit vermischten … Sie wurden wahrscheinlich nur von wenigen vorgetragen, und diese Personen waren in klösterlicher Abgeschiedenheit in theologische Studien versenkt [13].

(Hervorhebungen und alle Übersetzungen vom Verf.). Irving hat hier korrekt, oder zumindest plausibel, interpoliert. Seine Quelle (Remesal) erwähnt Theologen, und es ist nicht vermessen, ihnen Bibelverse und theologische Argumente zu unterstellen. Es gibt eine Reihe von teils indirekten Berichten darüber, welchen Einwänden sich Kolumbus gegenüber gesehen hat, wenn auch keine vollständigen Protokolle, Anwesenheitslisten o. ä. Es ging nicht in erster Linie um Rundheit oder Flachheit, nicht einmal so sehr um den Erdumfang, sondern „[v]ielmehr, dies hat William G. L. Randles kürzlich anhand der Hinweise von Las Casas, Fernando Columbus, Joâo de Barros und Alexander Geraldini dargelegt, stand bei den Verhandlungen des Kolumbus die viel weitreichendere Frage nach dem räumlichen Verhältnis der Elemente Erde und Wasser und damit nach der Erdgestalt im Vordergrund“ [14]. Es sei ausdrücklich zugestanden, dass der Leser des Irving-Kapitels sich am ehesten an den Einwand mit der flachen Erde erinnern wird, der, wenn er vorgebracht worden ist, nicht führend gewesen sein kann. White, der, so erfahren wir, „gegen seine Herkunft rebellierte“, „seine religiöse Schule hasste“ und vorab schon einmal einen „grimmigen Sermon“ abgeliefert hatte [15], gibt übrigens den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit, Ende 19. Jahrhundert, zutreffend wieder [16]. Und dem Hauptbösewicht Letronne widmet Russell zwar zahlreiche allgemeine – durchaus gelegentlich anerkennende – Bemerkungen, aber er ist nur eines einzigen Zitats würdig, das aus einem Halbsatz besteht [17].

Boorstin erledigt

Als Paradebeispiel für die Propagierung des Flacherde-Mythos in der heutigen Zeit führt Russell die Wissenschaftsgeschichte von Daniel Boorstin [18] an. Die von diesem festgestellte „Große Unterbrechung“ (Great Interruption) habe es nicht gegeben. Russell umrahmt ein Zitat aus Boorstin wie folgt:

„Daniel Boorstin malt ein pathetisches Bild von den tapferen Seeleuten des 15. Jahrhunderts, die verwegen gegen die Dunkelheit ankämpften. In ihren Anstrengungen, genau zu navigieren, ‚fanden sie nicht viel Beistand in dem Schachtel-Universum des Kosmas Indikopleustes … Die Küstenverläufe … konnten aus den Schriften des Isidor von Sevilla oder selbst des Hl. Augustinus nicht abgeleitet werden … Die schematischen T-O-Weltkarten waren für die Europäer wenig nützlich, die den östlichen Seeweg nach Indien suchten‘. Tatsächlich aber war Kosmas Indikopleustes im 15. Jhd. unbekannt, Isidor und Augustinus hatten über die Küstenlinien geschwiegen, und die T-O-Weltkarten waren nie für die Seefahrt vorgesehen.“ [19]

Ein geschickt zusammengestelltes Zitat. Der Satz mit Kosmas geht vollständig so: „Der Seemann, der nicht viel Beistand im Schachtel-Universum des Kosmas Indikopleustes fand, musste über die genaue Lage der Felsen und Untiefen außerhalb der Häfen, die Athen oder Rom versorgten, Bescheid wissen, oder darüber, wie man sich zwischen den kleinen Inseln der Adria hindurchfinden sollte“ [20]. Kosmas, der neben Laktanz heute bekannteste Flacherdler, wurde im Westen nicht zitiert – eine lateinische Übersetzung ist erst im frühen 18. Jhd. erfolgt, worauf Russell in seinem Kap. 2 hingewiesen hatte. Aber die von Boorstin erwähnten (und von Russell in seinem Zitat weggelassenen) Gegenden waren im frühen Mittelalter byzantinische, das heißt griechischsprachige Gebiete; der Kaiser von Byzanz war das formale Oberhaupt Roms. Weder das 15. Jhd. noch Kolumbus werden bei Boorstin in diesen Zusammenhang gestellt – das ist eine „Verdeutlichung“ durch Russell. Das Zitat ist die kontrastierende einleitende Bemerkung eines Kapitels über die Hilfsmittel der Nautik. Boorstin hält fest, dass die christlichen Kosmografien, in die die ptolemäische Geografie degeneriert war, keinerlei praktischen Nutzen hatten; Russell bestätigt also Boorstin, erweckt aber den Eindruck, er ertappe ihn bei einer Lächerlichkeit. In dem gesamten Boorstin-Kapitel „The Prison of Christian Dogma“ (S. 100-106), in dem der Terminus „Great Interruption“ eingeführt wird, geht es um die mythologisch-fantastische Ausgestaltung der mittelalterlichen „Geografie“, aber von der Form der Erde ist mit keiner Silbe die Rede. Vielmehr schließt Boorstin den Begriff an die im Mittelalter dominante theologisch begründete Vorstellung von Jerusalem als Mittelpunkt der Welt an; eine Vorstellung, die mit der Kugelgestalt kaum vereinbar ist [21]. Um diese geht es erst im nachfolgenden Kapitel, „A Flat Earth Returns“, in dem Laktanz, Cosmas, Orosius, Isidor, die Bibel, Solinus, Plinius, Augustinus, ausführlich auch die Chinesen, erwähnt werden. Aber selbst hier spielt die Erdgestalt nur eine im Beginn erwähnte Rolle, der Schwerpunkt liegt in diesem Kapitel ebenso auf der Mythologie: „Julius Solinus (um 250 u.Z.), genannt Polyhistor oder ‚Erzähler vieler Geschichten,‘ bildete die Standardquelle geographischer Mythen während all der Jahre der Großen Unterbrechung … Solinus fand Wunder nah und fern“ [22], und Augustinus hätte sich stark auf ihn gestützt. Das sind alles Dinge, die Russell unberührt gelassen hat. Für die „Great Interruption“ ist die Erdscheibe von Laktanz und Kosmas nur ein Detail. Im Boorstinschen Sinne: So, there was a „Great Interruption“, no doubt.

