
Ein paar generelle Anmerkungen anlässlich der Abstimmung in der Schweiz zur Verankerung der „Alternativ“-Medizin in der Verfassung.
Als aufgeklärt denkender Mensch hat man zunehmend das Gefühl, zu einer aussterbenden Minderheit zu gehören. Jedenfalls beschleicht einen dieser Eindruck, wenn man an gesellschaftlichen Ereignissen wie Partys, Elternabenden, Kneipengesprächen usw. teilnimmt und es um das Thema Medizin geht. Die moderne Medizin ist in eine Falle gelaufen; eine mit mehren Gruben.
Die Falle des Erfolgs
Selbst ein üblicher Hausarzt kann heute ohne größeren Aufwand Erkrankungen heilen, an denen man früher mit hoher Wahrscheinlichkeit verstorben wäre. Unikliniken gehen an die Grenze des Möglichen und machen gleichsam manchmal Wunder möglich. Trotzdem – sterben muss jeder. Man stirbt heutzutage später. Dazu noch in der Regel mit deutlich erhöhter Lebensqualität. Wir haben hier den ersten Effekt, der Wahrnehmungsprobleme schafft: Mit jedem neuen Heilerfolg werden die verbliebenen, nicht „besiegten“ Krankheiten komplexer. Das Einfachere ist durchschaut, begriffen, trotzdem steht nach wie vor der Tod am Ende. Zwangsläufig bleibt eine zunehmende Komplexität übrig, die man eben deswegen noch nicht im Griff hat und nie haben wird. S.J. Gould hat diesen Effekt in seinem Buch „Illusion Fortschritt“ aus Evolutionssicht beschrieben – man muss allerdings die Vorzeichen vertauschen, was in dem Falle erlaubt, weil nicht sinnentstellend, ist. Er fragt sich, warum es z.B. beim Baseball immer seltener zu Rekorden kommt. Die Antwort ist, dass wir uns Grenzen nähern, die nicht zu überschreiten sind. In der Öffentlichkeit wird dies z.T. als Versagen wahrgenommen. Man ignoriert, dass in einer Gesellschaft vor 200 Jahren z.B. weniger Menschen an Krebs gestorben sind, weil sie aufgrund ihrer niedrigen Lebenserwartung und hunderter anderer Erkrankungen dazu gar nicht die Möglichkeit hatten, da sie schon vorher tot waren.
Was die wissenschaftliche Medizin grundlegend von anderen Wissenschaftsbereichen unterscheidet, ist, dass ihr Forschungsgebiet niemals den Durchbruch erzielen kann, den sich viele unbewusst erhoffen: Wir werden immer sterben. Zwar später und angenehmer, aber wir werden.
An dieser Einsicht erkennt man, dass wir unausweichlich auf den Punkt zulaufen, an dem wir gezwungen werden, Kosten/Nutzen-Rechnungen anzustellen. Das ist nicht schön, und darum wird das stets empört zurückgewiesen. Trotzdem ist die Logik zwingend. Es gibt die altbekannte Pareto-Regel, die besagt, dass man mit 20% Aufwand 80% des Möglichen erreicht. Um 100% des Möglichen zu erreichen, müssen also die restlichen 80% des Aufwandes getätigt werden. Nachdem in der Medizin nie 100% erreicht werden können – das würde mit der Abschaffung des Todes erreicht – kann der Aufwand theoretisch ins Unermessliche steigen. Die gesellschaftliche Frage ist also, wo wir eine Grenze ziehen. Es gingen einige spektakuläre Fälle durch die Presse, doch bald wird dieses Problem jeden treffen, der Zugang zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung hat: Wann ist es genug? Allein diese Frage stellt die moderne Medizin in ein schlechtes Licht gegenüber den stets von „Ganzheitlichkeit“ schwafelnden Alternativ“medizinern“.
Die Falle des Placebo
Dieser Effekt hängt mit der Qualität der medizinischen Versorgung einer Gesellschaft zusammen. Auch hier schießt die moderne Medizin zwangsläufig ein Eigentor: Je besser die Versorgung, umso wirksamer der Placeboeffekt. D.h. je besser die Wissenschaft, umso beliebiger kann man in ihrem Namen herumpfuschen, denn es gibt den doppelten Boden einer Notaufnahme in einer Klinik und danach blendet man den kurzen rettenden Eingriff aus, weil das ja unangenehm und es in Wirklichkeit die Globulis etc. waren.
Mit Placebo bezeichne ich hier eine Behandlung, die vom Behandelten als Erfolg gewertet wird, obwohl eigentlich nicht behandelt wurde im Sinne dessen, was unter „richtiger“ Behandlung verstanden wird. Man kann auch „nichts tun“ dazu sagen.
