Oder: Wo kommt die Scheiße eigentlich immer her?
An der prominentesten Stelle des Feuilletons der SZ am vergangenen Freitag (10.6.2011) schreibt Thomas Steinfeld über die ADHS-Rezeption des Philosophen Christoph Türcke. Der Artikel ist auch online einsehbar.
Bevor uns der Autor zur „jüngsten Ausgabe des Jahrbuchs der Psychoanalyse (Heft 62/2011)“ führt, stimmt er uns medizinhistorisch ein, und zwar mit einem Vergleich von ADHS- zu Hysteriediagnosen. Leider versäumt er es, das Krankheitsbild nach ICD10 auch nur zu erwähnen. Stattdessen arbeitet er sich an dem Wort „Syndrom“ ab, das Ratlosigkeit suggeriere.1 So weit, so naja. Bevor der Autor schlussendlich seine Haltung zur Sache eröffnet mit „Aber klüger als Ritalin ist dieser erste Versuch allemal, einem grassierenden Defizit der modernen Gesellschaften mit den2 Mittel der Philosophie beizukommen.“3, gibt es noch ein paar Ausflüge in die feuilletonistische Welt der ADHS-Kritik.
Gewiss, eines kann als gesichert gelten, eine erbliche Disposition in manchen Fällen etwa.
Wie großzügig! Eine Recherche nach der Quote hätte vielleicht 90% ergeben. „In manchen Fällen“ ist in seiner Faktenignoranz eine Beleidigung.
Und selbstverständlich gibt es physiologisch manifeste Störungen oder traumatische Erfahrungen, die eine klare Diagnose erlauben. Aber beim übergroßen Rest … greifen solche diagnostischen Muster nicht.
Wieder eine bodenlose Frechheit. Was für ein übergroßer Rest, und wie groß ist er denn? Und welche Störungen und Erfahrungen gehören denn zur Krankheitsdefinition und ihrer Diagnose?
Türcke habe Thesen zur „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ verfasst. Er setze voraus, dass zu einem Scheiden von Norm und Krankheit eine deutliche Diskrimination gehöre, die es im Fall von ADHS aber nicht gebe, denn die normentsprechende Welt unterliege selbst einem Aufmerksamkeitsdefizit. Dazu wird der Fernsehkonsum angeführt (was ja tatsächlich laut Spitzer bei Schulkindern die gesunde Reizverarbeitung stark, auch neurochemisch, stört) und die Störung der Arbeit durch hereintröpfelnde E-Mails. Warum Mobiltelefone und Smartphones, die m.E. die besten Zeugen für diese These darstellen, nicht erwähnt werden, kann ich mir nicht erklären. Doch dies ist einer der guten Teile des Artikels.
Nach einer in ihrer Idiotie (wahlweise: Perfidie) kaum überbietbaren Zwischenüberschrift „Was muss geschehen sein, dass kleine Menschen zu Rumpelstilzchen werden?“ setzt nun die Schwurbelei über „das Kind“ ein. Hier wird der uns bereits bekannte – hier als Kinderanalytiker apostrophierte – Wolfgang Bergmann (siehe auch Konferenz ADHS) angeführt: Am Computer, wohin es das Rumpelstilzchen zieht, reichten „wenige Handbewegungen aus, um ein gewünschtes Objekt in den Bereich der Verfügbarkeit zur2 holen, oder einen Kommunikationspartner für den Austausch dieser oder jener Phantasie, dieser oder jener Kontakte anzurufen.“ Türcke nennt den Computer durchaus treffend das Medium der konzentrierten Zerstreuung schlechthin, doch wäre es gut gewesen klarzumachen, welche Applikationen in der Vorstellung unserer Philosophen eigentlich auf dem Rechner laufen: Textverarbeitung, Mailclient, Soziales Netzwerk, Musik, Spiel, alles gleichzeitig? Sonst könnte man nämlich auch einen Staubsauger (ein monoapplikatives Gerät…) als Zerstreuungsgerät für Kinder verdächtigen, doch wer interessiert sich schon für Details, für empirische Belastbarkeit?
Auch wenn Türcke es sich, wie Steinfeld versichert, nicht einfach macht, denn bspw. „insistiert er darauf, dass die Unruhe der Medien sich nicht schlicht in der kindlichen Unruhe spiegele“, bleibt immer noch die Frage, was diese Kulturkritik mit ADHS zu tun hat. Wer glaubt, dass ADHS eine Befindlichkeitsstörung darstellt, die von Eltern und Ärzten zu ihrer Bequemlichkeit erfunden worden ist, also keine behandlungsbedürftige Krankheit, für den ist ADHS ein rein kulturelles Problem, über das sich trefflich schwurbeln lässt. Wie angenehm, damit sein Brot verdienen zu können, doch etwas unangenehmer ist die Realität betroffener Eltern und Kinder. Naja, irren ist philosophisch.
Das Krönung zum Schluss:
Aber man müsse davon ausgehen, dass ein Defizit an Aufmerksamkeit zuerst einmal erlebt werde, bevor es im Kind wiederholt werde, in Gestalt ein2 Umwelt, die ihrerseits von einer tiefen Unruhe geprägt werde, von ständigen Springen zwischen den Medien und Ereignissen: Fände nicht ein vitaler Entzug statt, gäbe es nicht die motorische Dauerunruhe, die unablässige Suche nach etwas, was die Gestalt eines verlorenen Objekts noch gar nicht angenommen hat.
Vielleicht macht es dem Feuilleton ja einmal Spaß, diese Argumentationsweise für andere Erkrankungen anzuwenden: Kurzsichtigkeit, Masern, bipolare Störung, Leukämie. Von hier ist der Weg zu Hamer nicht weit.
Die einleitende Frage nach dem Woher der Scheiße dürfte beantwortet sein.
1Die lexikalische Herangehensweise an die Analyse ist stets ein Zeichen für Schwurbelitis. Gibt es auch nur einen Schwurbler, der bspw. Andenken nicht An-Denken buchstabieren würde? „Syndrom“ einfach mit „Krankheitsbild nach ICD 10“ zu übersetzen, ist intellektuell wohl zu wenig anspruchsvoll für die philosophische Korona.
2Fehler im Original
3Dass MPH Kindern konkret hilft, blendet er hier aus. Sonst wäre der Artikel ja ganz falsch.
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