Mittelalter hell oder dunkel

Aber mit der Widerlegung des Mittelalter-Flacherde-Mythos war die Mission des Jeffrey Burton Russell noch nicht vollendet. Indem er die Lüge bloßstellt, identifiziert er die Auseinandersetzung um die Gestalt der Erde als Keimzelle und Kern der Auffassung von der Inkompatibilität von Religion und Wissenschaft, welche ihrerseits Ausdruck einer noch weit verbreiteteren Legende sei: der Legende vom dunklen Mittelalter. Für die Erfindung dieser Legende wiederum seien die Renaissance allgemein, die ihren Namen also nicht verdiene, und die Aufklärung speziell verantwortlich gewesen. In Wirklichkeit seien die wissenschaftlichen Errungenschaften der Antike in keiner Sekunde vergessen gewesen. Hier stützt sich Russell noch auf weitere Literatur, in der beispielsweise festgestellt wird, dass sämtliche antiken Schriften in mittelalterlichen scriptoria überliefert worden sind.

Doch spätestens hier stutzt der Leser. Sollte Goethe tatsächlich derart fehlgeleitet gewesen sein, als er von „der Kirchen ehrwürdiger Nacht“ sprach [23]? Die Kapitalschrift auf den gewaltigen antiken Monumenten Roms war für das Mittelalter nicht entzifferbar. Niemand außer Cola di Rienzi (1313-1354) konnte sie lesen (und man könnte sogar bezweifeln, dass er sie lesen konnte, denn seine Zeitgenossen waren nicht in der Lage, seine Deutungen zu prüfen). Sicher waren die Manuskripte mittelalterliche Abschriften, aber sie vermoderten in den Klosterbibliotheken (z. B. Lukrez u. v. a. m.; die Humanisten machten Jagd auf sie), oder es waren Palimpseste, auf die Heiligenviten gekritzelt waren. Gibt es einen Unterschied zwischen Aristoteles und dem Hl. Isidor [24], zwischen Plinius und Augustinus [25], zwischen den Mirabilien der Stadt Rom (um 1150) mit ihren undurchdringlichen Gespinst aus Mythen und Heiligenlegenden und Flavio Biondis Roma Instaurata, dem ersten Versuch einer wissenschaftlichen Stadtbeschreibung (1446)? Der gewiss nicht für christenfeindlichen Eifer bekannte Lynn Thorndike sagt anlässlich der Dialoge von Gregor I – des einzigen Papstes, der je des Beinamens „der Große“ würdig gewesen ist, und der für Jahrhunderte das Antlitz des Katholizismus geprägt [26] hat –:

Der völlige Mangel an Originalität und der äußerst verkürzte Charakter der seltenen wissenschaftlichen Schriften im Westen ist jedoch kein angemessenes Beispiel für die Gesamtheit des Denkens und der Schriften der frühmittelalterlichen lateinischen Christenheit. Wenn wir uns dem Leben der Heiligen, den von den zeitgenössischen Mönchen und Missionaren aufgezeichneten Wundern zuwenden, dann finden wir, dass auf diesem Gebiet des eigenen höchsten Interesses die fromme Imagination der Zeit eine beträchtliche Erfindungsgabe aufwies und in keiner Weise mit kurzen Zusammenstellungen aus der Bibel und aus den frühen Kirchenvätern zufrieden war. Auch hier tobten sich der Aberglaube und die Kritiklosigkeit, die im Fall der Natur- und Geheimwissenschaften von der Furcht vor dem Heidentum gezügelt waren, überschießend aus. [27]