Um das zu verstehen, muss man sich zwei Dinge vor Augen halten:
– Das Allermeiste dessen, was wir als Krankheit bezeichnen, verschwindet von selbst. Gemäß dem alten Spruch, dass eine Erkältung mit Behandlung 2 Wochen und ohne 14 Tage dauert. Die Definition eines Organismus ist quasi diejenige, dass er sich gegen außen verteidigen kann. Das tut er bis zur letzten Erkrankung erfolgreich.
– Der Begriff „Gesundheit“ ist ein sehr relativer. Selbst die WHO hat hier nur sehr Schwammiges formulieren können. Sprich: Ab wann ich mich krank fühle und meine, die Hilfe eines Arztes zu benötigen, schwankt ungemein mit den gesellschaftlichen Umständen. Weil wir in unserer westlichen Gesellschaft durchschnittlich einen recht guten gesundheitlichen Status haben, ist das Empfinden für das, was wir als „Krankheit“ bezeichnen, deutlich differenzierter und sensibler geworden. Anders formuliert, könnte man auch wehleidiger sagen. Nicht Gesundheit, sondern Krankheit ist der Normalzustand eines Lebewesens. Hinzu kommt: Früher musste einem ein Zahn schon arg weh tun, dass man sich einem Baader auf dem Jahrmarkt „anvertraute“. Heute ist die Hemmschwelle, sich überhaupt behandlungsbedürftig zu fühlen, dank moderner Anästhesie massiv gesunken.
Wer sich also krank fühlt, geht zum Arzt. Danach geht es im in den meisten Fällen besser. Oft auch weil die meisten Krankheiten von selbst verschwinden und wir erst dann einen Arzt aufsuchen, wenn wir uns auf einen Höhepunkt der Krankheit zu bewegen oder diesen bereits erreicht haben. Das Verständnis von „Kranksein“ ist ein sozial variables. Was früher einfach hingenommen und unter der Rubrik „nicht weiter wichtig“ abgehakt wurde, produziert heutzutage bei manchen existenzielle Nöte. Entsprechende Foren und Newsgroups im Internet lassen da wenig Zweifel, dass dem nicht so wäre.
Seltsame Folgen
Je gesünder eine Gesellschaft, um so eher fühlen wir uns krank und umso schneller genesen wir, weil wir unsere Maßstäbe für Krankheit entsprechend verschoben haben. Placebo nimmt dadurch stark an Bedeutung zu. Das erklärt vielleicht auch, warum wir laut Medien immer kränker werden, aber erstaunlicherweise immer länger leben. Und es ist die Erklärung, warum Scharlatane wie Homöopathen so viel „Erfolg“ haben und eben wie Schmarotzer hauptsächlich nur in Gesellschaften anzutreffen sind, die ein funktionierendes medizinisches System haben – oder in fatalistischen Gesellschaften wie z.T. in Indien, wo sterben so alltäglich wie Zähneputzen ist und keinen interessiert.
In einer Schale mit neutraler Nährlösung vermehrt sich alles, was sonst keine Chance hat. So ist es im biologischen Labor. Im gepufferten, demokratisch wertneutralisierten Labor unserer Gesellschaft wächst Entsprechendes: Heilsversprechungen jeglicher Couleur, zwar meistens vor langer Zeit fast ausgestorben, aber auf dem Boden einer eigentlich fast perfekten medizinischen Versorgung durch den neutralen Boden des hohen Gesundheitsstandards Auftrieb bekommend – weil zwicken tuts ja immer irgendwo. Man könnte glatt zu der Frage kommen, ob der Mensch an sich unglücklich ist, wenn er nicht leidet und ob er nicht ein Leidenspotential per se hat, das wohl irgendwie gefüllt werden muss. Man könnte sich das so erklären, dass ein Mensch zwangsläufig Eckwerte setzen muss: Es gibt in seiner Vorstellung immer einen schlimmsten und besten vorstellbaren Fall. Nähern sich auf einer absoluten Skala diese gegensätzlichen Werte, wird die Skala dazwischen entsprechend feiner. Das Relative setzt die Grenzwerte für das absolute Vorstellbare.
Aber konkret: Leute, bitte macht mit:
Beim einsamen Haudegen Beda Stadler, der wider Willen wegen der Abstimmung zu bloggen angefangen hat hier
und bei Ali Arbia hier
Es kann nicht sein, dass Voodoo-Priester von der Schweizer Verfassung gedeckt sind. Nachdem die Schweiz oft als Vorbild dient, sollte das auch jeden aus den Nachbarländern angehen.
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