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Soziologisches zu Cannabis als Medizin

3. Oktober 2022 2 Kommentare

Die Soziologin Frau Prof. Dr. habil. Gundula Barsch, Hochschule Merseburg, sieht (hier) eine beklagenswerte Unterversorgung der deutschen Bevölkerung mit Cannabis. Aber sie sieht auch einen Ausweg. Wir wollen herausfinden, was es mit dieser Bestandsaufnahme, die zwei Druckseiten einer überregionalen linken Tageszeitung einnimmt, auf sich hat.

Zunächst schildert sie die aktuelle Situation. Da sei einmal die „dürftige Informationslage“: es existierten „weder verlässliche Anwendungsempfehlungen noch durch die Ärztekammern anerkannte Fortbildungsangebote.“ – niemand kann widersprechen. Die Ärzte fürchteten Regresse und den bürokratischen Aufwand. Die Kassen würden nur in gut 60% der Fälle die Anwendung genehmigen, und begründet werde die Ablehnung der Kostenübernahme häufig mit dem „pauschalen Verweis auf den ‚fehlenden Nachweis der Wirksamkeit‘ (dpa 2017) – obwohl das Gesetz den Krankenkassen eine Ablehnung eigentlich ’nur in begründeten Ausnahmefällen'“ einräume.

Hinzu kommt, dass der Einsatz insbesondere von Cannabisblüten gegenläufig zu den aktuellen Entwicklungen in der modernen naturwissenschaftlichen Biomedizin steht. Diese operiert nach den Leitideen der evidenzbasierten Medizin, die auf die Erbringung klarer Kausalitäten und standardisierter Verabreichungen möglichst über aufwändige klinische Studien bestehen. Der Cannabistherapie wird hier zum einen das im Gesundheitssystem etablierte Patentwesen, zum anderen der bürokratisch erzeugte und eingeforderte, oft sehr kostspielige Status hoher klinischer Evidenz zum Verhängnis. Dieser Status ist letztendlich auf Strukturkonservatismus und Besitzstandswahrung ausgerichtet und grenzt ernstzunehmende medizinische Erfahrungen ebenso aus wie bestens belegte, effektive Präventions- und Therapiemöglichkeiten.

Hier sind einige Klarstellungen erforderlich. Die erste Frage ist nicht die nach „verlässlichen Anwendungsempfehlungen“ (d. h. zum Wie der Verordnung), sondern die nach der Indikation (dem Warum der Verordnung). Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist der einzig sichere Weg, solche Indikationen herauszuarbeiten. Sie deckt nicht Kausalitäten auf, sondern sichert den Nutzen der fraglichen Therapie durch vergleichende Beurteilung des Therapieerfolgs unter Benutzung vordefinierter Kriterien; „Biomedizin“ ist hier nur soziologischer Slang. Barsch lässt offen, was sie mit „effektive[n] Präventions- und Therapiemöglichkeiten“ eigentlich meint. Wie könnten „beste Belege“ außerhalb der EBM aussehen (man ahnt es), und welchen Krankheiten könnte man mit Cannabis vorbeugen? Nebenbei: die Widerspenstigkeit der Kassen, dem Gesetzesgebot zu folgen und die Kostenübernahme nur im Ausnahmefall abzulehnen, ist Folge der inkonsistenten Rechtslage, die zudem nicht mit der Datenlage übereinstimmt (mehr Details hier, hier, hier). Die Erkenntnis, dass der „Strukturkonservatismus“ der EBM verhängnisvoll ist, wird von den Glaubensmedizinern jeglicher Couleur, von denen unser Wiki voll ist, beklatscht werden. Der Mangel an „Fortbildungsangeboten“ allerdings könnte dennoch behoben werden, denn einige Ärztekammern bieten weiterhin Homöopathie an. Das wäre also kein Systembruch. Und welchen „Besitz“ sollte die Medizin aufgeben? Dazu am Schluss noch eine Vermutung.