Noch einmal zurück zur Gestalt der Erde: sie war im Mittelalter eine Frage weder von praktischem noch von theologischem Interesse. Unendlich viel wichtiger war es, sich Gedanken über die Lage des Paradieses (im Osten? in der Antichthon?) oder die Sphären des Himmels oder die Wasser des Firmaments [28] zu machen oder über den Verlauf der „unterirdischen Flüsse“ aus dem Paradies zu spekulieren. Über die Bewohner ferner Weltgegenden schoss die Fantasie ins Kraut. Es ist letztlich ahistorisch, die Frage, ob die Erde eine Kugel oder eine Scheibe war, davon zu isolieren und aus ihr eine bedeutende Angelegenheit zu machen, in der einen wie in der anderen Richtung. Insbesondere im frühen Mittelalter herrschte Verwirrung, und noch im Hochmittelalter war die Allgemeinheit alles andere als im Bilde. „Wie konnten derart gegensätzliche, aber auf gleichermaßen respektierten Autoritäten beruhende Ansichten miteinander versöhnt werden? Gelehrte Autoren konnten die Schwierigkeiten entweder durch sorgfältige Stoffauswahl oder schlicht durch Ignorierung logischer Widersprüche vermeiden. Dem weniger Gebildeten aber muss die gesamte Kosmographie als unglaublich komplex und rätselhaft erschienen sein.“ [29] Mit dem Nachweis, dass es insbesondere im späten Mittelalter kaum noch Flacherdler gegeben hat (und weiterhin nebelhafte Vorstellungen über die Gestalt der Erde; noch der Text der päpstlichen Bulle inter caetera von 1493 über die Aufteilung der Welt zwischen Spanien und Portugal spricht nicht für eine völlige Klarheit [30]), lässt sich für die Geisteshaltung des Mittelalters und die „Wissenschaftsfreundlichkeit“ der Kirche wenig gewinnen.

Eine „Knopfkarte“ als Illustration zu Isidor, De natura rerum, cap. X, 2. Aus dem München-Manuskript um 630. Unverkennbar, die Erde ist eine Kugel.

Die enorme Wirkung, die Russell erzielt hat, beruht auf der Verbindung wissenschaftlichen Anspruchs und gut lesbarem, suggestivem Stil; und vielleicht erfüllt er auch eine gefühlte Sehnsucht (vergl. [25], am Ende). Er erschlägt mit einer souverän beherrschten Detailkenntnis, erworben in einem langen akademischen Leben, und erstickt jedes Murren mit teils ausführlicher exakter Bibliografie. So schafft er sich den Raum für Manipulation. Jeffrey Burton Russell ist bekennender christlicher Apologet. Für ihn ist nicht nur das Flacherde-Mittelalter ein Mythos. Auch die Ablehnung der kirchlichen Wunder durch die Wissenschaft widerlegt er triumphal (hier). Es ist also kein Wunder, dass David Hume [31] für ihn in die Reihe derer gehört, die „rückhaltlos in ihrer Verachtung des Christentums“ [32] gewesen sind. Und nun sage einer, es gäbe keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion.


