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Latte statt Leitlinie

20. März 2009 9 Kommentare

Der Medien-Triumph des Banalen über das Wichtige
Wenn man die Printmedien der letzten Woche zu medizinischen Themen überblickt, so fällt auf, dass sehr viele Zeitungen auch in ihrem Online-Angebot eine Nachricht verbreiteten: ein aussichtsreiches pflanzliches Viagra sei gefunden und würde gegenwärtig an der Charité geprüft. Da wurde der Doktorand schon mal zum „Studienleiter“, der Alleingang des Studenten und vermutlich seines Doktorvaters schon mal unter das Renommee der Charité gestellt, was von diesen aber wohl beabsichtigt war. Eine Meldung wirkt glaubwürdiger, wenn die Institution einen guten Ruf genießt, was ja auch meistens gerechtfertigt ist. Bis in den „Krankenkassen-Ratgeber“ watschelte die Marketingente. Auch wenn Sex die „wichtigste Nebensache der Welt“ sein soll: da hat wohl die Begeisterung, dass die Wirkungen von Viagra jetzt auch ohne Nebenwirkungen, was ja mit dem Begriff „Bio-Viagra“ suggeriert werden soll, zu haben seien, den einen oder anderen Redakteur dazu verleitet, erst weiterzugeben und dann erst nachzufragen. Die unerfreuliche Wahrheit über diese Meldung kommt derzeit an Licht, die Charité erwägt rechtliche Schritte, die Zeitungen drucken Klarstellungen oder nehmen die Meldung ganz heraus. An der Geschichte war wenig jenseits der Phantasie eines Doktoranden und dem Marketinginteresse des Herstellers, der die Nahrungsergänzung nächstes Jahr auf den Markt bringen will.

Ganz leise neben diesem mächtigen Rauschen im Blätterwald wirkt dagegen die eigentliche Meldung der Woche, wenn nicht des Jahres hinsichtlich ihrer Tragweite. Der Skandal um den amerikanischen Anästhesiologen Scott Reuben, der über mindestens 12 Jahre hinweg mindestens 21 Studien gefälscht haben soll, findet bis auf eine kleine Notiz im Ärzteblatt vom 11.03.2009 bislang nicht den Weg in die großen deutschen Agenturen. Wahrscheinlich Millionen Patienten wurden mit Mitteln aufgrund von angeblich gesicherten Empfehlungen behandelt, deren Datenbasis schlicht gefälscht war. Diesen Mitteln wurden besondere Vorteile gegenüber den bisher verwandten zugeschrieben. Natürlich waren sie teurer. Und auffallend oft Neuentwicklungen aus dem Hause Pfizer. Die Mittel fanden Eingang in die Leitlinien, also Empfehlungen für sachgerechtes ärztliches Handeln, zuungunsten anderer Substanzen. Was diese, aus heutiger Sicht, grundlos veränderten Empfehlungen an zusätzlichen Kosten verursacht haben, wird man erst abschätzen müssen, auch, ob dadurch Menschen durch die Gier und Skrupellosigkeit eines Mannes zu Schaden kamen. Bextra und Vioxx, von Reuben empfohlene Mittel, wurden bereits vor einigen Jahren vom Markt genommen wegen schwerer Nebenwirkungen. Vielleicht werden jetzt weitere folgen. Der Anästhesiologe war letztes Jahr über einen hausinternen Formfehler gestolpert, wodurch nach und nach das ganze elaborierte Lügengebäude einstürzte. Immerhin waren seine Veröffentlichungen von namhaften Fachjournals abgedruckt worden, er hatte also die üblicherweise wirksamen Qualitätskontrollen zu unterlaufen gewusst. Auch scheint der Pharma-Konzern Pfizer, dessen Mittel von den Empfehlungen Reubens stark im Umsatz profitierten, möglicherweise über die Vergabe von Geldern in den Betrug verwickelt. Die Geschichte hat also nicht nur alles, was eine Meldung für Leser spannend machen sollte, sondern hätte für nicht wenige Leser – die Mittel sind auf dem Markt – auch direkte Konsequenzen: sie könnten bei ihrem Arzt einmal nachfragen, ob es nicht ggf. Alternativen zu ihrer gegenwärtigen Medikation gibt.

Es steht also einmal unwichtig und unwahr gegen wahr und wichtig.

Warum verbreitete sich also die eine Meldung wie ein Lauffeuer und die andere schwelt nach wie vor unter der Decke? Eine Schreckstarre vor dem Giganten Pfizer wird es nicht gewesen sein. Die Antwort könnte vielleicht ganz einfach sein: Journalisten sind (wie alle Menschen) bequem und sie stehen unter Zeitdruck. Die eine Meldung konnte rasch mit ein paar bunten verbalen Anregungen versehen gedruckt werden, da sie – sie kam ja von der Charité – als seriös galt. Die andere Meldung war weniger erfreulich, hätte Recherchen in US-Medien und an den beteiligten Institutionen erfordert zuzüglich vielleicht noch Nachforschungen, wie verbreitet die Mittel hierzulande sind. Wenn man also nur „Dienst nach Vorschrift“ machen wollte, irgendwie nur das Blatt füllen wollte, war man vom zeitlichen und Arbeitsaufwand her mit der ersten Meldung besser bedient. Die Alternative, dass nämlich in den Nachrichtenagenturen und Redaktionen nur noch Menschen sitzen, die einen großen Skandal nicht mal erkennen, wenn man ihn ihnen auf den Bauch bindet, mag man sich nicht vorstellen. Auch nicht, dass man dort der Meinung ist, eine gute Nachricht über Sex verkaufe sich besser als eine schlechte Nachricht über Krankheit.

Die Fragen bleiben also: warum nehmen die deutschen Medien den Fall Reuben/Pfizer so wenig zur Kenntnis? Warum erscheint den Redakteuren Lifestyle wichtiger als Lebensrettung? Trügt dieser Eindruck?

Hoffentlich kommen die Herren und Damen Wissenschaftsredakteure bald mal in die Puschen. Während sie von „Bio-Viagra“ träumen, werden draußen im Lande die Menschen auf Grundlage dieser Fälschungen behandelt.

bisherige deutschsprachige Links zum Thema:
Wissenschaftsbetrug schockt USA
Von Christa Karas in der „Wiener Zeitung“

US-Schmerzforscher als Studienfälscher entlarvt im Blog „Stationäre Aufnahme“

Medizinischer Fälschungsskandal: Der bedenkliche Fall des Scott S. Reuben im Blog „Echolot“

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21.03.2009
wieder die Wiener Zeitung:
Wer benötigte neue Schmerzmittel?
Von Christa Karas

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23.03.2009
Das schockierende Lügengebilde des Scott Reuben und dessen Fundamente
im Blog „Weitergen“

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Schmerzfreier Fälscher
23.03.2009, 20:49
Von Hanno Charisius
(Süddeutsche Zeitung)

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