Überdies ist es irreführend, die nötige klinische Evidenz als „sehr kostspielig“ zu bezeichnen: es geht hier nur um einen organisatorischen Aufwand. Es gibt bereits viele – teils kontrollierte – Cannabis-Studien, die wissenschaftlichen Kriterien (mehr oder weniger) genügen, sowie einige Metaanalysen. Doch sind die vorliegenden Ergebnisse so wenig aufregend, dass es sich offenbar nicht lohnt, eine stringentere, aufwändigere Methodik zu bemühen. Oder anders: gewöhnlich ist ein Therapieeffekt um so beeindruckender, je laxer die Prüfungsmethode ist, und hier reicht die Schubkraft der ersten Stufe nicht hin, vom Boden abzuheben, geschweige denn eine Umlaufbahn zu erreichen.

Alles in allem unterstreichen die gegenwärtigen Entwicklungen rund um die Cannabistherapie die Dringlichkeit, dem alten medizinischen Leitprinzips »Wer heilt, hat Recht« wieder Raum zu geben – etwas, das den durchaus ehrenwerten Bestrebungen evidenzbasierter Medizin keineswegs entgegenstehen muss.

Wer heult hat recht. Das ist der Refrain der Wunderheiler und Scharlatane, darauf reimt sich alles. Es ist der „vielleicht dümmste Spruch in der Geschichte der deutschen Medizin“, sagt Edzard Ernst (hier). EBM ist „durchaus ehrenwert“, aber doch ein bisschen zurückgeblieben – auch dies keine neue Erkenntnis. Professorenkollege Walach hatte sie bereits weiter ausformuliert und angewendet, als er davon sprach, dass der Durchschnittswissenschaftler Homöopathie für Placebo halte (vgl. hier). Und was heißt „wieder“? Ist das die Gelegenheit, den Energieerhaltungssatz beiseite zu legen (vgl. hier), wie es Soziologen offenbar für möglich halten?

Kommen wir zu dem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation, den Frau Barsch für erfolgversprechend hält:

Übersehenes Erfahrungswissen […] haben sozialwissenschaftliche Forschungen seit den 1990er Jahren immer wieder Belege dafür gefunden, dass Patient*innen und Leidende den Gewinn einer Cannabistherapie beim Umgang mit ihren schwierigen Lebenssituationen für so hoch einstufen, dass sie für die Beschaffung dieses Hilfsmittels selbst Strafverfolgung, Stigmatisierung durch ihr soziales Umfeld und unberechenbare Probleme auf sich nehmen. …

… Ist das ernstgemeint, Frau Prof. Barsch? Wie steht es eigentlich mit den Forschungsergebnissen zu Opioiden? Sind diese Patient*innen nicht auch in einer schwierigen Lebenssituation, nehmen sie nicht auch Strafverfolgung, Stigmatisierung und unberechenbare Probleme auf sich?

Aber es bleibt nicht bei Allgemeinplätzen, denn die Soziologen bekommen ihr Geld nicht für Nichtstun und Schwafeln. Sie haben eine Datenbank „INDICA“ begründet, die einen „Fundus von Interviews“ liefere, der „höchst interessante Einblicke in eine zum großen Teil selbstinitiierte Behandlung mit Vollspektrum-Cannabis und CBD“ vermittle und eine „überraschende Breite an Anwendungsmöglichkeiten“ aufzeige. Doch es überrascht, dass die Forschung hier überrascht ist, denn was sollte man nicht mit Cannabis behandeln können. Es

fanden sich 21 klinisch relevante Krankheitszustände sowie darüber hinaus Leidenszustände, die noch keine medizinische Anerkennung als krankheitswertig erhalten haben (z.B. Verspannungen, Stress, Sprachstörungen), bei denen Cannabis als Hauptmedikation eingesetzt wurde.

Hier vergeht dem Kommentator jede Ironie, und es reicht nur noch für Klartext. Die Autorin verrät sich als bestürzend ahnungslos in allen medizinischen Belangen, denn anders kann man die umgangssprachliche Verwendung dieser Begriffe nicht erklären. Für sich genommen, würde man das Fachfremden nicht vorwerfen, doch der milde Tadel, den die hartleibige „Schulmedizin“ (Originalton) hier zu hören bekommt, entwaffnet jede Verteidigung. Bereits zwei Sekunden Googelei hätten sie davon abbringen sollen, einen derartigen Unfug in die Welt zu setzen. Verspannungen sind ein schlecht definierbares Symptom, aber als solches „anerkannt“. Stress ist ein vieldeutiger Begriff, ohne nähere Charakterisierung zur Bezeichnung von genau gar nichts verwendbar. Sprachstörungen können Zeichen verschiedenster Erkrankungen sein und teilen sich ein in … doch lassen wir’s gut ein.