  1. : Zu Galilei: die obige Behauptung ist bei aller Verkürzung weiterhin letztlich richtig. Er wurde nicht dafür verurteilt, ein Stiesel gewesen zu sein, und auch nicht wegen seines taktischen Ungeschicks, oder weil der Heliozentrismus nicht bewiesen gewesen sei. Alle Revisionsversuche der letzten 300 Jahre können ein paar leicht überprüfbare Tatsachen nicht aus der Welt schaffen: Kopernikus ist auf dem Index gelandet, und im Text des Urteils gegen Galilei wird seine Lehre als „falsch und der heiligen und göttlichen Schrift durchaus widersprechend“ verdammt. Die Details wären aber ein anderes, sehr umfangreiches Thema.
  2. : Neidhart, Ludwig: Falsche Behauptungen in heutigen Schul- und Sachbüchern über das „mittelalterliche Flacherde-Modell“ 2011 (hier), Bernhard, Roland: Geschichtsmythen über Hispanoamerika 2013 (hier).
  3. : Prause, Gerhard: Niemand hat Kolumbus ausgelacht, 1966.
  4. : „Finally, they all repeated the Spanish saying that is commonly used of any doubtful statement, ‚St. Augustine doubts … because in Chapter 9 of Book XXI of The City of God the saint denies the existence of the Antipodes and holds it impossible to pass from one hemisphere to the other.'“ Fernando Colon: The Life of the Admiral Christopher Columbus by his Son Ferdinand. London 1960, S. 39. – Gemeint ist hier aber offenbar Buch 16, Kapitel 9, des Gottesstaates von Augustinus.
  5. : Irving, Washington: A History of the Life and Voyages of Christopher Columbus 1828
  6. : Draper, John William: History of the conflict between religion and science 1875
  7. : White, Andrew Dickson: A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom 1896
  8. : Bei genauer Betrachtung sind jedoch zahlreiche Einwände möglich. Grob vereinfacht: in der Tendenz erklärt Russell mehrere unsichere Kantonisten wie z. B. Isidor zu glatten Runderdlern und drückt die klaren Platterdler wie z. B. Chrysostomos in die Fußnoten oder spielt anders ihre Bedeutung herunter. Ein bereits (hier) angeführtes Beispiel ist die Virgilius-Episode, die trotz vergleichsweise ausführlicher Darlegung (Inventing the Flat Earth, S. 20) völlig unterbelichtet bleibt: ein Papst als Flacherdler ist keiner Erörterung wert.
  9. : Irving selbst spricht, seiner Quelle („Hist. de Chiapa, por Remesel, l. ii., c. 27“) folgend, von einer „Junta“. Russell schließt sich dem Kolumbus-Biografen S. E. Morison an, der in Abrede stellt, dass es eine solche „Kommissionssitzung“ in Salamanca überhaupt gegeben hat: „Washington Irving, der die Gelegenheit zu einer phantastischen und herzbewegenden Szene förmlich roch, gibt einen 130 Jahre später veröffentlichten erdichteten Bericht über einen nichtbestehenden Universitätsrat wieder“ (Morison, Admiral des Weltmeeres. Das Leben des Christoph Columbus, 1948, S. 86). Über Antonio Remesal heißt es in der New Catholic Encyclopedia 2003, dass er eine „reputation as a preacher and a scholar“ genoss, und über seine Historia de la Provincia de San Vicente de Chiapa y Guatemala, 1619: „The history is an extensive chronicle, patiently and exactly done. Remesal used archival materials and oral tradition and reproduced both civil documents, including royal cedulas, and ecclesiastical ones.“ Morison und Russell haben hingegen keinerlei Probleme damit, eine noch weitere 200 Jahre später veröffentlichte Quelle (Navarrete) zu akzeptieren. Der von Russell als „zurückhaltend und urteilsfähig“ (restrained and judicious, S. 53) eingeschätzte Morison wird von wenigstens einem anderen Kolumbus-Biografen durchaus ungnädiger behandelt: „Morison wrote a moving and imaginative account … Morison’s errors … completely ignored the perhaps crucial evidence …“ usw. (Davidson, Miles H.: Columbus Then and Now: A Life Reexamined 1997).
  10. : Laktanz, Lehrer von Kaiser Konstantins Sohn und bekanntester Flacherdler, hätte ein eigenes Kapitel verdient. Kopernikus und Galilei haben ihn zitiert, um anzudeuten, dass auch ehrwürdige Kirchenväter sich gelegentlich geirrt hätten. Noch niemandem ist es gelungen, ihn zu einem Runderdler machen; folglich wird er in seinem Einfluss auf vielfältige Art und Weise geschmälert. Er war einer der meistgedruckten Kirchenväter (Encyclopaedia Britannica), der aber „nur noch selten gelesen“ worden sei (hier). Es scheint jedoch in der Tat nicht belegt zu sein, dass Laktanz Kolumbus im Wege gestanden hat; vielleicht war Irving hier wirklich etwas verwegen und tückisch. Russell versäumt nicht den Hinweis, dass Laktanz ein Häretiker gewesen sei; ein Hinweis, der in vielen Darstellungen fehlt, die sich in anderem Zusammenhang oder allgemein (z. B. New Schaff-Herzog Encyclopaedia) mit ihm befassen. Auf diesen Hinweis verzichtet er bei gelobten Runderdlern wie Eriugena (verdammt von zwei Synoden und noch 1684 auf den Index verfrachtet), Origenes („viel papistische Gottesgelehrte glauben, es sey dieser Kirchenvater in der Hölle“, Bayle, DHC) oder Photius (für die Orthodoxen ein Heiliger, für die Katholiken ein Schismatiker). Im Ernst sind natürlich weder der eine noch die anderen um der Erdgestalt willen verdächtigt worden. Noch raffinierter ist Russell bei Philoponus (rund) versus Kosmas (platt): er erwähnt, dass ersterer ein Monophysit, letzerer ein Chalkedonier gewesen ist (Fußnote 100), überlässt es aber der kirchenhistorischen Beschlagenheit des Lesers zu erkennen, was das vielleicht mit Ketzerei zu tun hat.