Es handelt sich bei „INDICA“ um ein laufendes Projekt; auf irgendwelche Publikationen, Kongressberichte o. ä. wird nicht hingewiesen. Schade. Bei genauerer Überlegung aber meint man, dass es darauf auch nicht mehr ankommt. Es muss angenommen werden, dass es sich um einen Kranz völlig unkontrollierter, ungefilterter Anekdoten aus einem hochselektionierten Patienten/Probandenkollektiv handelt. Aus solchen Berichten lassen sich keine Schlüsse zur Effektivität einer Cannabistherapie bei Erkrankungen ziehen. Bei allen nachfolgenden weitläufigen Erwägungen, welche Cannabis-Verabreichung zu welchen Wirkungen führe, kann nicht sicher zwischen Vermutung und Spekulation unterschieden werden.

Die Ahnungslosigkeit von Soziologen scheint kein Bug zu sein, sondern ein Feature; jedenfalls ist sie kein Hinderungsgrund. Zumindest nicht dafür, in Fachgremien die Bundesregierung zu beraten: Frau Barsch war Mitarbeiterin in der Nationalen Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit. Der Vorreiter für diese Art Umgang mit der Realität ist Bruno Latour, der Begründer der soziologischen Laborforschung und gewesener Präsident der „Society for Social Studies of Science“. Er hat seinen Ehrenplatz in Alan Sokals Elegantem Unsinn, dem Panoptikum der postmodernen Denker. In der zweiten Auflage 1986 von Latours bahnbrechender Studie „Laboratory Life“ heißt es stolz:

In early October 1975, one of us entered Professor Guillemin’s laboratory for a two-year study of the Salk Institute. Professor Latour’s knowledge of science was non-existent; his mastery of English was very poor; and he was completely unaware of the existence of the social studies of science.
– Latour/Woolgar: Laboratory Life. Postscript to the second edition, 1986 (S. 273)

[Bei Beginn seiner Arbeit] hatte Professor Latour keinerlei Kenntnis der Wissenschaft; seine Englischkenntnisse waren sehr mangelhaft, und er wusste nichts von der Existenz soziologischer Untersuchungen der Wissenschaften.

Am besten versteht man, wenn man nichts versteht. Übrigens hatte Sokal seinerzeit einigen Staub aufgewirbelt, und Latour hatte sich genötigt gesehen, öffentlich Stellung zu nehmen. Er meinte, der Sokal-Hoax sei das Werk „einer sehr kleinen Anzahl theoretischer Physiker, die, von den fetten Pfründen des Kalten Krieges abgeschnitten, nach neuen Bedrohungen suchten“ [1].


  1. : „In an article in the French newspaper Le Monde, Latour glibly attributed the scandal [gemeint der Sokal Hoax] to the work of ‚a very small number of theoretical physicists, deprived of their fat Cold War budgets, [who] are searching for a new threat‘ and are targeting postmodern intellectuals (in Sokal 1997).“ Homayun Sidky: Science and Anthropology in a Post-Truth World: A Critique of Unreason and Academic Nonsense, Lexington Books 2021, S. 52.

Cannabis und Straßenverkehr

12. Januar 2018 21 Kommentare

In diesem Beitrag soll auf ein recht spezielles Thema aufmerksam gemacht werden, und zwar auf die Auswirkungen, die die Verordnung von Cannabis zu medizinischen Zwecken mit sich bringen kann.

Beim legalen Genussmittel Alkohol gibt es mittlerweile rechtlich klare Regeln zum Schutz des Straßenverkehrs. So gibt es Promilleregelungen, die eine relative und eine absolute Fahruntüchtigkeit definieren, und es gibt auch anerkannte Erkenntnisse, die sich mit dem Abbau von Alkohol im Körper und der Dauer dieses Abbaues befassen.