  11. : Einen kurzen Absatz allerdings widmet Russell der Textkritik. Dieser beginnt so: „Besides ‚letting his imagination go,‘ Irving used his sources carelessly. He cited Oviedo’s General History of the Indies, which has nothing about the council [von Salamanca]. … Irving cites book 2, chapter 4.“ (Russell S. 54 und Fußnote 152). Eine schlichte Konfrontation mit Fakten, die aber nur denjenigen überzeugt, der auf die Überprüfung verzichtet. Oviedo kommt in Buch II Kap. IV der Kolumbus-Biografie nicht vor, weder im Text noch in den Fußnoten; jedenfalls nicht in der von mir benutzten Auflage 1828. Aber es ist nun nicht so, dass Oviedo gar nicht zitiert wird. Beispiel Buch I Kap. III, S. 42, Ankunft des Kolumbus in Cordoba: „‚Because he [Kolumbus] was a stranger,‘ says Oviedo, ‚and went but in simple apparel, nor otherwise credited than by the letter of a gray friar, they believed him not, neither gave ear to his words, whereby he was greatly tormented in his imagination*.'“ (Fußnote „* Oviedo, 1. ii.,c. 5. English translation.“) – Auf S. 53 seines Buchs scheint Russell Irving dafür zu kritisieren, dass er Kolumbus als „simple mariner“ bezeichnet. Oviedos „book 2, chapter 4“ wird von Irving in Buch II Kapitel III, S. 113 herangezogen: „By the aid of these friends, he was introduced to the celebrated Pedro Gonzalez de Mendoza, archbishop of Toledo, and grand cardinal of Spain.“ – aber das war vor Salamanca. Auch im Weiteren widerlegt Russell Behauptungen, die Irving nicht aufgestellt und nicht intendiert hat, z. B. sei Talavera gar nicht der Feind von Columbus, sondern ein fähiger und gelehrter Mann gewesen. Man muss einfach den Absatz lesen wie einen wichtigen Vertrag: nach jedem Satz innehalten und überdenken, was er aussagt.
  12. : In seinen ad-hominems ist Russell teils brachial, teils subtil, „by proxy“: Bei Letronne vermutet er z. B., dass dessen Lehrer Mentelle wissenschaftliche Gegner politisch denunziert habe („Known for his manipulation of both politics and science“, S. 58; in der Wikipedia würde es an dieser Stelle heißen: [citation needed]). Auch Letronne selbst war ein politischer Opportunist reinsten Wassers, noch über seinen Tod hinaus: „Like his mentors, he got on well with all governments, from Napoleon through Louis XVIII and Charles X to the monarchy of Louis-Philippe, and after his death he was eulogized under the reign of Louis-Napoleon“, S. 60. Draper war ein Haustyrann und verstockter Sünder („He governed his family’s marriages, money, and even leisure. On matters of religion he brooked no opposition […]“, S. 37). Irving wirft er einerseits vor, Navarretes Dokumentensammlung für einen finanziellen Erfolg skrupellos ausgebeutet, andererseits aber, diese gar nicht beachtet zu haben („What he enjoyed was concocting a dramatic story out of easily available and already known materials. Navarrete might not have been delighted by the enormous commercial and literary success that Irving reaped after less than two years‘ work on what Navarrete himself had spent a lifetime collecting.“ S. 55). Das ist interpoliert, oder sollte man sagen, Russell „let his imagination go“?
  13. : „The passage cited from Lactantius to confute Columbus is in a strain of gross ridicule, unworthy of so grave a theologian. […] More grave objections were advanced on the authority of St. Augustine. He pronounces the doctrine of antipodes incompatible with the historical foundations of our faith … Others, more versed in science, admitted the globular form of the earth, and the possibility of an opposite and inhabitable hemisphere; but they brought up the chimera of the ancients, and maintained that it would be impossible to arrive there, in consequence of the insupportable heat of the torrid zone. Even granting this could be passed, they observed, that the circumference of the earth must be so great as to require at least three years to the voyage, and those who should undertake it must perish of hunger and thirst, from the impossibility of carrying provisions for so long a period. He was told, on the authority of Epicurus**, that, admitting the earth to be spherical, it was only inhabitable in the northern hemisphere, and in that section only was canopied by the heavens; that the opposite half was a chaos, a gulph, or a mere waste of water. Not the least absurd objection advanced, was, that should a ship even succeed in reaching, in this way, the extremity of India, she could never get back again; for the rotundity of the globe would present a kind of mountain, up which it would be impossible for her to sail with the most favourable wind †. Such are specimens of the errors and prejudices, the mingled ignorance and erudition … They were probably advanced by but few, and those persons immersed in theological studies, in cloistered retirement…“ (Irving, Columbus, S. 123-126)
  14. : Vogel, Klaus Anselm: Sphaera terrae – das mittelalterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution 1995 (hier)
  15. : „Like Draper, White rebelled against his upbringing. His family were high-church Episcopalians who sent him to a religious boarding school that he hated. … White delivered a fiery sermon …“ (Russell S. 42).
  16. : White führt zahlreiche Quellen für seine Darstellung an. Russell wirft ihm vor, dass er die Primärliteratur nicht gelesen habe („He went on to misrepresent St. Basil and St. John Chrysostom as flat-earthers, apparently because he did not read them“, S. 44), aber dieser Vorwurf geht ins Leere. Ein Werk von einer Reichweite wie das Whites zu schreiben (Geschichte des Verhältnisses von Religion zu Wissenschaft in allen Feldern menschlichen Forschens über 2000 Jahre) und sich dabei vorwiegend auf Primärquellen zu stützen ist unmöglich. Viele seiner (und weiterer zeitgenössischer) Quellen sind über archive.org einsehbar; ihr Tenor stimmt mit dem Whites überein. Der Theologe Zöckler, dem man die Konsultation der Primärquellen zutraut, spricht (1878) von den „patristischen Wahnvorstellungen auf dem Felde der Erd- und Himmelskunde“ (Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, Erste Abtheilung, S. 133). Was speziell Chrysostomos angeht: er wird auch von denen, die ihn gelesen haben, konsequent für einen Flacherdler gehalten (zuletzt Schleicher, Frank: Cosmographia Christiana. Kosmologie und Geographie im frühen Christentum 2014, der ihm ein ganzes Kapitel widmet). Und Basilius sei wohl als Runderdler deutbar, sagt Schleicher, aber: „Basilius will sich vor seinen Zuhörern nicht unbedingt als Verfechter der Kugeltheorie darstellen und er will niemanden bekehren. Ihm scheint es recht egal gewesen zu sein, wie man sich die Erde vorstellt, und er nutzt die Gelegenheit die widersprüchlichen Meinungen der griechischen Gelehrten gegeneinander auszuspielen, wie man es in der christlichen Kirche häufig tat.“ (S. 85f).
  17. : „A few theologians did know the earth was round; the majority, however, were flat-earthers who, despite the stupidity of their views, ‚had three irresistible arguments; persecution, prison, and the stake.'“ (S. 60). Wenn man erlebt, wie Russell mit Boorstin umgeht (s. gleich), wird man seine lakonische Kürze um so mehr bedauern.
  18. : Boorstin, Daniel: The Discoverers, 1983
  19. : „Daniel Boorstin paints a pathetic picture of the brave mariners of the fifteenth century struggling valiantly against the darkness. In their efforts to navigate accurately, they „did not find much help in Cosmas Indicopleustes‘ neat box of the universe …. The outlines of the seacoast … could not be modified or ignored by what was written in Isidore of Seville or even in Saint Augustine … The schematic Christian T-O map was little use to Europeans seeking an eastward sea passage to the Indies.“ (78) In fact, Cosmas Indicopleustes was unknown in the fifteenth century; Isidore and Augustine had nothing to say about the outlines of the coast; and the T-O maps were never intended for navigation.“ (Russell S. 27)
  20. : „The mariner who did not find much help in Cosmas Indicopleustes‘ neat box of the universe needed to know the precise location of rocks and shoals outside the ports that fed Athens or Rome, or how to find the clear way between the small islands of the Adriatic.“ (Boorstin, Discoverers, S. 146)
  21. : Heute behilft man sich damit, dass man die Mittelpunktstellung Jerusalems auf den mappaemundi in T-O-Form lediglich auf die Oikumene, d. h. die bewohnte Welt, beziehen will. Der Geograph von Ravenna (8. Jhd.) aber war offenbar nicht dieser Ansicht: „es findet sich im ganzen Werk des Ravennaten nicht der geringste Hinweis auf sphärisches Gedankengut. … Die Sonne geht in der Gegend der Transinder auf und hinter den Iren unter und scheint dabei gleichzeitig über der gesamten Erde zwölf Stunden. (423) Noch mehr als dies spricht für eine scheibenförmige Erde der nächtliche Sonnenverlauf […]“ (Schleicher, Cosmographia Christiana 2014, S. 373f, 377). Einige der dem Hl. Isidor in den Manuskripten beigefügten Karten-Miniaturen deuten nicht darauf hin, dass ihn alle seine Kopisten als Runderdler verstanden haben. Schleicher (a. a. O.) steuert noch eine weitere Beobachtung bei: „Im fünften Buch lässt sich ganz deutlich erkennen, dass – anders als auf den Karten die man gewöhnlich aus der Beschreibung des Ravennaten rekonstruiert – die Oikumene nicht kreisrund ist, sondern viel eher einem Rechteck ähnelt“. Ravenna war Hauptstadt des Exarchats, d. h. des byzantinischen Gebiets in Oberitalien. Sollte das zwölfbändige Werk des Kosmas (er griff „die Fäden der Tradition auf und führte sie zum Höhepunkt“, Schleicher, S. 241) doch eine die Jahrhunderte überdauernde Bedeutung gehabt haben? Photius (820-897) hat Kosmas widerlegt (Russell, S. 34) – Aber wenn Kosmas seit 300 Jahren tot, vergessen und begraben war, warum hat Photius ihn dann wieder ausgegraben?
  22. : „Julius Solinus (fl. a.d. 250), surnamed Polyhistor, or ‚Teller of Varied Tales,‘ provided the standard source of geographic myth during all the years of the Great Interruption … Solinus found wonders near and far“ (Boorstin, Discoverers, S. 110)
  23. : Selbst Goethe wird übrigens von Russell in Beschlag genommen, wenn auch nur summarisch: „Herder (1744-1803) and Goethe (1749-1832), among other popular and influential writers, had romantically positive views of the Middle Ages“, (Fußnote 86). Man fragt sich, ob er damit einverstanden wäre: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.“ (Goethe zu Eckermann, 2. April 1829)
  24. : Überhaupt, der Hl. Isidor. Über ihn sagt Russell (S. 19), dass er ein Runderdler, wenn auch bezüglich der Erdgestalt „relativ achtlos“ (relative lack of concern) gewesen sei. Andere heutige Autoren argumentieren ähnlich. Wenn also selbst der bedeutendste Enzyklopädist des frühen Mittelalters hier so „achtlos“ gewesen ist, dann bieten sich mehrere Interpretationen an: es ist ein Symptom für die geringe Beflissenheit des Mittelalters, sich mit der realen Welt auseinanderzusetzen, und andere Intentionen waren wichtiger; oder Isidor wusste selber nicht so genau, was er aus dem Widerspruch der Bibel zur antiken Naturphilosophie machen sollte. Verf. ist noch unklar, auf welche neuen Befunde sich dieser Umschwung der Meinung stützt; J. K. Wright, The Geographical Lore of the Time of the Crusades 1925 (S. 54): „Isidore quotes writers of antiquity who favored a spherical earth, though if we interpret correctly texts in the De natura rerum (50) and Etymologiae (51) we are impelled to think that he himself conceived of a flat earth surrounded by a spherical heaven.“ Noch v. den Brincken, Die Kugelgestalt der Erde in der Kartographie des Mittelalters (hier), meint 1976: „Isidor von Sevilla … kannte zwar die Lehre von Macrobius und Capella (18), vertrat aber selbst doch letzten Endes die Vorstellung von der Erdscheibe.“ Die Kolumbus-Enzyklopädie bleibt salomonisch: „Early medieval science relied not on systematic observation or reasoned proof but rather on the learning of the past or on divine authority. Therefore, Etymologiae and De natura rerum often contain serious contradictions, particularly concerning the sphericity of the earth“ (Bedini S. A. (ed.): The Christopher Columbus Encyclopedia Vol. 1 1992, S. 385).