Die Faustregel besagt, dass ein durchschnittlicher Mensch rund 0,1 Promille Alkohol im Blut pro Stunde abbauen kann, also bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,0 Promille nach zehn Stunden wieder nüchtern ist. Das erklärt, warum man den Restalkohol am Morgen nach einem größeren Alkoholgenuss als gefährlich ansehen muss. Zur Kontrolle gibt es für die Polizei mehrere Möglichkeiten, man kann die Atemalkoholkonzentration messen, und zwar bereits bei der Kontrolle auf der Straße, mit einem tragbaren Gerät, oder mit einem auf bestimmten Polizeidienstellen vorhandenen stationären Gerät, welches nach geltendem Recht bereits beweissicher messen kann. Dann kann die Blutalkoholkonzentration gemessen werden mit der klassisch durch einen Arzt durchgeführten Blutentnahme. Mehr…

Cannabis – Medizin/Sucht/Mythen/Anekdoten … was uns bewegt

29. Juli 2017 38 Kommentare

Groucho,
du fehlst uns

Kaum eine Woche vergeht, in der Cannabis nicht als neues Wundermittel gegen Schmerzen, Depressionen, Schlafstörungen und andere Krankheitsbilder angepriesen wird. Und viele derer, die selbst schon mal konsumiert haben, nehmen dies zum Anlass und melden sich als Experten, oft wenig hilfreich, zu Wort.

Wie auch immer, Tatsache ist, zu diesem viel diskutierten Thema findet sich nur schwer eine neutrale Position. Oft geht es zwischen totaler Ablehnung und absoluter Toleranz. Und daraus folgt die Frage der Ebene, auf welcher diskutiert wird. Im Umgang mit, wie auch in der Diskussion über, psychotrope Substanzen und Sucht werden vielfältige und intensive Gefühle mobilisiert. Ich empfehle jedem vorab, stets auf Psychohygiene zu achten.

Wenn es bei der Diskussion nicht allein darum gehen soll, Gefühle zu artikulieren, dann sollten einige Aspekte beachtet werden, die häufig nicht ausreichend beleuchtet werden.

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Cannabis – Hinweise für Ärzte

10. April 2017 49 Kommentare


Wir haben kürzlich darauf hingewiesen, dass es für die seit Neuestem zu Lasten der Krankenkassen rezeptierbaren Hanfblüten keine wissenschaftlich ausreichend gesicherten Indikationen gibt. Der Gesetzgeber wusste dies, denn das hatten ihm Ärztekammer und Arzneimittelkommission mitgeteilt. Er hielt es für unerheblich. Er konnte auch nicht feststellen, wie viele potentiellen Anwender es geben wird und konnte nichts über Kosten prognostizieren. Das finanzielle Polster der Krankenkassen ist dennoch auf jeden Fall ausreichend, die monatlichen Therapiekosten von 1800 EUR (lt. Referentenentwurf) zu stemmen. Also kann es losgehen … aber, Moment: bei einer solchen Therapie handelt sich um „individuelle Heilversuche“, und der Arzt tut gut daran, vorher das Einverständnis der Krankenkasse einzuholen. Ohne ein solches Einverständnis fällt ihm die Verordnung als sog. Regress finanziell auf die Füße, und zwar mit voller Wucht (aus Sicht der Krankenkassen sind die Kosten ein „sonstiger Schaden“).
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Haschisch für alle

20. Juli 2016 44 Kommentare

Heliogabalus

Die Versorgung der Bundesbürger mit Hanfblüten liegt im Argen und muss geregelt werden. Das heißt, ein Gesetz muss her; natürlich geht es allein um die Behandlung von Krankheiten. Der Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums sah vor:

die Verschreibungsfähigkeit von weiteren Arzneimitteln auf Cannabisbasis (dazu gehören z.B. Medizinalhanf, das heißt getrocknete Cannabisblüten sowie Cannabisextrakte in pharmazeutischer Qualität) herzustellen, um dadurch bei fehlenden Therapiealternativen bestimmten, insbesondere schwerwiegend chronisch erkrankten Patientinnen und Patienten nach entsprechender Indikationsstellung in kontrollierter pharmazeutischer Qualität durch Abgabe in Apotheken den Zugang zur therapeutischen Anwendung zu ermöglichen.

Die armen Menschen sollen sich das Zeug nicht mehr für 1800 EUR/Monat im Ausland besorgen müssen; die Kassen sollen das übernehmen. Löblich. Und warum auch nicht? Schon jetzt Mehr…

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