  25. : Augustinus wird z. B. von dem heimlichen (hier) Russell-Adepten R. Krüger völlig unproblematisch zum Runderdler erklärt, aber so unbedarft stellt sich sein Vordenker nicht an. Augustinus hatte – krass vereinfacht – gemeint, ob nun rund oder platt, auf jeden Fall gibt es keine Antipoden, „denn nie und nimmer lügt unsere Schrift“. (Gottesstaat 16, 9). Russell scheidet nun einen „guten“ Augustinus mit einer metaphorischen Bibelauslegung und einer Annäherung an die Naturphilosophie von einem gelegentlichen „schlechten“, der z. B. eine „unnecessary concession“ (S. 23) gemacht hätte. An einer von Russell nicht erwähnten Stelle (De fide et symbolo, Drittes Buch, 7) sagt Augustinus: „Denn Gott hat dem Sonnenlichte, das wir mit unsern Augen sehen, die Eigenschaft verliehen, daß es zugleich überall ganz sei; denn wenn es hier ist, so ist es auch im Oriente und in andern Erdtheilen, und zwar ist es überall und in Allem ganz, erfüllt die Augen Aller und bleibt selbst unversehrt“ – zumindest in dem Moment, in dem er das geschrieben hat, hatte er wohl die Vorstellung von der Erde als Kugel nicht parat. Russell interpretiert den Genesis-Kommentar Augustins ausführlich, aber irgendwie lässt sich eine wesentliche Sentenz aus eben jenem Kommentar nicht in seinem Referat erkennen: Major est Scripturae auctoritas quam omnis humani ingenii capacitas, die Autorität der Schrift steht über allen Fähigkeiten des menschlichen Verstandes. – Die wird dafür gehässigerweise von White zitiert (Warfare, Bd. 1 S. 325). Die Rolle Augustins als Beschützer der Naturwissenschaft gegen die wörtlichen Bibelversteher ist nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Aus der Naturgeschichte des Plinius nahm er die Spreu und ließ den Weizen liegen. „Er sucht das Rätselhafte, um die Berufung auf Naturgesetze zum Schweigen zu bringen. Er will zeigen, wie viele Naturdinge es gebe, bei denen die Kraft unseres Geistes und die menschliche Sprache versagten.“ (Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter, 2000, S. 131; dort noch ausführlicher zu diesem Thema). Eine Grundhaltung, die sich durch die Jahrtausende zieht, und die auch heute vielfach Beifall findet.
  26. : „Durch G. ist der vulgäre Typus des mittelalterlichen Katholizismus geschaffen. Er schließt sich Augustinus an, den er reproduzieren will.“ [Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL)]
  27. : „The total lack of originality and the extremely abbreviated character of the infrequent scientific writing in the west is not, however, a fair example of the total thought and writing of early medieval Latin Christendom, When we turn to the lives of the saints, to the miracles recorded of contemporary monks and missionaries, we find that in the field of its own supreme interests the pious imagination of the time could display considerable inventiveness and was by no means satisfied with brief compendiums from the Bible and earlier Fathers. Here too the superstition and credulity, which had been held back by fear of paganism in the case of natural and occult science, ran luxuriant riot.“ Thorndike, Lynn: A History of Magic and Experimental Science, Bd. 1, 1923, S. 637
  28. : „Vom 4. bis zum 17. Jahrhundert lehrten also die kirchlichen Schriftsteller die Existenz jener physischen Wasser jenseits der Himmelssphären. Sie waren freilich zu dem Eingeständnis gezwungen, daß ihnen die Funktion dieser Wasser unbekannt sei. Beda gestand: ‚Was für Wasser das sind und wofür sie nützlich sind, das weiß allein der, der sie schuf.‘ Deutlicher konnte man nicht sagen, daß man zwar eine rationale Kosmologie wollte, daß man sie aber nur soweit wollte, als sie einer buchstäblichen, ‚realistischen‘ Bibelinterpretation und Institutionssicherung nicht im Wege stand.“ (Flasch, a. a. O. S. 130)
  29. : „How were views as disparate as these, yet based on equally respected authorities, to be reconciled? Learned writers might avoid the difficulty either by a careful selection of material, or simply by ignoring any logical contradictions. To the less educated the whole subject of cosmography must have seemed impossibly complex and puzzling.“ Tattersall, Jill: Sphere or Disc? Allusions to the Shape of the Earth in Some Twelfth-Century and Thirteenth-Century Vernacular French Works. The Modern Language Review, Vol. 76, No. 1 (Jan., 1981), pp. 31-46. Russell referiert diese Quelle so: „But there is evidence to suggest that, before 1300 at least, some people in France actually thought of the world as a disc.“ (S. 16). Nur ein paar Versprengte, Hinter-dem-Mond-Lebende also; nicht weiter erwähnenswert und kaum ein Unterschied zu heute.
  30. : „Wörtlich spricht der Text von allen entdeckten und noch zu entdeckenden Inseln und Ländern ‚westlich und südlich‘ einer vom Nordpol zum Südpol gezogenen Linie, die hundert Leguas ‚westlich und südlich‘ aller Inseln liegen solle, ‚die als Azoren und Kapverden bekannt sind‘. … Rätselhaft ist die Formulierung ‚westlich und südlich‘ mit Bezug auf die Lage der Trennlinie selbst. Bei wörtlichem Verständnis kann ein normaler Meridian nicht gemeint sein, da eine solche Linie bis zum Nordpol reicht und nicht ‚südlich‘ einer Inselgruppe liegen kann. Zudem reicht ein Meridian bis zum Südpol, so dass Länder oder Inseln nicht ‚südlich‘ des ganzen Meridians liegen können.“ (Wikipedia)
  31. : David Humes Wunderanalyse, ein klassischer Text, findet sich in Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes Kap. 10.
  32. : „unstinting in their contempt for Christianity and for the Middle Ages in particular“ (Russell S. 61).

10 Gedanken zu „Mittelalter-Flacherde reloaded“

  1. Schwuppdiwupp :Häääh???

    Zum Glück mit Smilie… 🙂
    Ich habe schon beim ersten Anlauf das „Hä?“ nicht ganz verstanden.
    Ok, als „Uneingeweihter“ wird man ziemlich unvermittlet ins kalte Wasser geworfen, wenn man den Artikel liest. Aber die Grundaussage erschloss sich mir schon, auch wenn ich nicht alle Querverweise verstand, oder diesen nachgehen wollte. Jetzt ist es sehr ausführlich dargestellt, mit einer vielleicht schon etwas zu langen Quellenliste. Eigentlich gehört dieser Artikel mMn ins Wiki. Als Blog verschwindet er viel zu schnell aus den Augen.

    Antworten
  2. Ben :

    Kann man „pathetic“ wirklich als „pathetisch“ übersetzen?

    Das ist der Beginn des Kapitels 3. Der erste Satz, vor dem zitierten Absatz, lautet: „Nineteenth- and twentieth-century writers flattened the medieval globe.“ Und unmittelbar nach der Boorstinschen Pathetik geht es weiter mit: „The untruth of the Flat Error lies in its incoherence as well as in its violation of facts. First there is the flat-out Flat Error that never before Columbus did anyone know that the world was round. This dismisses the careful calculations of the Greek geographers along with their medieval successors; it makes Aristotle, the most eloquent of round-earthers, and Ptolemy, the most accurate, into flat-earthers. […]” (Russell, Inventing the Flat Earth S. 27), was sich dann ja wohl auf niemanden anders als Boorstin beziehen kann.

    Klare, scharfe Worte; „pathetic“ lässt sich also hier eher nicht in irgendeinem ironischen oder bedauernden Sinn, sondern durchaus als „pathetisch“ verstehen (das ist auch die erste Wortbedeutung, die mein Lieblingswörterbuch anbietet). Und es ist, nebenbei, sowohl inkohärent als auch kontrafaktisch zu behaupten, Boorstin hätte die antiken Geographen verleugnet:

    “In Aristotle’s lifetime, mathematical geography made remarkable advances among the Greeks. They still did not have enough observed detail about the surface of the earth to draw a useful world map, but by using pure mathematics and astronomy, they arrived at some surprisingly accurate estimates. Classical writers after Aristotle, not only the great philosopherscientists like Pliny the Elder (a.d. 23-79) and Ptolemy (a.d. 90-168) but even the popular encyclopedists, assumed and elaborated on the sphericity of the earth. This discovery was to be one of the most important legacies of classical learning to the modern world.” [Boorstin, Discoverers, S. 94]

    Antworten
  3. @ RainerO
    Ich hatte bei der ersten Version tatsächlich den Inhalt nur halb und die Intention gar nicht verstanden. Von daher habe ich mich sogar über das „Hä?“ gefreut. Dieser Artikel hier ist zwar nicht leicht, aber gut verständlich. So kann er meinetwegen bleiben.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

css.php